Wilhelm Gräb: Religion als Deutung des Lebens.
Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 207 S., Namenregister
--- ISBN 3-579-05237-3 ---
Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, 207 S., Namenregister
--- ISBN 3-579-05237-3 ---
Wilhelm
Gräb, Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin,
beschäftigt sich in seinem Buch „Religion als Deutung des Lebens“ vor allem mit
dem Thema der Religion und ihrer Bedeutung für das Leben heutiger Menschen in
einer säkularen Gesellschaft. Von daher untersucht er Religion als Sinndeutung
für den Einzelnen. Welche Rolle spielen dabei die „Kasualien“, die besonderen
„Fälle“ und die jeweiligen Rituale als Übergangsriten für das menschliche
Dasein und welchen Zugang zur Religion ermöglichen sie im Blick auf den
Religionsunterricht der Schule? Damit ist zugleich die Frage nach der Relevanz
einer kirchlichen Seelsorge gestellt.
Vor allem den einzelnen Kasualien lässt Gräb eine hohe Bedeutung zukommen und sieht sie als Chance, Religion attraktiv zu gestalten und sich als Praktische Theologie für den einzelnen Menschen zu entfalten.
Vor allem den einzelnen Kasualien lässt Gräb eine hohe Bedeutung zukommen und sieht sie als Chance, Religion attraktiv zu gestalten und sich als Praktische Theologie für den einzelnen Menschen zu entfalten.
Gräb
betont, dass vor allem die Religion in der heutigen Gesellschaft zu einer Art
Patchwork-Religiosität geworden ist. Dies erklärt er anhand dessen, dass
Menschen Religion oft über die Institution Kirche definieren. Die Kirche
scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein, sie formuliert Anforderungen oder Dogmen,
und die Menschen können oder wollen sich damit nicht mehr identifizieren.
Weiter fordert Gräb Veränderungen in der Kirche, um (wieder) attraktiv für die Menschen
zu sein, damit sie ihnen als Ort der
Sinnstiftung ihres Lebens und als Deutungsmöglichkeit des Daseins
erscheinen kann. Die Kirche sollte darum, laut Gräb, eine Praktische Theologie
vertreten, die Mitglieder der Gemeinde sowohl als Individuen, als auch als
Gemeinschaft, wahrnehmen und stärken. Vor allem eine Praktische Dogmatik der
Rechtfertigungslehre würde jedem Menschen seinen unendlichen Wert, sowie eine
vorbehaltlose Anerkennung seiner selbst garantieren. Die Kirche als Institution
sollte somit ein Ort sein, wo religiöse
und ästhetische Erfahrungen in der Gemeinschaft gelebt werden können. Die
Kirche und damit Religion überhaupt sollte somit ein Ort sein, der sich ganz
selbstverständlich mit der Offenbarung Gottes auseinandersetzt, dies aber in
lebensgeschichtlicher Relevanz für jeden Einzelnen tut. Die christliche
Religion sollte sich nicht als eine Religion der Regeln und Verbote zeigen,
sondern als Religion der Liebe zwischen
Gott und seinen Menschen. Dabei betont Gräb, dass Religion nur dann auch
sinnstiftend für den Menschen erscheint, wenn sie sich selbst von ideologischer
Befangenheit befreit und selbstkritisch auf die Fragen des Lebens antwortet.
Gerade weil Menschen Kirche oft negativ und dogmenlastig auffassen, versuchen
sie eine Distanz zur Kirche zu wahren. Dies meint jedoch nicht, dass Menschen
sich von der Religion und dem Glauben an sich distanzieren. Gerade in Phasen
der Unsicherheit oder in Übergangssituationen suchen Menschen Antworten im
Glauben, sinnstiftende Rituale und Vergewisserung des eigenen Selbst. Gerade praktische
Religiosität wird von den Menschen nicht wahrgenommen, sondern unbewusst gelebt.
Es werden Fragen nach einem sinnvollen Leben gestellt und nach Antworten
gesucht. Gräb geht dabei kritisch mit der Institution Kirche um und fordert zu
einem Umdenken auf, um für den Menschen als Kirche da sein zu können. Weiter
fasst er auch jedes Individuum als in sich starkes Wesen auf, welches autonom
darüber entscheidet, inwiefern Kirche und Glaube zu seinem Leben gehören oder
nicht. Aufgrund des fehlenden gesellschaftlichen Drucks, an der Kirche
teilzuhaben, gestalten Menschen ihre Religiosität selbst, sie suchen sich die
für sie passenden Angebote heraus, ohne jedoch den Glauben ganz auszuschließen.
Dies bezieht Gräb jedoch nicht auf alle Mitglieder der Gesellschaft.
Die
christliche Kirche stellt sich faktisch als ein Anbieter von Angeboten auf dem Markt dar, wobei Gräb eine harte
Konkurrenz im säkularen Bereich nicht negiert, sondern diese bewusst
thematisiert und Möglichkeiten für die christlichen Kirchen sucht, sich auf
diesem Markt zu behaupten. Dabei sieht er gerade im Bereich der Kasualpraxis der Kirche eine
Möglichkeit, die Menschen zu erreichen, ihnen sinnstiftende Übergangsrituale
anzubieten und diese symbolträchtig zu feiern. Gerade der Einbezug der
veränderten Welt für den Menschen macht die Überlegungen von Gräb leicht nachvollziehbar.
Nun haben die Vollzüge von Passageriten der Kirche ihren
Verpflichtungscharakter verloren. Obwohl die Menschen sich nicht mehr in den
klassischen Gruppen der Gesellschaft wie Klasse, Herkunft oder Milieu bewegen,
ist dieser Verpflichtungsgrad der feierlichen Kasualpraxis nicht ganz verloren
gegangen, aber doch sehr auf individuelle Lebenslagen und bewusste
Entscheidungen reduziert. Dabei geht Gräb von einer relativ demokratischen und
freien Gesellschaft aus, wobei die Fragen der Soziologie der Gesellschaft, ihre
doch oft einander ausschließenden Faktoren wie Herkunft oder Behinderung
ausführlicher hätten bedacht werden sollen. Dies lässt sich wahrscheinlich auf
die Kürze des Buchs und ihren nicht soziologischen, doch eher theologischen
Schwerpunkt der Sinndeutung der Religion für die Menschen beziehen.
Religiöse
Rituale werden dann weiter als Kasualien verstanden, die nicht für jeden
gleichbedeutend sind. Das heißt, Emotionalität scheint dann bei der Wahl der
Angebote den entscheidenden Faktor ausmachen. Weiter werden auch neben den
religiösen Schwellenritualen liminoide Freizeitrituale
genannt. Dies sind den christlichen Übergangsriten ähnliche Angebote, jedoch
werden diese ohne Gottesbezug gestaltet und von dem Ethnologen Victor Turner (1920-1983) als bloße Freizeitbeschäftigungen wie den Kino- oder
Konzertbesuch beschrieben ("Mußegattungen", S. 75), ganz ohne Verpflichtungen und unter dem bloßen
Spaßfaktor. Um diesen oft sinnleeren Angeboten entgegen zu wirken, müsste die
Kirche ihre Kasualpraktiken individuell gestalten, sollte jedoch dabei beim
Vollzug des Rituals den begründenden Offenbarungscharakter
nicht vergessen. Damit schließt Gräb die Kritik ein, dass die Kirche nicht
zu einer Individualkirche verkommen darf, aber dennoch um ihrer selbst willen,
sich den Bedürfnissen der Menschen anpassen muss.
Gräb
beschreibt im weiteren Verlauf des Buchs die einzelnen Übergangsrituale und
ihre Bedeutung für den Menschen, sowie die Umsetzung dieser in einer
Praktischen Theologie. Das Ritual der
Taufe stellt er als Kasualie der
Geburtlichkeit dar, wobei die Feier der Dankbarkeit des göttlichen
Geschenks des Lebens im Vordergrund steht. Gräb diskutiert die immer noch
aktuelle Frage nach dem Für und Wider der Kindertaufe. Dabei beleuchtet er die
theologischen Aspekte der Taufe, das Taufverständnis der Bibel und ihrer
Umsetzung in den Evangelien. Weiter berücksichtigt Gräb die Perspektive der
Menschen, vor allem der Eltern. Der Taufritus ist dabei in der Argumentation
der Eltern vor allem theologisch zu deuten. Einerseits wünschen sich Eltern die
Feier der Geburt ihres Kindes, wobei die Eltern nicht immer aktive Mitglieder
der Kirche sind. Andererseits wird die bewusste Entscheidung der Eltern, ihrem
Kind den Segen Gottes von Geburt an mit auf den Weg zu geben, beschrieben.
Weiter gibt es Eltern, welche ihr Kind im christlichen Sinne erziehen wollen,
dem Kind aber die Entscheidung zur Taufe und dem damit einhergehenden
Bekenntnis, überlassen. Gräb beschreibt übrigens kein Äquivalent zur
Kindertaufe im säkularen Bereich.
Dies
wird aber deutlich bei der Kasualie der
Mündigkeit, der Konfirmation, getan.
Hier geht der Autor auf die christliche Konfirmation ein, auch die Jugendweihe findet Erwähnung. Gerade um
den wichtigen Übergang der Kindheit ins Erwachsenenalter zu vollziehen, werden
für Jugendliche Angebote der Feier dieses Übergangs konzipiert. Im
evangelischen Rahmen wird dabei die Konfirmation als bewusste Entscheidung für
die Kirche angesehen, der Jugendliche bekennt sich zum Glauben und der
Gemeinde. Als Grundstein dafür wird jedoch die freie Entscheidung des
Jugendlichen verstanden, wobei dies bereits die Freiheit eines Christenmenschen
darstellen kann. Dabei sollen vor allem in der Vorbereitung der Konfirmation,
also den meist wöchentlichen Treffen, die Jugendlichen dazu befähigt werden,
das Christentum als gelebte Religion wahrzunehmen, so dass sie sich
individuell, gesellschaftlich und kirchlich entwickeln können. Dabei merkt Gräb
an, dass die Kirche sich wirklich den Jugendlichen zuwenden muss, um als
Anbieter des Übergangsrituals attraktiv zu bleiben. Die auch hier geäußerte
Kritik, dass die Kirche sich nicht mehr am biblischen Auftrag, sondern am
Subjekt orientiert, nimmt Gräb auf und formuliert dem entgegen, dass die Kirche
ohne eine attraktive Jugendarbeit sich selber auflösen würde. Er fordert darum eine
theologische Legitimation der Service-Kirche, um gerade mit dieser Kritik
umzugehen.
Die Trauung als Kasualie der Liebe wird seit der Einführung der Ziviltrauung 1876 als
eben dieses Ritual gefeiert, der Zweck der Zeremonie ist in sich selbst zu
verorten. Die Macht der Liebe, sowie auch schwierige Situationen der
Vergangenheit und vor allem der Zukunft sollen thematisiert werden und mit
Gottes Hilfe und Segen gemeistert werden. Gräb beschreibt dabei, dass das Paar
eine bewusste Entscheidung der Feier seiner Liebe vor Gott trifft, um gerade
für die Ehe Kraft durch Gott zu bekommen und Angst, sowie auch Trauer, durch
die symbolische Loslösung von der Herkunftsfamilie, zu verarbeiten. Gräb findet
jedoch zu dem Thema des Traurituals keine vergleichbaren säkularen Tendenzen,
weil offensichtlich auch nicht-kirchliche Trau-Feiern auch religiös geprägte
Liturgien und Abläufe beinhalten.
Die Kasualie der Sterblichkeit schließt den
Kreis der durch die Kirche angebotenen Übergansrituale. Dabei formuliert Gräb
ganz deutlich einen Wandel der Gesellschaft, welcher sich durch eine hohe
Anonymität und Betonung der Privatsphäre auszeichnet. Er beschreibt, dass der
Umgang mit dem Tod in einer Gesellschaft auch immer anzeigen würde, wie mit dem
Leben umgegangen wird. Die kirchliche
Bestattung wird von Gräb schon fast als Sonderfall beschrieben. Gerade in
den Städten würden unübersichtliche Strukturen eine anonyme Beisetzung
begünstigen. Dabei geht Gräb auch auf kirchliche Bürokratien und Abhängigkeiten
ein und kritisiert, dass die Bestattungen oft nicht von den Bedürfnissen der
Trauernden bestimmt würde, sondern eher von den Zeitplänen der Friedshofverwaltung
oder den kommunalen Leichenhallen. Aber gerade in dieser schmerzvollen Zeit brauchen
Menschen das Bestattungsritual als Trost und Stärkung für das eigene Ich, um
für das Weiterleben Hilfe zu erfahren. Dabei darf der Kirche nicht die Gefahr
des frommen Geredes unterlaufen. Sie kann nicht einfach angesichts des Todes die
Auferstehung und den Sieg über den Tod proklamieren, sondern diese
Auferstehungshoffnung ist als Trost anzusprechen und nicht als Belehrung.
Schließlich kann man die Bitterkeit und die schmerzvollen Aspekte des Todes
nicht negieren. Die Angehörigen bedürfen einer Feier des Lebens für die verstorbene
Person, die das Fragen nach dem Sinn des Todes einschließt.
So
formuliert der Theologe Gräb die Kasualien immer im Zusammenhang mit ihren
sinnstiftenden Momenten für jedes Individuum und betont vor allem den Appell an
die Kirche, sich dafür als Ort zu verstehen.
Der
Autor beschreibt zum Schluss einige Perspektiven
des Religionsunterrichts und der Seelsorge. Dabei betont er vor allem, dass
ein für die Schülerinnen und Schüler interessanter Religionsunterricht offen
für Fragen und Kritik sein muss. Den Schülerinnen und Schülern muss erlaubt
sein, Fragen nach ihrem eigenen Ich in der Perspektive der Religiosität stellen
zu dürfen und sich religiös selbst zu reflektieren. Sie sollen dazu befähigt
werden, selbst auf die Suche zu gehen,
Fragen zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Weiter
führt Gräb ein Beispiel an, wie im Religionsunterricht anhand von biblischen
Geschichten (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20, 1-16) gearbeitet
werden kann.
Im
letzten Abschnitt des Buches beschreibt er, wie wichtig eine seelsorgerliche
Arbeit als religiöse Kommunikation in der Praxis lebensgeschichtlicher Sinndeutungen
ist. Gerade in verwirrenden und lebenswichtigen Phasen des Lebens, wo das
Fragen nach dem Sinn so existentiell erscheint, ist doch der Verweis auf das Vertrauen zu Gott oft die letzte Hoffnung.
So
beschreibt Gräb besonders im Hinblick auf die Rituale der Übergangssituationen,
wie Religion praktisch umgesetzt und gelebt werden kann. Gerade um die
Wichtigkeit der Kasualien für die Deutung des eigenen Lebens, zu verstehen,
gibt Wilhelm Gräb einen informativen und anregenden Einblick in die
Kasualpraxis und für die gegenwärtigen Chancen von Kirche für die Sinndeutung
an Übergangspunkten des Lebens. Eine lohnende Lektüre!
Lydia Redekop
im Rahmen eines Seminars an der TU Dortmund
zum Thema „Religiöse Feste und Rituale“ (Sommersemester 2015)
im Rahmen eines Seminars an der TU Dortmund
zum Thema „Religiöse Feste und Rituale“ (Sommersemester 2015)
Rz-Gräb-Redekop,
15.07.15
Einige weitere Veröffentlichungen von Wilhelm
Gräb in diesem Themenzusammenhang;
- Religion als Thema der Theologie. Gütersloher Verlagshaus 1999
- Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. 2000
- Kirche
in der urbanen Welt der Moderne.
In: Tà katoptrizómena. Magazin für Theologie und Ästhetik Nr. 13/2001
– http://www.theomag.de/13/wg1.htm - Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in
der modernen Kultur.
Gütersloher Verlagshaus 2006
Rezension von Chr. Fleischer in Tà katoptrizómena Nr. 46/2007:
http://www.theomag.de/46/cf5.htm - (mit Birgit Weyel): Religion in der modernen
Lebenswelt.
Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen: V & R 2006 - (mit Birgit Weyel und Hans-Günter Heimbrock, Hg.): Praktische Theologie und empirische Religionsforschung (Veröffentlichungen Der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTH), Bd. 39. Leipzig: EVA 2013
- Glaube aus freier Einsicht: Eine Theologie der
Lebensdeutung.
Mit Audio-CD (Schriften zur Glaubensreform, Band 3). Gütersloher Verlagshaus 2015
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