Dienstag, 1. Dezember 2015

Buch des Monats Dezember 2015: Ein islamischer Weg zu wahrer Menschlichkeit



Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus.
Freiburg u.a.: Herder 2015, 272 S. --- ISBN 978-3-451-34768-0 ---
Entwurf einer islamisch-humanistischen Theologie:
Der Münsteraner islamische Theologe Mouhanad Khorchide zeigt in diesem Buch, dass das islamische Verständnis eines barmherzigen Gottes mit menschlichem Verhalten in direkter Beziehung steht. Das sollte im Grunde zur Folge haben, dass der Mensch in freiheitlicher Verantwortung bewusste Mitmenschlichkeit lebt. Ein solcher Humanismus führt über Religionsgrenzen hinaus.

Ausführliche Beschreibung
Dies ist bereits ein weiteres Buch des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide, das ein verändertes humanistisches Verständnis des Islams zum Ziel hat. Als Koranausleger setzt er hermeneutische Leitbegriffe ins Licht einer Gesamtintention, die sich von Absolutheitsansprüchen in der Koran-Deutung fernhält.
Als sein Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ (Herder-Verlag 2012) erschien, wurde darin bereits ein anthropologisches Grundmuster des Koran-Verständnisses deutlich – der Mensch als Mittelpunkt von Gottes Zuwendung. Ein entscheidender Wesenszug Gottes ist dabei Barmherzigkeit. Der Islam ist folglich auf Friedensförderung und Menschlichkeit, und nicht auf Gewalt ausgerichtet.             
Vgl. die Rezension: http://buchvorstellungen.blogspot.de/2013/01/islam-ist-barmherzigkeit.html


Das betont Khorchide auch mit der Untersuchung des Begriffsfeldes „Scharia“ in „Scharia – der missverstandene Gott“ (Herder Verlag 2014). Scharia ist gewissermaßen der von Gott gesetzte Rahmen für eine lebensfreundliche Orientierung, die das Verhalten des Einzelnen wie das der Gemeinschaft betrifft.
Ein solch reformoffener Islam scheint vielen religiösen Traditionalisten und Islamskeptikern gleichermaßen zu angepasst an die Moderne zu sein. Eine intensive Debatte folgte.             
(vgl. Mouhanad Khorchide / Milad Karimi / Klaus von Stosch (Hg.): Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalam. Münster: Waxmann 2014: https://www.waxmann.com/?id=20&cHash=1&buchnr=2981)
Aber es gab auch schärfsten Widerspruch in den eigenen Reihen und ketzerischen Eifer, Khorchide als Glaubensabweichler darzustellen. Dieser aber lässt sich nicht beirren. Bereits mit dem Titel und in der Einleitung ( = Kap. 1) macht er deutlich, dass Gott und Humanismus universal zusammengehören. Er ist gewissermaßen Gottes Offenbarungs-Angebot an alle Menschen über alle Religionsgrenzen hinaus. Darum nennt der Autor deutlich seine Intention:
„In diesem Buch entwerfe ich zwar einen spezifischen islamischen Weg des Humanismus, mir geht es aber nicht um einen Humanismus, der nur für Muslime gilt, sondern um eine humanistische Haltung als Angebot für alle, sich sowohl nach innen als auch nach außen zu öffnen, und sich auf die Reise zu begeben, das >Andere<, das außerhalb des Gewohnten ist, zu entdecken“ (S. 18).
Das Gottesverständnis ist ihm dabei Orientierungsmarke: Es ist im Sinne einer Partnerschaft von Gott – Mensch, also relational geprägt: Gott hat sich auf den Menschen eingelassen (S. 20). Das erinnert sehr an das biblische Verständnis eines Bundes zwischen Gott und Mensch. Gott ist der absolute Humanist“ (so Kap. 2). Weil der Mensch in seiner Schwäche die Neigung zum Guten wie zum Bösen hat, kann er sich frei (für das Gute) entscheiden. Die Geschichte eines Sündenfalls erübrigt sich, weil Gott schon bei Adam und Eva der Vergebende ist und an die Vernunft des Menschen glaubt. Die kontinuierlich-freie Beziehung von Gott und Mensch setzt nun im Islam geradezu voraus, dass Gott den Menschen „braucht“ (S. 28f) und sich ihm menschlich erfahrbar macht. Das exemplifiziert Khorchide an einer Mohammed-Geschichte, die wie eine Parallele zum Jesusgleichnis vom Jüngsten Gericht in Matthäus 25 klingt. Dort heißt es in V. 40: „Das was ihr einem von diesen meiner Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“. Die Freiheit des menschlichen Geistes erlaubt darum keinen statischen Glauben. Deshalb hat es im Islam schon sehr bald unterschiedliche Glaubens- und Rechtsschulen gegeben, um die menschliche Gottesbeziehung weiter zu verdeutlichen. Dabei gilt, dass Gott sich nicht durch besonders beeindruckende Frömmigkeit oder „gute Werke“ (um es mit Luther zu sagen) vereinnahmen lässt. Das Verhalten – orientiert an den Geboten des Korans – dient dazu, die menschliche Würde zu schützen.
Was schon im 2. Kapitel angesprochen wurde, verdeutlicht nun das Kap. 3: Im Islam gehören wahrer Humanismus und menschliche Freiheit untrennbar zusammen. Das mag manchem Islamkritiker unglaubwürdig klingen, Khorchide belegt dies jedoch nicht nur mit Koranzitaten, sondern mit dem islamischen Grundverständnis, dass Gottes Barmherzigkeit und Friedenswille im Menschen wenigstens annäherungsweise zur Geltung kommen sollen. Diese Korrelation macht es im Grunde unnötig, dass sich Gott – wie im Christentum – in einem Menschen inkarniert (S. 85).
Kap. 4 geht vom bisher mehr grundsätzlichen Verhandelten in die Entwicklungsgeschichte humanistischer Ideen und Konzepte über. Der Autor legt den Schwerpunkt schließlich auf das 20. Jh. Dabei kommen auch die Theologen Karl Barth und Karl Rahner zur Sprache. Neben dieser europäischen Humanismus-Geschichte mit ihren vielen Facetten fragt man natürlich, was der Islam dazu beigetragen hat bzw. beitragen kann.
Angesichts des Negativklischees, das dieser Religion gerade im Westen anhaftet, ist man gespannt, was Khorchide in Kap. 5 dazu vorstellt: Es sind offene Konzepte einer islamischen (Bildungs-)Kultur in Philosophie, Literatur und Sinnfindungsfragen, die den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit ernst nehmen. Die Besonderheit liegt jedoch offensichtlich darin, dass dieser Humanismus zugleich ein religiös geprägter ist. Dieser beruft sich immer wieder auf die universale Schöpfung Gottes und seine verantwortliche Bewahrung durch den Menschen. Es ist ein „Sich Öffnen“ im Horizont der Freiheit des Menschen. Allerdings hörte diese Haltung seit dem 11. Jahrhundert langsam zugunsten einer Theologie des „Sich-Verschießens“ auf (S. 137), während im christlichen Europa eine gegenläufige Tendenz unter Aufnahme griechischer und arabischer Philosophie wirksam wurde. Khorchide möchte aber diese originale islamische Haltung des „Sich-Öffnens“ wieder aufnehmen. Denn hier wird der Mensch nicht nach seiner Effizienz und seiner Leistung gemessen. Es gilt vielmehr, „das Göttliche“ im Menschen hervorzuheben (S. 151). Angehaucht von Gottes Geist ist darum allen antihumanistischen Tendenzen entgegenzuwirken (Kap. 6). Das gilt besonders jenen, die die Religion als Rechtfertigung für ihr gewaltsames Handeln gegen alle „Ungläubigen“ missbrauchen. Es ist also hier generell – aber auch von den unterschiedlich Glaubenden im Nahen und Mittleren Osten – ein Perspektivwechsel nötig, damit man den „Anderen“ verstehen kann. Damit greift Khorchide das heikle Thema der Gewalt auf, das er bereits mit dem Titel seines Kap. 7 formuliert und dann ausführlich begründet:Warum Gewalt mit dem Islam zu tun hat, der Islam aber nichts mit Gewalt zu tun haben will“ (S. 167). Wie alle monotheistischen Religionen ist der Islam wie auch Judentum und Christentum keine pazifistische Religion ... Der Islam erlaubt die Selbstverteidigung, verbietet jedoch den Angriffskrieg (Stichwort: Djihad). Insgesamt ist die Ausrichtung jedoch auf Frieden konzentriert, was der Koran vielfach bezeugt. Dass der Autor hier nicht generell islamische Zustimmung findet, liegt auf der Hand. Auch islamische Herrscher haben ja z.T. brutale Gewalt ausgeübt. So gilt es, sich mit der eigenen fast klassisch-theologischen Tradition im Verhältnis von Muslimen und Nicht-Muslimen kritisch auseinanderzusetzen. Darum sollte man sich Reformen nicht verweigern und keine exklusivistischen Rückgriffe auf frühere Positionen vornehmen. Durch absolute Deutungsansprüche kann man eigene Identitätsunsicherheiten aufgrund gesellschaftlicher Ausgrenzung nicht beheben. Im Sinne eines gerechten und barmherzigen Gottes sollte klar sein, dass Er keine „Hölle“ zur Bestrafung braucht, sondern Hölle und Himmel, sind vielmehr Symbole von Scheitern und Erlösung. Dafür gibt es starke Argumente aus dem Koran, die Khorchide als Orientierungsmarken weiter erläutert (S. 202–216):
  1. Die Vielfalt der Religionen ist gottgewollt.  
  2. Gott allein ist Richter zwischen den Menschen und zwar im „Jenseits.
  3. Der Koran verbietet ausdrücklich Zwang in religiöser Hinsicht.
  4. Der Mensch trägt als freies Geschöpf die Verantwortung seiner „weltanschaulichen Selbstbestimmung“.
  5. „Nicht jeder, der nicht an Gott oder den Islam glaubt, ist ein Leugner.“
  6. Der Koran selbst ist nicht exklusivistisch, sondern lässt anderen Glaubensweisen Raum.
  7. Exklusivismus ist Ausdruck von Selbstunsicherheit und Angst vor dem Hinterfragen gängiger Positionen.
Mit diesen Leitlinien macht sich der Theologe natürlich bei Extremisten keine Freunde. Als Wissenschaftler sieht er den Koran und die Hadithe im Sinne eines „offenen Prozesses“. Sonst könnte es ja keine Weiterentwicklung und Entfaltung einer Religion geben.
Im Kap. 8,  „Der Beitrag des Islams für den Humanismus heute“ belegt Khorchide mit dem islamischen Glaubensbekenntnis, der Shahada, dass Gott als die absolute Wahrheit alles Menschliche ins Relative verweist. Der Mensch ist also immer auf dem Weg, ein Suchender in Relation zu Gott, so wie Gott selbst immer im Bezug zum Menschen steht. Menschlicher Humanismus ist der Versuch, sich auf die göttliche Barmherzigkeit einzulassen und im eigenen Handeln zu bewahrheiten.

Bilanz
Mit seinem islamischen Humanismus-Entwurf kann sich der Münsteraner Theologe nicht nur auf wichtige Vertreter der islamischen Theologie des frühen Mittelalters berufen, sondern auch auf Denker des 19. und 20. Jahrhunderts.
Vgl. dazu die Besprechung: Katajun Amirpur u.a.: ReformerInnen im Islam:
Man kann nur wünschen, dass der Autor das hier skizzierte Konzept in Zukunft noch weiter ausführt. Was dieses Buch aber insgesamt so lesenswert macht, ist m.E. Folgendes: Khorchide erinnert und entwickelt eine Koranauslegung weiter, die dem Frieden und der Versöhnung dient. Seine hermeneutische Offenheit gegenüber der eigenen Glaubensurkunde als geoffenbartem Wort Gottes ist ein mutiger Schritt hin zu einem Humanismus, der dogmatisch gesetzte Grenzen bewusst überschreitet. Andersdenkende anderer Religionen und Weltanschauungen werden somit positiv herausfordert. Hinzu kommt das Aufscheinen einer persönlichen Glaubensbasis, von der her der Wissenschaftler seine eigene Lebensorientierung nimmt. Der Streit gerade innerhalb der islamischen Theologie wird durch diesen Entwurf sicher wieder aufflammen.
Es bliebt zu hoffen, dass auf Dauer Ähnliches gelingt wie in der christlichen Theologie. Die heftigen und polemischen Auseinandersetzungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts um die historisch-kritische Forschung, um Bultmanns „Entmythologisierungsprogramm“, um die „neue Hermeneutik“, die feministische und die religionspluralistische Theologie haben inzwischen weitgehend zur Versachlichung geführt. Dadurch wird die christliche Theologie auch in der Moderne wieder einigermaßen glaubwürdig und philosophisch diskursfähig. 

Kurzum: Angesichts der nicht aufhörenden brutalen Anschläge von Daech, Al-Qaida, Boko Haram u.a. ist dieses Buch ein geradezu notwendiges Signal für einen Islam als Partner aller friedenswilligen Kräfte.

Reinhard Kirste

Rz-Khorchide-Humanismus, 30.11.15 


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