Mouhanad Khorchide:
Scharia – der missverstandene Gott.
Der Weg zu einer
modernen islamischen Ethik.
Freiburg u.a: Herder
2013, 232 S.
--- ISBN 978-3-451-30911-3 ---
Scharia – der missverstandene Gott.
Der Weg zu einer
modernen islamischen Ethik.
Freiburg u.a: Herder
2013, 232 S.
--- ISBN 978-3-451-30911-3 ---
Ausführliche Beschreibung
Nachdem das
Buch des Münsteraner Islamprofessors und Religionslehrerausbilders Mouhanad Khorchide,
„Islam ist Barmherzigkeit“ (Rezension: hier) nicht nur den scharfen Widerspruch traditionalistischer
Kreise, sondern auch ein Gegengutachten des Koordinierungsrats der Muslime in
Deutschland (KRM) hervorgerufen hat, kann man dieses zweite Buch als
Fortsetzungsband verstehen, der ebenfalls nicht unwidersprochen geblieben ist. Nun
verwundert dies allerdings umso mehr, weil Khorchide an den Quellen und mit
Hilfe der islamischen Kommentatoren klare belegbare Unterscheieungen trifft – zwar
zwischen der Scharia als Weg zu Gott (wörtlich: „Weg zur Wasserquelle oder zur
Tränke“) und den juristischen Normgebungen von der Lebenswirklichkeit her. Die
Normen sind durch unterschiedliche Verbindlichkeiten geprägt wie Pflicht,
Empfehlung, Verpöntes, Erlaubtes (S. 123). Davon muss man die daraus zu
entwerfenden Rechtssetzungen unterscheiden.
Knapp
und übersichtlich beschreibt der Autor darum die vier Quellen der sunnitisch-islamischen
Normen-Lehre. Es sind Koran, Sunna (Hadithe), Konsens (Idschma) und Analogieschluss (Qiyas).
Diese Normen sind allerdings nicht ohne weiteres im Koran zu finden, sondern
müssen hermeneutisch erarbeitet werden (S. 85f). Die mittelbaren Textableitungen werden Idschtihad genannt.
Die geschichtliche Entwicklung in der
islamischen Welt lief dabei nicht unproblematisch ab: „Indem die Gelehrten
darum bemüht waren, Regelungen für weite Bereiche des Lebens genauestens
festzulegen, wurde aus dem Islam mit der Zeit eine >Gesetzesreligion<.
Durch die Suche nach dem Grund bzw. dem Anlass einer Norm geriet der Mensch
jenseits des Zwecks noch mehr aus dem Blickfeld“ (S. 139). Khorchide möchte
jedoch den Menschen in der Beziehung zu Gottes Weisungen in den Mittelpunkt
stellen. Sein Verfahren dabei ist ein überprüfbares, hermeneutisches, am Koran
und an der Sunna orientiert. Die Fragen, was im Einzelnen erlaubt oder verboten
ist, – beispielsweise im Blick auf die Nahrung oder das äußerliche Auftreten – erweisen
sich als sekundär, weil es darum geht, dass Scharia im Sinne des Weges zu Gott
als Weg des Herzens verstanden wird: „Dieser Weg besteht aus drei Pfeilern: der
Überwindung des eigenen Egos, dem selbstlosen Einsatz für das Gute und der
Fähigkeit des Herzens, Gottes Liebe zu erfahren. Die reine Absicht ist die
gemeinsame Basis dieser drei Pfeiler … Wenn die Absicht rein ist, dann fragt
der Mensch nicht nach Eigennutz seiner Handlung … sondern er fragt danach, ob
diese Handlung gut ist oder nicht, und dann tut er sie, weil sie gut ist. Der
Koran bezeichnet diese reine Absicht als den Weg Gottes „fi sabilillah<“ (S.
201). Damit wird ebenso deutlich, dass Khorchide die religiösen Rituale
keineswegs ablehnt, ja er hält sie für wichtig und sinnvoll. Er möchte jedoch
vermeiden, dass sich die Religiosität des Herzens über Äußerlichkeiten und die
strenge Befolgung bestimmter Riten ausschließlich definiert, als könne man sich
durch das Einhalten von Riten den himmlischen Lohn erwerben.
Von
daher verwundert es nicht, dass sich Khorchide gegen die salafistischen Prediger
wendet, die den Koran als Mittel zur teilweise gewaltsamen Durchsetzung ihres
Islam-Verständnisses nutzen wollen. Dass ausgegrenzte Jugendliche in diesem
Fundamentalismus einen Hoffnungsschimmer sehen, sollte die Gesellschaft
allerdings höchst aufmerksam machen. Und der sich abgrenzende Wahabismus, wie
er bis heute in Saudi-Arabien staatstragend ist, zeichnet sich nicht nur nach
Khorchide durch seine unreflektierte Denkweise und Intoleranz gegenüber anders Denkenden
aus. Hier wird Gott gründlich missverstanden. Und dies trifft z.B. den Sufismus
mit voller Härte, aber auch andere Reform orientierte Muslime und natürlich
alle Nicht-Muslime.
Khorchides
Koranauslegung ist nicht von Beliebigkeit, sondern von hermeneutischer Offenheit
geprägt, bezogen auf die genannten Auslegungsquellen. Damit ist auch keineswegs
etwas gegen Fatwas der Gelehrten (Rechtsgutachten) gesagt. Sie legen nur eine
bestimmte Sicht in einer jeweiligen Situation theologisch und juristisch
begründet dar und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf, bieten aber keine
dogmatische oder ethische Weisung. Darum ist Khorchides Buch selbst auch keine
Fatwa, sondern will vielmehr „eine Perspektive zeigen, wie man Scharia jenseits
einer dogmatischen und juristischen Auffassung verstehen kann, um der islamischen
Botschaft möglichst gerecht zu werden. Im Zentrum dieser Perspektive steht der
Gedanke, dass es Gott um den Menschen selbst geht“ (S. 229f).
Bereits
in dem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ hatte Khorchide aus dem Koran dieses
Verständnis eines barmherzigen Gottes entwickelt, dessen Liebe mit der Freiheit
des Menschen korreliert und damit den Gedanken des Strafgerichts in den unmittelbaren
Folgezusammenhang des menschlichen Tuns bringt, m.a.W. der Mensch zieht durch
sein böses Tun das Unheil selbst auf sich herab. Dazu braucht man keinen Angst
machenden Gott. Vgl. die Rezension: http://buchvorstellungen.blogspot.de/search?q=Khorchide
In
leicht verständlicher Sprache gelingt es Khorchide aus meiner Sicht, die
scheinbar unüberwindbaren Vorurteile über die Scharia zu korrigieren. Von einer
Bedrohung westlich-demokratischer Rechtsverständnisse kann angesichts eines „Lebensmodells
Scharia“ wohl nicht mehr die Rede sein. Der Verfasser liegt damit auf der Linie
des Rechts- und Islamwissenschaftlers Mathias Rohe, der in „Das Islamische
Recht. Geschichte und Gegenwart“ (München: C:H. Beck 2009) auf Folgendes
aufmerksam gemacht hat: „Auch traditioneller argumentierende [= islamische]
Gelehrte unterscheiden zwischen Scharia als dem von Gott und dem Propheten
bereiteten Weg einerseits und dem fiqh
als menschliches Konstrukt. Insoweit wird zumindest die unmittelbare Herkunft
der gefundenen rechtlichen Normen bzw. ihrer Auslegung bestritten“ (S. 12).
Es geht
Khorchide immer wieder um die aufrichtige persönliche Beziehung zu Gott. Dafür
dienen Koran und Sunna als Orientierung, die theologische Hermeneutik als
aktualisierende Verstehensmöglichkeit und nicht, um Auslegungen endgültig zeitlos
zu fixieren. Die Scharia bildet den Rahmen, in den das islamische Recht in
seinen unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen und zeitlichen Bedingungen
jeweils eingefügt und natürlich auch verändert wird. Das sind wichtige
Klarstellungen, die verhindern, dass göttliche Setzungen einfach (absolut) behauptet
werden. Vielmehr werden angesichts sich ändernden gesellschaftlicher
Verhältnisse im Auslegungsdiskurs von Koran und Sunna immer wieder Prüfungen
und Revisionen notwendig, die das komplexe islamische Recht betreffen. Hier
entsteht durchaus eine gewisse Konvergenz zu den Hermeneutiken in der
christlichen Theologie, mehr noch: Mit diesem Buch ist ein weiterer wichtiger
Baustein für den christlich-islamischen Dialog gelegt worden.
Vgl. zum Thema auch:
und >>> Humanitarian Islam. Reflecting on an Islamic Concept
Religion and Transformation in Contemporary European Society, Band: 24. Paderborn: Schöningh (Brill) 2023, VI, 188 pp.,,index ---Humanitarian Islam is an innovative concept that has begun emerging from the traditions of Islam in Indonesia in recent years. The most important contemporary Islamic organizations in Indonesia support it. Nevertheless, it seems to be unknown beyond the Southeast Asian context, despite its global potential, aspirations and claims. Moreover, the concept has not received any academic attention so far. This volume presents reflections on the idea of Humanitarian Islam by Muslim and non-Muslim scholars from Europe and beyond.
Die Scharia - Schreckgespenst oder Heilsgarantie? >>>
Islamisches Rechtssystem in Afghanistan (Mathias Rohe, Qantara.de, 27.08.2021) - Das Islamische Recht neu denken >>>
Interview mit dem algerischen Islamwissenschaftler Said Djabelkhir (Qantara.de, 29.06.2021)
Die Scharia - Schreckgespenst oder Heilsgarantie? >>> Islamisches Rechtssystem in Afghanistan (Mathias Rohe, Qantara.de, 27.08.2021)
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Reinhard Kirste
Rz-Khorchide-Scharia,
26.12.13 u.ö.
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