Abbé Pierre: Memoiren eines unbeugsamen Christen.
Aus dem Französischen von Luigi Clerici.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2013, 176 S., Abb. --- ISBN 978-3-7022-3283-2 ---
Aus dem Französischen von Luigi Clerici.
Innsbruck-Wien: Tyrolia 2013, 176 S., Abb. --- ISBN 978-3-7022-3283-2 ---
Französischer Originaltitel: "Mémoire d'un croyant". Paris: Fayard 1997
Ausführliche Beschreibung
Der aus einer reichen Lyoner Familie stammende katholische
Priester Abbé Pierre (eigentlich Henri Antoine Grouès (1912-2007) ist auch in
Deutschland durch
die Emmaus-Bewegung (http://de.wikipedia.org/wiki/Emmaus_%28Organisation%29)
bekannt geworden. Er gründete sie 1949. Wie diese Initiative entstand, fasst Abbé Pierre so zusammen: „ … mit einem Vatermörder, dessen Suizid misslang, einer Familie mit zwei Papas, einem Ingenieur, der seine Industriellenfamilie gegen die Fremdenlegion eintauschte. Kurz, mit verwundeten Vögeln aller Art“ (S. 24). Zu dieser internationalen Einrichtung gehören heute über 300 Gruppen und Gemeinschaften in 36 Ländern. Sie haben alle das Ziel, den Ausgegrenzten der Gesellschaft Heimat und Menschenwürde (zurück) zu geben.
bekannt geworden. Er gründete sie 1949. Wie diese Initiative entstand, fasst Abbé Pierre so zusammen: „ … mit einem Vatermörder, dessen Suizid misslang, einer Familie mit zwei Papas, einem Ingenieur, der seine Industriellenfamilie gegen die Fremdenlegion eintauschte. Kurz, mit verwundeten Vögeln aller Art“ (S. 24). Zu dieser internationalen Einrichtung gehören heute über 300 Gruppen und Gemeinschaften in 36 Ländern. Sie haben alle das Ziel, den Ausgegrenzten der Gesellschaft Heimat und Menschenwürde (zurück) zu geben.
Die
Spannbreite der Arbeit reicht darum von der Bekämpfung der Obdachlosigkeit,
über die Einrichtung von Schulen in Afrika, die Durchsetzung der Rechte für
Straßenkinder in Lateinamerika, Engagement für die Palästinenser – bis hin zum
Kampf gegen den weltweiten Frauenhandel. Als politisch Engagierter gehörte er von 1945 bis 1951
als Mitglied der Französischen Nationalversammlung an. Er mahnte immer wieder
die Verbesserung der sozialen Bedingungen an und setzte sich intensiv um eine
Ausweitung des sozialen Wohnungsbaues ein.
Das Leben das Abbé Pierre verlief von Anfang
an höchst dramatisch. Unter diesem Decknamen arbeitete er im 2. Weltkrieg in
der Résistance gegen die deutsche Besatzung und half vielen jüdischen
Flüchtlingen, in die neutrale Schweiz zu kommen. Dass er nur knapp der Gestapo
entrann und seinem Verräter nach Kriegsende sogar verzieh, gehört zu der
erstaunlichen Glaubensgröße dieses Priesters (S. 147f). Er bat 2005 schließlich darum, nicht mehr auf dieser
Prominentenliste geführt zu werden.
Dass ein solcher, auch unbequemer Glaubenszeuge in der
eigenen Kirche aneckt, muss nicht verwundern. Anstöße gibt es genug: Verhütung,
Abtreibung, Homosexualität, Aids. So sparte Abbé Pierre auch nicht mit Kritik
an Johannes Paul II., was dessen Kirchendisziplin und Sexuelle
Moralvorstellungen betraf (S. 100). Zwar haben die Kirchenoberhäupter letztlich
die kirchliche Lehre nie dem Irrtum preisgegeben. Aber für die Leitung der
Kirche gilt: „Da ist der Heilige Geist nicht der Regent. Er assistiert zwar den
legitimen Autoritäten, aber es war nicht er, der die Prälaten erleuchtete, als
sie Galilei verurteilten!“ (S. 100f). Es muss auch nicht verwundern, dass der
Priester für die Armen in seiner Kapitalismuskritik der lateinamerikanischen
Theologie der Befreiung nahestand. Dom Helder Camara zählte zu seinen Freunden:
„Für einen gläubigen Christen kann wirtschaftliche und politische Befreiung nie
Selbstzweck werden, den man mit jedem möglichen Mittel betreibt. Wahre
Befreiungstheologie ist die Befreiung von Ungerechtigkeit durch eine mächtigere
Liebe“ (S. 108).
Es gibt glücklicherweise auch die andere Seite dieser
Kirche, die sich liebevoll zur Gesellschaft hin öffnet und den sich den Armen,
Verstoßenen, Behinderten und Flüchtlingen nicht nur mit wohlgesetzten Worten
zuwendet. Eine beeindruckende Phase betrifft darum die Zeit, als der spätere
Papst Johannes XXIII. Nuntius in Paris und auch der Beichtvater von Abbé Pierre
war. Dies ereignete sich in den sozial unruhigen Jahren während der
Parlamentstätigkeit des Abbé und dessen politischen Kampf gegen sie wachsende
soziale Ungerechtigkeit, die sich am Rande der Großstädte besonders dramatisch
zeigte.
Und es verwundert schließlich nicht, dass Abbé Pierre
auch der interreligiösen Begegnung ausgesprochen zugetan war. Er beruft sich
auf den berühmten französischen Orientalisten Louis Massignon (1883-1962), dem
„Sucher nach dem Absoluten“. Der „sagte wohl zu Recht, dass der Islam die
Religion des Glaubens, das Judentum die der Hoffnung, das Christentum die der
Liebe sei“ (S. 85). Allerdings gaben und geben gerade die drei monotheistischen
Religionen keineswegs immer ein glaubwürdiges Zeugnis ab. Sie lieferten immer
wieder erschreckende Beispiele von Fanatismus und Brutalität. Also sollte man
besser selbstkritisch vor der eigen Tür kehren, um somit den „Gotteskarikaturen“
z.B. eines Blutopfer fordernden Gottes und den fundamentalistischen „Glaubenskarikaturen“
entgegenzutreten.
Abbé Pierre setzt sich auch intensiv mit dem Tod
auseinander[1], zumal
er mehrfach in Todesgefahr war und auf einem sinkenden Schiff um Haaresbreite
dem Tod entging (S. 141f). Ihn haben diese Erlebnisse ständig begleitet, so
dass er den Tod als ein lange verschobenes Rendezvous mit einem Freund
bezeichnen kann: (S. 143). Aber Abbé Pierre wäre nicht der in sich selbst Stimmige,
wenn er nicht daran erinnern würde, dass angesichts des Todes Verantwortung vor
Gott hier und jetzt beginnt: „Im Moment, da man aus dem Schatten tritt, um ins
Licht zu gelangen, sieht man sich selber als den, zu dem man sich im Lauf des
Lebens gemacht hat: entweder als einen solidarischen oder einen selbstsüchtigen
Menschen“ (S. 144).
Es ist ein Glücksfall, dass Abbé Pierre auf Anraten
seines Freundes Frédéric Lenoir (geb. 1962), einem bekannten
Religionswissenschaftler, seine Memoiren niederschrieb. Schon im Vorwort blickt
er zum einen in Dankbarkeit zurück, zum andern aber bittet er um Vergebung,
weil er trotz seines ehrlichen Bemühens, in Liebe und Wahrheit gleichermaßen
konsequent zu leben, doch Menschen verletzte. Dass er selbst oft auf das
Übelste angegriffen wurde, solle am „Jüngsten Tag“ in die gegenseitige
Vergebung einfließen. Auf diesem Hintergrund wird seine beeindruckende
Lebensmotivation noch überzeugender:
„Als alter Mann endlich (warum sollte ich es verschweigen?), nach so vielem unermüdlichen Protestieren und Demonstrieren, Kämpfen und Polemisieren gegen eine selbstgenügsame bourgeoise Gesellschaft, die sich nicht um ihre schwächsten Glieder, die Besitzlosen, kümmern will, verlange ich je länger, desto intensiver nach Aussöhnung und Frieden“ (S. 9).
„Als alter Mann endlich (warum sollte ich es verschweigen?), nach so vielem unermüdlichen Protestieren und Demonstrieren, Kämpfen und Polemisieren gegen eine selbstgenügsame bourgeoise Gesellschaft, die sich nicht um ihre schwächsten Glieder, die Besitzlosen, kümmern will, verlange ich je länger, desto intensiver nach Aussöhnung und Frieden“ (S. 9).
Der rastlose Kämpfer für Gerechtigkeit und Liebe für die Ausgegrenzten bleibt
weiterhin ein leuchtendes Beispiel dafür, göttliche Liebe konsequent in
menschlich-solidarische Tat umzusetzen.
Reinhard Kirste
[1] Vgl sein Buch aus dem Jahr 1999 (deutsch 2012): „Was ist das der Tod?“:
ttp://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/07/buch-des-monats-august-2012-wahres.html
ttp://buchvorstellungen.blogspot.de/2012/07/buch-des-monats-august-2012-wahres.html
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