Montag, 27. April 2015

Der säkulare Staat vor den Herausforderungen einer multireligiösen Gesellschaft



Joseph Marko / Wolfgang Schleifer (Hg.):
Staat und Religion.

9. Fakultätstag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz,
16. Mai 2014.
Graz: Leykam 2014, 305 S. --- ISBN 978-3-7011-0308-9 ---
Kurzrezension: hier 

Ausführliche Beschreibung
Als kontinuierliche Herausforderung, Chance und Spannungsfeld erweist sich das Verhältnis von Staat und Religion(en) in der modernen (säkularen) Gesellschaft. Mit der verstärkten Einwanderung von Muslimen in westliche Gesellschaften hat dieses Thema oft unerwartete, ungewöhnliche und für viele beunruhigende Perspektiven erfahren.
Von daher war der interdisziplinär angelegte 9. Fakultätstag der Juristischen Fakultät der Universität Graz der Versuch, Strukturlinien im komplexen Zusammenhang von Staat und Religionen aufzuzeichnen. Der Titel war bezeichnend: „100 Jahre Islamgesetz in Österreich. Scharia und säkularer Rechtsstaat – ein unlösbarer Widerspruch?“

In der Bilanz des Studientages heißt es: „Staat, Recht, Politik und Religion stehen seit jeher in einem untrennbaren Zusammenhang. Migrationsbewegungen führten in den letzten Jahrzehnten wieder zu einer Zunahme der politischen Bedeutung der Religionen und warfen eine Vielzahl brisanter Fragen auf. Welchen Umfang hat das Recht auf Religionsfreiheit? Wann kippt Meinungsfreiheit in Blasphemie? Wie begegnet die Arbeitswelt religionsspezifischen Thematiken wie (z.B.) religiösen Feiertagen? Inwieweit ist die Anwendung der Scharia durch österreichische Gerichte erlaubt?“
Damit thematisiert dieser Band zugleich das Thema der Religionsfreiheit. Das Attentat auf die französische Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am 7. Januar 2015 hat weitere Gewalttaten in asiatischen und afrikanischen Ländern sowie in Dänemark zur Folge gehabt. Immer wieder treten dadurch „der“ Islam und seine Rechtsverständnisse in den medialen Mittelpunkt. So ist es den beiden Herausgebern von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, dem Staats- und Verfassungsrechtler Joseph Marko und dem Rechts- und Translationswissenschaftler Wolfgang Schleifer zu danken, dass sie die Vielfältigkeit des Themas weit über die engeren juristischen Zusammenhänge hinaus durch diese Publikation einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Da die hier dokumentierte Konferenz durch Plenumsvorträge und Arbeitskreise geprägt war, hat sich eine vielfältige und doch klar strukturierte Themenübersicht ergeben, so dass man die Anstöße durch die Plenumsvorträge und die Ergebnisse der Arbeitskreise als wichtigen Baustein für eine interreligiöse Praxis werten kann.
I.  Die Themenfelder der Plenarveranstaltung umfassten sowohl aktuelle Entwicklungen des Religionsrechts als auch (unterschiedliche) Erfahrungen von Gerichten mit islamischem Privatrecht in Österreich (Richard Potz und Wilhelm Posch, Universitäten Wien und Graz). Die Einsichten in multikulturelle und multireligiöse Veränderungen der Gesellschaften Europas in Geschichte und Gegenwart sowie islamische-theologische Begründungen bieten genügend Möglichkeiten, keine religiöse Grenzen aufzurichten, sondern davon auszugehen, dass „die Erde Gottes keine Grenzen kennt“ (S. 65). Gerade religiöse Menschen sind von ihren Glaubensgrundlagen gehalten, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen (Christian Joppke und Ednan Aslan, Universitäten Bern und Wien). Angesichts der Elastizität liberaler Institutionen Europas kann man eigentlich davon ausgehen, dass mit den Religionen der Einwanderer wirklich fair umgegangen wird (S. 61). Der soziologisch orientierte Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner (Universität Wien) lenkte mit der Frage: „Wie säkular ist die österreichische Gesellschaft?“ wieder in das Alpenland zurück. Seine Ergebnisse im Blick auf veränderte Eheverständnisse bzw. Familienbilder nötigen gerade die katholische Kirche zu einer „Modernisierung“ (S. 78) trotz erheblicher Beharrungsversuche konservativer Kreise. Österreichische Umfrageergebnisse lassen sich unter Berücksichtigung jeweiliger Besonderheiten anderer Länder durchaus als typisch für West- und Mitteleuropa einschätzen. Schließlich gehören Partnerschaftsprinzip und Gleichberechtigung von Mann und Frau inzwischen zu den säkularen Basiswerten, wie besonders im Arbeitskreis über Familienkonzepte betont wurde.
II.  Die sieben Arbeitskreise (AK) repräsentierten die Vielfalt der diskutierten Beiträge. Hier seien nur einige Schwerpunkte herausgehoben, ohne auf die Impulsgeber im Einzelnen einzugehen. Im AK „Moderne Familienkonzepte, Familienrecht und Religion“ (1) standen neben Fragen der Rechtsgeschichte das islamische Familienrecht mit seinen praktischen Auswirkungen – gerade im Blick auf Österreich – im Zentrum. Dies wurde besonders beim Thema Jungen-Beschneidung deutlich. Das zeigt die Debatte um die Strafbarkeit dieses Eingriffs und die inzwischen geltende Rechtssicherheit in Deutschland seit 2013 (S. 110ff, Thomas Schoditsch, Universität Graz). Im Grunde noch heiklere Themen behandelte der AK „Blasphemie!“ (2). Nicht nur Russland anlässlich der Aktionen der Gruppe Pussy Riot kam in den Fokus, sondern auch die Schieflage der Blasphemiegesetze in der Türkei zugunsten des Islam und gegen die anderen Religionen. Allerdings haben auch Europa und die USA angesichts von Redefreiheit und öffentlichem Protest Probleme. Das gilt für die sog. Hassprediger und Beleidiger im Zusammenhang mit dem Blasphemieverständnis, aber auch für öffentliche Proteste an Orten, die sich als Schauplatz besonders medienwirksam eignen. Die zurückhaltenden polizeilichen und strafrechtlichen Reaktionen, die das Kölner Domkapitel immer wieder bei Gottesdienststörungen zeigte, mögen hier als pragmatischen Lösungsansatz dienen. Das Thema Jungen-Beschneidung wurde schon im Rahmen des AK über Familienrecht angesprochen und tauchte wieder unter der Vorgabe des Selbstverständnisses der Gläubigen auf. Hier muss der nicht leichte Ausgleich zwischen Kindeswohl und Elternrecht getroffen werden. Den Schwerpunkt auf den Islam legte der AK „Religionsfreiheit im Strafrecht“ (3). Die Gerichte und Urteilsbegründungen der Richter stehen allerdings vor besonderen Schwierigkeiten, wenn es um die religiös begründete (Voll-)Verschleierung oder religiös bekräftigte Eidesformeln geht. Aber auch beim Zeugnisverweigerungsrecht von Seelsorgern einer Religionsgemeinschaft sind um der Strafaufklärung willen die Grenzen dieses Rechts besonders auszuloten. Am Beispiel einer Demonstration mit Djihad-Flaggen kommt die Typik für westliches Rechtsdenken zum Ausdruck: Es muss nämlich immer die anti-demokratische und ggf. auch terroristische Motivation nachgewiesen werden (S. 164).
Nicht minder schwierige Fragen hatte der AK „Staat Macht Religion – Religion Macht Staat“ (4) zu bewältigen. Die Wechselfälle dieser Spannungsbögen zeigt die Rechtsgeschichte. Sie wurde hier an Neuerungen im Staatskirchenrecht im Blick auf das neue „Israelitengesetz“ und im Kontext der (österreichischen) „Kirchenverträge“ verdeutlicht. Der AK „Verfassungsrechtliche und politikwissenschaftlichen Aspekte des Verhältnisses von Religion und Recht (5) zeigte die Zurückhaltung von Rechtsäußerungen in der Europäischen Union, wenn es um Religion geht. Das hängt damit zusammen, dass die EU keine eigene Religionsidee entwickelte. Und noch einmal taucht die Jungenbeschneidung auf, dieses Mal in europa- und völkerrechtlicher Perspektive, und zwar im AK „Religionsfreiheit“ (6), der unter dem Gesichtspunkt des Schutzbedürfnisses von Gläubigen dazu Entscheidungen und Tendenzen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg und internationales Recht in den Blick nahm. Weiter individuelle und gesellschaftliche Beispiele in diesem Kontext waren islamische Bekleidungsvorschriften und die Geltung der (kooperativen) Religionsfreiheit im Arbeitsrecht bis hin zu Feiertagsregelungen. Die letztere wurde erst im
AK „Religion/Religionsgemeinschaft/Kirche und Arbeitsrecht(7) verhandelt. Hier ging es länderspezifisch um Österreich und die Türkei mit Blick einerseits auf die Ausübung religiöser Praxis und andererseits um die „Erbringung einer Arbeitsleistung“ beim Arbeitgeber (katholische) Kirche oder einer anderen Religionsgemeinschaft. Weil Kirchen und Religionsgemeinschaften sehr stark durch ehrenamtliches Engagement geprägt sind, muss man u.U. das Verhältnis Arbeitgeber – Arbeitnehmer anders beurteilen als in säkularen Einrichtungen. Es muss allerdings auch bedacht werden, warum die Kirchen den Streik für ihre MitarbeiterInnen ablehnen.
 III.  Schließlich werden die Ergebnisse der Arbeitskreise im Buch zusammenfassend präsentiert. Die Stimmungslage in den recht facetteneichen und lebhaften Diskussionen ist offensichtlich durch herausragende Einführungen der AK-Referenten geprägt worden. Sie markieren recht unterschiedlich die keineswegs einfache Balance von demokratischem Staat und Religion(en) bzw. öffentlich wirkender Glaubenstradition. Im AK „Verfassungsrechtliche und politikwissenschaftliche Aspekte“ scheint mir das sehr schön auf den Punkt gebracht zu sein: „Es kann … weder um die Wiederaufnahme noch Zulassung vorneuzeitlicher religiöser Missionierungsversuche mit jeweils absolut gesetztem Wahrheitsanspruch noch um die Etablierung einer staatlich verordneten >Zivilreligion< gehen. Vielmehr bedarf es einer Ausgestaltung des Religionsrechts, das Religion im öffentlichen Raum weder aggressiv ablehnt noch >tolerant< ignoriert, sondern ein >religionsfreundliches Trennungskonzept< im Bewusstsein dessen verwirklicht, dass auch der liberal-demokratische Staat … nicht selbst die Werteressourcen generieren kann, die er für sein Funktionieren und damit das Zusammenleben der Menschen, die guten Willens sind, bedarf …“ (S. 290).
Bilanz: Mit der Aufbereitung der Ergebnisse aus dem 9. Rechtswissenschaftlichen Fakultätstag der Universität Graz ist der Spannungsbogen von Staat und Religion so abgeschritten worden, dass zum einen die verschiedenen Entwicklungen des Religionsrechts zur Sprache kamen; zum andern kann im Zusammenhang mit dem Islam für die Leser/innen manches Vorurteil über das islamische Recht und die Scharia positiv korrigiert werden. Insgesamt ist durch die Verbindung von Rechtstheorie und religiöser Praxis bei der Darstellung durch die Mitwirkenden faktisch ein Orientierungsbuch entstanden. Von hier aus bietet es sich an, auch weiter anstehende Fragen im Sinne einer Werteordnung zu lösen, die auf der Basis des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates steht und sich zugleich kompatibel mit religiös geprägten Rechtsvorstellungen zeigt. Insofern bietet dieses Buch wichtige Anreize für die weitere Ausgestaltung des Rechts in multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften.

Reinhard Kirste
Rz-Schleifer-Staat+Religion, 26.04.15


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