Thorsten Gerald Schneiders (Hg.): Salafismus in Deutschland – Ursprünge und
Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung.
Bielefeld: Transcript 2014, 463 S.
--- ISBN Print 978-3-8376-2711-4, auch als PDF erhältlich
Kurzrezension: hier
Bielefeld: Transcript 2014, 463 S.
--- ISBN Print 978-3-8376-2711-4, auch als PDF erhältlich
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Ausführliche Beschreibung
Vor wenigen
Jahren kannte kaum jemand die Worte „Salafismus“ und „Salafisten“, stattdessen
wurde weitgehend der Begriff „Islamismus“ gebraucht. Inzwischen jedoch bedienen
sich besonders die Medien gern mit der Kennzeichnung“ Salafismus“. Mehr oder
minder kenntnisreiche sog. Experten diskutieren das Phänomen in Talkshows und kommentieren
die furchtbaren Ereignisse im Mittleren Osten. Hinzu kommt, dass die Salafisten
immer mehr Anhänger in Deutschland gewinnen sollen. Verfassungsschützer korrigieren
die Zahlen ständig nach oben. Hunderte junger Männer sind nach Syrien gereist,
um dort an der Seite der Terrormiliz Islamischer Staat zu kämpfen und als sog.
Märtyrer zu sterben.
Der
Islamwissenschaftler Thorsten Gerald Schneiders beschäftigt sich schon lange
mit den Phänomenen eines politisierten und von Machtinteressen pervertierten
Islam. Das
vorliegende umfangreiche Buch lässt nun Autoren zu Worte kommen, die sich zum
einen in der Materie auskennen und zum andern Verstehenswege bahnen wollen und
dabei bestimmte Aspekte herausgreifen. Die 36 AutorInnen bilden ein breites
Spektrum von Kompetenz – Frauen und Männer mit den Fachgebieten aus
Islamwissenschaft, Politikwissenschaft, Islamischer und christliche Theologie
bzw. Religionspädagogik, Orientalismus, Arabistik, Soziologie, Journalismus und
Verfassungsschutz.
Die
Notwendigkeit, in der Debatte um den Salafismus die Bedeutungsvarianten und
Erklärungsmuster genauer auszuloten, steht außer Frage. Das versuchen die
Beiträgerinnen in diesem Band auf unterschiedliche Weise im Blick auf
Vergangenheit und Gegenwart – direkt und indirekt und schließlich mit dem Fokus
auf die salafistische Szene in Deutschland. Immerhin kann dies als
Grundstruktur gelten: Der Salafismus ist unabhängig vom polemischen Wortgebrauch
eine absolutistisch-fundamentalistische Strömung, die versucht, die Anfänge des
Islam als „den wahren Islam“ des Propheten Mohammed und seiner ersten
Nachfolger wieder herzustellen. Salafisten bauen sich damit ein Bild von Klarheit,
Reinheit und Moral des Islam, wie es nach ihrer Meinung auf der Halbinsel im
7./8. nachchristlichen Jahrhundert Realität war. Dabei wird auf historische
Bedingungen und zeitliche Veränderungen nicht Rücksicht genommen und
stattdessen versucht, diesen moralisch und politisch echten Islam der
„Altvorderen“ in die Gegenwart „ohne Wenn und Aber“ zu transportieren.
In
diesem Sinne hat der Salafismus eine lange Geschichte mit Personen und
Schlüsselereignissen, die gerade in der Gegenwart mit bedacht werden müssen.
Erst im Zusammenhang ergibt sich aus diesem Mosaik ein Bild, das manches der
heutigen salafistischen Szene weltweit, aber auch in Deutschland besser
verstehen lässt.
Zum Aufbau des Buches
Um
überhaupt eine Struktur in die vielfältigen historischen und gegenwärtigen
Facetten des Salafismus zu bekommen steckt der Herausgeber Thorsten Schneiders
in der
Einleitung den Rahmen zwischen Analysen und praktischen Handlungsempfehlungen
ab. Er verweist auf drei Formen des
Salafismus, die puristische bzw. quietistische, die politische bzw. aktivistische
und schließlich die dschihadistische (S. 14–16). Erst die letztere wird im Grunde
für die Politik und die Sicherheitsbehörden wichtig, weil offensichtlich
besonders junge Menschen den Verlockungen dieser Art von Salafisten
anheimfallen und für diese (zweifelhafte) Sinnorientierung ihr Leben einsetzen.
Um
überhaupt ein angemessenen Bild von dem durchgängig sunnitisch geprägten Salafimus
zu bekommen, wird in einem
1. Teil versucht, „Historische Ursprünge" zu zeigen und "ideengeschichtliche Einordnungen“ zu ermöglichen. In einem 2. ausführlichen Teil gehen die Autoren auf die Erscheinungsformen des Salafismus in Deutschland ein, in einem 3. Teil konkretisieren sie dies an einzelnen Phänomenen im Kontext von Feindbildern, Rechtsextremismus und Ausdruck von Widerstand gegen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen. (Jugend)-Psychologische Hintergründe bedenken die Beiträger im 4. Teil unter den Gesichtspunkten von Gewaltbereitschaft von (muslimischen) Jugendlichen als Minderheit und damit als Phänomen von Identitätssuche angesichts von Erfahrungen gesellschaftlicher Ausgrenzung.
1. Teil versucht, „Historische Ursprünge" zu zeigen und "ideengeschichtliche Einordnungen“ zu ermöglichen. In einem 2. ausführlichen Teil gehen die Autoren auf die Erscheinungsformen des Salafismus in Deutschland ein, in einem 3. Teil konkretisieren sie dies an einzelnen Phänomenen im Kontext von Feindbildern, Rechtsextremismus und Ausdruck von Widerstand gegen bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen. (Jugend)-Psychologische Hintergründe bedenken die Beiträger im 4. Teil unter den Gesichtspunkten von Gewaltbereitschaft von (muslimischen) Jugendlichen als Minderheit und damit als Phänomen von Identitätssuche angesichts von Erfahrungen gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Wie Staat und Gesellschaft
reagieren
bzw. reagieren sollten – im 5. Teil – sind nicht nur eine rechtliche
Frage und eine Aufgabe der Terrorismusabwehr, sondern auch eine Herausforderung
für den interreligiösen Dialog als gewaltloser Mediationschance. Allerdings
sind die muslimischen Verbände hier zu mehr Klarheit und deutlicher Abgrenzung gegenüber
dschihadistischen Salafisten herausgefordert. Hier muss sich ein
begegnungsbereiter Islam noch deutlicher als bisher zu Worte melden –
unabhängig von klaren Worten einzelner Vertreter.
Spannend
sind im 6. Teil: Erfahrungen mit Salafisten. So
versuchten diese z.B. sich in Mönchengladbach festzusetzen. Eine anonym
bleibende Muslima berichtet von ihrem sehr schwierigen bewussten Ausstieg aus
der Salafistenszene. Trotzdem hat sie weiter mit stattlichem Misstrauen zu
kämpfen.
Kriterien der Beurteilung aus der Analyse der
Wirkungsgeschichte
Um die
Bedeutung einer sinnvollen Auseinandersetzung zu betonen, sei hier exemplarisch
auf die Wirkungsgeschichte des
Salafismus im 1. Teil Bezug
genommen. Der Salafismus hat sich im sunnitischen Islam entwickelt. Es gibt
eine strukturelle Nähe zu einer unbeweglichen Exegese des göttlichen Wortsinns
in Koran und Sunna. Dies beschreibt Hans-Thomas
Tilschneider (Universität Bayreuth). Andreas
Görke (Universität Edinburgh) und Christopher
Melchert (Universität Cambridge, UK) weisen dagegen höchst interessant nach,
dass sich die Muslime der Anfangszeit keineswegs nur nach dem Koran und dem
Vorbild Mohammeds richteten, sondern dass sich die islamische Rechtsfindung
erst nach und nach systematisierte. So ist die Scharia nie ein islamisches
Gesetzbuch geworden, sondern bleibt Rahmen zur Strukturierung der
Lebensverhältnisse. Salafisten damals und heute verkennen dies (bewusst) und arbeiten
ganz offensichtlich mit einer historischen Fiktion. Der Herausgeber Thorsten Schneiders verweist in diesem
Zusammenhang auf die ambivalente (keineswegs eindeutige) Rolle Ahmad Ibn
Hanbals (780–855), des Begründers der sehr orthodoxen hanbalitischen
Rechtsschule. Dieser schrieb allerdings die Rückbesinnung auf den Koran fest.
Dennoch lässt sich die Ablehnung sufischer Strömungen mit ihm nicht begründen.
Schwieriger wird es schon angesichts der moralischen Intransigenz von Ibn Taymiyya (1263–1328). Dessen keineswegs eindeutiges Rechtsverständnis spaltet seine späteren Interpreten in glühende Bewunderer und kompromisslose Gegner (besonders im Westen). Es bleibt damit offen, ob er wirklich „der Vater des islamischen Fundamentalismus“ ist. Man muss wohl eher die Nachwirkungen von Ibn Qayyim al-Dschauziyya (1292–1350) mit seinem eigenwilligen Zugriff auf die islamische Frühzeit verantwortlich machen (so Birgit Krawietz, Freie Universität Berlin). Die Salafiyya eines Nu’man Khaiyr al-Din al-Alusi (1836–1899) und Mahmud Schukri al-Alusi (1857–1924) im 19. Jahrhundert dürfte mit den heutigen Salafisten jedenfalls wenig gemeinsam haben. Denn sie gehören in Ägypten zu den antikolonialistischen Reformrichtungen, und zwar wohlgemerkt zu denjenigen um Sayyid Jamal Din al-Afghani (1838–1897) und seines Neffen Mohammed Abduh (1849–1905). Ähnliches gilt für das (osmanische) Syrien. Auf einen wichtigen Zusammenhang und zugleich auf eine beachtliche Differenz weist Mohammad Gharaibeh (Universität Bonn) hin. Die Wahabiyya Saudi-Arabiens kommt ursprünglich aus der hanbalitischen Rechtsschule und ist von der klassischen Salafiyya des 19. Jahrhunderts beeinflusst. Sie hat sich jedoch mehr und mehr von ihr entfernt, so dass hier eine Art puristischer Salafismus entstanden ist, dessen Wurzeln sich nur bedingt bei den antikolonialistischen Reformbestrebungen Ägyptens (z.B. auch den Muslimbrüdern) und des Mittleren Ostens finden.
Schwieriger wird es schon angesichts der moralischen Intransigenz von Ibn Taymiyya (1263–1328). Dessen keineswegs eindeutiges Rechtsverständnis spaltet seine späteren Interpreten in glühende Bewunderer und kompromisslose Gegner (besonders im Westen). Es bleibt damit offen, ob er wirklich „der Vater des islamischen Fundamentalismus“ ist. Man muss wohl eher die Nachwirkungen von Ibn Qayyim al-Dschauziyya (1292–1350) mit seinem eigenwilligen Zugriff auf die islamische Frühzeit verantwortlich machen (so Birgit Krawietz, Freie Universität Berlin). Die Salafiyya eines Nu’man Khaiyr al-Din al-Alusi (1836–1899) und Mahmud Schukri al-Alusi (1857–1924) im 19. Jahrhundert dürfte mit den heutigen Salafisten jedenfalls wenig gemeinsam haben. Denn sie gehören in Ägypten zu den antikolonialistischen Reformrichtungen, und zwar wohlgemerkt zu denjenigen um Sayyid Jamal Din al-Afghani (1838–1897) und seines Neffen Mohammed Abduh (1849–1905). Ähnliches gilt für das (osmanische) Syrien. Auf einen wichtigen Zusammenhang und zugleich auf eine beachtliche Differenz weist Mohammad Gharaibeh (Universität Bonn) hin. Die Wahabiyya Saudi-Arabiens kommt ursprünglich aus der hanbalitischen Rechtsschule und ist von der klassischen Salafiyya des 19. Jahrhunderts beeinflusst. Sie hat sich jedoch mehr und mehr von ihr entfernt, so dass hier eine Art puristischer Salafismus entstanden ist, dessen Wurzeln sich nur bedingt bei den antikolonialistischen Reformbestrebungen Ägyptens (z.B. auch den Muslimbrüdern) und des Mittleren Ostens finden.
Die Notwendigkeit historischer Analyse im
Blick auf gegenwärtige Einschätzungen
Angesichts
einer solch komplizierten Gemengelage fallen die starken
entwicklungsgeschichtlichen Impulse ins Gewicht bis in die die in die Gegenwart
hinein, und zwar in recht unterschiedlichen auftretenden Gruppen zwischen
Indien und Saudi-Arabien. So stellt sich wohl immer die Frage: Welchen
Salafismus meinen wir bei der Beurteilung gegenwärtiger Tendenzen? Antikolonialistischer
Reformkurs des 19. Jahrhunderts, soziales Engagement der Muslimbrüder Ägyptens,
den Glaubenskampf betonende Fundamentalisten und wahabitische Verhärtungen
haben alle irgendwie mit dem Salafismus zu tun. Und die heutigen Salafisten setzen
ihre Denkrichtung einseitig als die authentische und endgültige Wahrheit fest. Die
Geschichte des Salafismus verschwindet dabei im Nebel sich islamisch
ausgebender Parolen. So bleibt nur, diese so schwer einzuschätzende fundamentalistische
und dialogfeindliche Szene nach ihren Äußerungen und Taten zu beurteilen und deutliche
Fragezeichen zu setzen, wenn diese ihr Verhalten mit geschichtlichen
Zusammenhängen begründen wollen. Es wirkt geradezu unglaublich, wie willkürlich
und kenntnisarm im islamistisch-gewaltbereiten Spektrum der Gegenwart mit
dieser Geschichte umgegangen wird.
Wegen
dieses auffälligen Variantenreichtums im islamischen Fundamentalismus sind die Ausarbeitungen
in diesem Buch eine wichtige und kompetente Orientierung. Es ermöglicht
Kriterien für eine klärende Beurteilung sowohl der verschiedenen in Deutschland
agierenden islamistisch-fundamentalistischen Gruppen als auch ihrer als
radikale Impulsgeber wirkenden Prediger. Trotz der Fülle des Buches konnte natürlich
manches nicht oder nur knapp angesprochen werden. Schade, dass man zur Orientierung
dem Buch kein Sach- und Personenregister beigegeben hat. Dies würde es auch
erlauben, bestimmte Zusammenhänge in der Geschichte und Gegenwart des Salafismus
leichter (wieder) zu finden.
Weitere thematisch verwandte Bücher von Thorsten Gerald Schneiders
- Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (2009)
- Islamverherrlichung. Wenn die Kritik zum Tabu wird (2010)
- Die Araber im 21. Jahrhundert (2013)
- Der Arabische Frühling 2013)
Rezensionen zu diesen Titeln: hier Reinhard Kirste
Rz-Schneiders-Salafismus,
14.11.14
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