Sonntag, 2. Februar 2014

Buch des Monats Februar 2014: Abbé Pierre - Wirkungen eines Glaubenden



Abbé Pierre: Memoiren eines unbeugsamen Christen.
Aus dem Französischen von Luigi Clerici.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2013, 176 S., Abb. --- ISBN 978-3-7022-3283-2 --- 
Französischer Originaltitel: "Mémoire d'un croyant". Paris: Fayard 1997



Ausführliche Beschreibung
Der aus einer reichen Lyoner Familie stammende katholische Priester Abbé Pierre (eigentlich Henri Antoine Grouès (1912-2007) ist auch in Deutschland durch 
die Emmaus-Bewegung (http://de.wikipedia.org/wiki/Emmaus_%28Organisation%29)
bekannt geworden. Er gründete sie 1949. Wie diese Initiative entstand, fasst Abbé Pierre so zusammen: „ … mit einem Vatermörder, dessen Suizid misslang, einer Familie mit zwei Papas, einem Ingenieur, der seine Industriellenfamilie gegen die Fremdenlegion eintauschte. Kurz, mit verwundeten Vögeln aller Art“ (S. 24). Zu dieser
internationalen Einrichtung gehören heute über 300 Gruppen und Gemeinschaften in 36 Ländern. Sie haben alle das Ziel, den Ausgegrenzten der Gesellschaft Heimat und Menschenwürde (zurück) zu geben.
Die Spannbreite der Arbeit reicht darum von der Bekämpfung der Obdachlosigkeit, über die Einrichtung von Schulen in Afrika, die Durchsetzung der Rechte für Straßenkinder in Lateinamerika, Engagement für die Palästinenser – bis hin zum Kampf gegen den weltweiten Frauenhandel. Als politisch Engagierter gehörte er von 1945 bis 1951 als Mitglied der Französischen Nationalversammlung an. Er mahnte immer wieder die Verbesserung der sozialen Bedingungen an und setzte sich intensiv um eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaues ein.
Das Leben das Abbé Pierre verlief von Anfang an höchst dramatisch. Unter diesem Decknamen arbeitete er im 2. Weltkrieg in der Résistance gegen die deutsche Besatzung und half vielen jüdischen Flüchtlingen, in die neutrale Schweiz zu kommen. Dass er nur knapp der Gestapo entrann und seinem Verräter nach Kriegsende sogar verzieh, gehört zu der erstaunlichen Glaubensgröße dieses Priesters (S. 147f).             Er bat 2005 schließlich darum, nicht mehr auf dieser Prominentenliste geführt zu werden.

Dass ein solcher, auch unbequemer Glaubenszeuge in der eigenen Kirche aneckt, muss nicht verwundern. Anstöße gibt es genug: Verhütung, Abtreibung, Homosexualität, Aids. So sparte Abbé Pierre auch nicht mit Kritik an Johannes Paul II., was dessen Kirchendisziplin und Sexuelle Moralvorstellungen betraf (S. 100). Zwar haben die Kirchenoberhäupter letztlich die kirchliche Lehre nie dem Irrtum preisgegeben. Aber für die Leitung der Kirche gilt: „Da ist der Heilige Geist nicht der Regent. Er assistiert zwar den legitimen Autoritäten, aber es war nicht er, der die Prälaten erleuchtete, als sie Galilei verurteilten!“ (S. 100f). Es muss auch nicht verwundern, dass der Priester für die Armen in seiner Kapitalismuskritik der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung nahestand. Dom Helder Camara zählte zu seinen Freunden: „Für einen gläubigen Christen kann wirtschaftliche und politische Befreiung nie Selbstzweck werden, den man mit jedem möglichen Mittel betreibt. Wahre Befreiungstheologie ist die Befreiung von Ungerechtigkeit durch eine mächtigere Liebe“ (S. 108).

Es gibt glücklicherweise auch die andere Seite dieser Kirche, die sich liebevoll zur Gesellschaft hin öffnet und den sich den Armen, Verstoßenen, Behinderten und Flüchtlingen nicht nur mit wohlgesetzten Worten zuwendet. Eine beeindruckende Phase betrifft darum die Zeit, als der spätere Papst Johannes XXIII. Nuntius in Paris und auch der Beichtvater von Abbé Pierre war. Dies ereignete sich in den sozial unruhigen Jahren während der Parlamentstätigkeit des Abbé und dessen politischen Kampf gegen sie wachsende soziale Ungerechtigkeit, die sich am Rande der Großstädte besonders dramatisch zeigte.

Und es verwundert schließlich nicht, dass Abbé Pierre auch der interreligiösen Begegnung ausgesprochen zugetan war. Er beruft sich auf den berühmten französischen Orientalisten Louis Massignon (1883-1962), dem „Sucher nach dem Absoluten“. Der „sagte wohl zu Recht, dass der Islam die Religion des Glaubens, das Judentum die der Hoffnung, das Christentum die der Liebe sei“ (S. 85). Allerdings gaben und geben gerade die drei monotheistischen Religionen keineswegs immer ein glaubwürdiges Zeugnis ab. Sie lieferten immer wieder erschreckende Beispiele von Fanatismus und Brutalität. Also sollte man besser selbstkritisch vor der eigen Tür kehren, um somit den „Gotteskarikaturen“ z.B. eines Blutopfer fordernden Gottes und den fundamentalistischen „Glaubenskarikaturen“ entgegenzutreten.

Abbé Pierre setzt sich auch intensiv mit dem Tod auseinander[1], zumal er mehrfach in Todesgefahr war und auf einem sinkenden Schiff um Haaresbreite dem Tod entging (S. 141f). Ihn haben diese Erlebnisse ständig begleitet, so dass er den Tod als ein lange verschobenes Rendezvous mit einem Freund bezeichnen kann: (S. 143). Aber Abbé Pierre wäre nicht der in sich selbst Stimmige, wenn er nicht daran erinnern würde, dass angesichts des Todes Verantwortung vor Gott hier und jetzt beginnt: „Im Moment, da man aus dem Schatten tritt, um ins Licht zu gelangen, sieht man sich selber als den, zu dem man sich im Lauf des Lebens gemacht hat: entweder als einen solidarischen oder einen selbstsüchtigen Menschen“ (S. 144).

Es ist ein Glücksfall, dass Abbé Pierre auf Anraten seines Freundes Frédéric Lenoir (geb. 1962), einem bekannten Religionswissenschaftler, seine Memoiren niederschrieb. Schon im Vorwort blickt er zum einen in Dankbarkeit zurück, zum andern aber bittet er um Vergebung, weil er trotz seines ehrlichen Bemühens, in Liebe und Wahrheit gleichermaßen konsequent zu leben, doch Menschen verletzte. Dass er selbst oft auf das Übelste angegriffen wurde, solle am „Jüngsten Tag“ in die gegenseitige Vergebung einfließen. Auf diesem Hintergrund wird seine beeindruckende Lebensmotivation noch überzeugender:
„Als alter Mann endlich (warum sollte ich es verschweigen?), nach so vielem unermüdlichen Protestieren und Demonstrieren, Kämpfen und Polemisieren gegen eine selbstgenügsame bourgeoise Gesellschaft, die sich nicht um ihre schwächsten Glieder, die Besitzlosen, kümmern will, verlange ich je länger, desto intensiver nach Aussöhnung und Frieden“ (S. 9).
 
Der rastlose Kämpfer für Gerechtigkeit und Liebe für die Ausgegrenzten bleibt weiterhin ein leuchtendes Beispiel dafür, göttliche Liebe konsequent in menschlich-solidarische Tat umzusetzen.
Reinhard Kirste
                                        Rz-Abbe-Pierre-Memoiren, 31.01.14







[1]  Vgl sein Buch aus dem Jahr 1999 (deutsch 2012): „Was ist das der Tod?“: 
ttp://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/07/buch-des-monats-august-2012-wahres.html

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