Monika Walter: Der verschwundene Islam?
Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas.
Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 533 S., Autorenverzeichnis
--- ISBN 978-3-7705-6135-3 ---
InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats März 2017
Verlagsinformation, Inhaltsverzeichnis, Leseprobe >>>
Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas.
Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 533 S., Autorenverzeichnis
--- ISBN 978-3-7705-6135-3 ---
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Der gebetsmühlenartig wiederholte Zweifel, ob der Islam zu Deutschland gehöre, mutet geradezu bizarr an, je mehr man sich in das Buch der Romanistin Monika Walter (TU Berlin) einliest. Sieht man einmal von der islamischen Geschichte des Balkans ab, so zwingt die fast 800 Jahre dauernde islamische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel zwischen 711 und 1492 dazu, intensiv über die Prägung Europas (besonders Spaniens und Frankreichs) durch den Islam nachzudenken.
1. Vorspiel: Zum Zeugen „vom anderen Ufer“ wird Miguel de Cervantes für die Autorin mit seinen Erfahrungen von den beiden Seiten des Mittelmeeres: Er war ein erstaunlicher Grenzgänger, der nicht zu den Maurenverächtern gehörte. So bleibt er fast durch das gesamte Buch Wegbegleiter als Ansporn für eine Revision des europäischen Kulturverständnisses.
2. Einführung: Eine Islamgeschichte „unter dem Teppich“?
In ihrer
Einführung spricht die Autorin die seltsame Gemengelage der Islam-Sichten in der
europäischen Geschichte an. Sie spitzt das Problem mit der Frage zu: „Ist es
möglich, dass die einen Wissenschaftler an den Voraussetzungen einer
innereuropäischen Kulturgeschichte des Islam gearbeitet haben, während sich
andere Zunftkollegen blind gegen ihre Existenz stellten? … Denn eine andere
Frage folgt aus >anderem< Sehen“ (S. 47). So rückt Monika Walter nicht
nur die „Brillen“ des Verschweigens, der Vorurteile und Abwehrhaltungen auch
prominenter Forscher und Philosophen zurecht, sondern nötigt zu einer christlichen
und muslimischen Sehweise für Europa.
Sehweise eines nicht nur eines , sondern auch muslimischen Europas. Dazu untersucht
sie bekannte und weniger bekannte Fakten und Konzeptionen in Vergangenheit und
Gegenwart. Gerade die spanische Forschung der letzten Zeit hat eine veränderte
Einschätzung deutlich gemacht. Schließlich zeigt sich ausgesprochen auffällig im elften Jahrhundert durch
das Kalifat von Córdoba eine ganze europäische Region als muslimisches Zentrum
kultureller und wissenschaftlicher Hochblüte. Mit dem „Hispania“ der Araber als hermeneutischem Schlüssel entwickelt die
Autorin nun eine „andere Kulturgeschichte Westeuropas“.
Im 3. Kapitel kommt im Horizont des Morisken Ricote bei Cervantes auch die
„Anormalität“ der Mudejaren zur Sprache, Es sind Muslime, die freiwillig
unter christlicher Herrschaft blieben (S. 78f). Neben ihnen gab es Morisken
(moriscos), zwangsbekehrte Muslime, die nach der „reconquista“ ebenfalls
unter christlicher Herrschaft lebten. Mozaraber (mozárabes) dagegen sind
Christen unter muslimischer Herrschaft.
Monika Walter spürt in diesem Abschnitt der spanischen Islamgeschichte nach,
die sich multireligiös sowohl unter islamischer wie christlicher Herrschaft
zeigte. Und natürlich blieb gerade im Grenzgebiet zwischen muslimischen und
christlichen Fürstentümern die erstaunliche Zivilisationsblüte im islamisch
beherrschten Teil der Iberischen Halbinsel nicht verborgen. Gern hätte der
Rezensent hier noch etwas zur historischen Rolle des El Cid = Rodrigo Díaz de Vivar
(um 1045 bis 1099) und den um ihn entstandenen Mythos gehört – in der
Spannung von raffiniertem Warlord und (neuzeitlichem) spanischem Nationalhelden.
Politisch weiter wirkend ist jedoch die Tatsache, dass das islamische dhimma-Prinzip für die andersgläubigen
Schutzbefohlenen in modifizierter politischer Form auch von christlichen
Herrschern angewandt wurde. Das zeigte sich besonders am „Kulturkonzept“ von Alfons X., dem Weisen (1221–1284), in
dem Juden und Muslimen entsprechender Freiraum eingeräumt wurde (S. 93ff und S.
228-235). In diesem Kontext gehört auch der dialogoffene Malloquiner Ramon Llull (1232–1316), der seine
Bekehrungsintentionen auf die intellektuelle Ebene hob. Selbst nach 1492 war
die rücksichtslose Feindschaft gegenüber Muslimen und Juden nicht überbordend,
ja die Jesuiten legten durchaus einen Grundstein für eine „Theologie der
Religionen“ (S. 121), auch wenn die Inquisition anders handelte. Auch die
christliche Literatur (immer wieder im Spiegel von Cervantes) gibt erstaunlich
differenzierte Einblicke. Dass dabei auch Mythen, Fälschungen, „alternative
Fakten“ produziert werden, liegt auf der Hand.
Im 4. Kapitel zu christlichen und islamischen Mythen über Hispania kommt die
Autorin dabei u.a. auf die sog. Bleibücher vom Sacromonte in Granada zu
sprechen, die offensichtlich mit religiösen Erwartungen spielten. Für die
formal Christen Gewordenen, aber im Geheimen den Islam Praktizierenden, gab es
hier die Bestätigung eines frühen arabischen Ur-Evangeliums (S. 161–168). Aus
diesen und weiteren zweifelhaften Dokumenten – besonders im „Fall“ des Morisken
Miguel de Luna (1550–1619) und seiner
„wahrhaften Geschichtsschreibung“ (S. 175). Diese weist durchaus eine gewisse
Nähe zu dem berühmten Geschichtsphilosophen Ibn
Khaldun (1332–1406) auf . Und so lässt sich ablesen, dass die Iberische
Halbinsel seit 711 zu einem Brückenkopf zwischen Orient und Okzident geworden
war. Nach diesem ausführlichen Gang durch die mittelalterliche Geschichte
Spaniens [und Portugals] beschreibt sie Entwicklungen
der Aufklärung bis zur Gegenwart. Die spanische Identität ist durch die
Jahrhunderte währende direkte Begegnung mit dem Islam entscheidend geprägt.
Monika Walter führt dies im 5. Kapitel unter dem Titel „Ausblick
oder >die Rückkehr der Morisken<“
aus. Literarische Anstöße im 18. Und 19. Jahrhundert zeigen den Versuch
„vergrabene Geschichte“ wieder ans Licht zu bringen (S. 246). Es entstand
jedoch ein Kampfmuster zweier Spanien, auf der einen Seite die „Aufgeklärten“
und Patriotischen, auf der anderen Seite, die „Fremden“ bzw. „neuen Sarazenen“
(S. 248). Westeuropa verlegte die Geschichte der Iberischen Halbinsel ins
Abseits. Erst Engländer wie Washington Irving und Franzosen wie Théophile
Gautier und Prosper Mérimée entdeckten das verfallene Juwel „Alhambra“ wieder (S.254).
Im kolonial-imperial sich gebärdenden Spanien des 19. Jh.s sah man in
Nordafrika meist nur unzivilisierte „moros africanos.“. Durch das späte Lob des
Islam durch Ortega y Gasset wurden
auch die islamfeindlichen Denkmythen der Westeuropäer offenbar (S. 271). Dass
sich allerdings der Diktator Franco zum „Caudillo der Mauren und Christen“
hochstilisierte (S. 273) machte die Gemengelage von Maurophilie und Maurophobie
nicht leichter und änderte sich nach dem Tod Francos (1975) zuerst nicht. Und
die Autorin schlussfolgert (vorläufig!): „Übermächtig scheint in Spanien ein
Grundkonsens zu überleben, wie er im 16. Jahrhundert keineswegs schon in alle
Köpfe der Spanier getragen worden war. Nach ihm sollte eine moderne españolidad nichts mit dem Al-Andalus
nach 711 und auch nichts mit der ‚spanischen‘ Moriskenwelt nach 1492 zu tun
haben. Diese überkommene Sicht wirkt seit den 1980er Jahren umso mehr fort, als
sie sich problemlos mit einem Verständnis von Europeaness vereinbaren lässt, das selbst im Gegensatz zum Islam
konstruiert worden ist“ (S. 292).
Mit dem 6.
Kapitel „Eine Ahnenreihe der „histoire-problème“ – von Abaelard bis Rousseau
setzt darum Monika Walter noch einmal neu an. Wo haben sich Menschen in
Vergangenheit und Gegenwart aufgemacht, um die Spuren des arabisch-islamischen
Südwesteuropa zu suchen, aufzudecken und offenkundig zu machen? Die
„dialogische Ahnenreihe“ ist beeindruckend, auch wenn natürlich immer wieder
der Vorzug des Christentums bei diesen Persönlichkeiten durchscheint oder im
Diskurs dargelegt wird. Immerhin – ein Weg von der Polemik zur Islamkritik ist
der erste Schritt zu einem Verstehen auf „Augenhöhe“. Aber bei aller
Wertschätzung der von den Arabern nach Europa vermittelten griechischen
Philosophie und vorsichtiger Annäherung über den „missverstandenen Averroes“
(S. 311ff) gibt es doch ein erstaunlich differenziertes Islambild im
christlichen Mittelalter. Dafür stehen u.a. Petrus
Abaelardus, Ramon Llull, Petrus Venerabilis, Thomas von Aquin. Die bleibende
Problematik hat nach der Meinung von Monika Walter der Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun auf den Punkt gebracht:
„Die Verwechslung des Islam als Religion mit dem Islam im historischen Rahmen
einer Kultur und Zivilisation hat sich bis heute erhalten und ist überdies noch
komplexer geworden“ (zitiert auf S. 322). In der beginnenden Neuzeit brach
zudem das Glaubensmonopol der katholischen Kirche gegenüber dem Staat langsam
weg – mit dem Ergebnis, dass sich mehr und mehr die „Realpolitik“ auch
gegenüber dem Osmanischen Reich durchsetzte. Das gilt für Venedig, für
Frankreich, später auch für Preußen und gesellschaftlich für die wachsenden
Moden der Orient- und Türkei-Begeisterung. Sie schlagen sich in Essays,
Theaterstücken und zeitgenössischen Reiseberichten nieder. In der Aufklärung
tauchen dann eine ganze Reihe islamfreundlicher Denker auf (S. 352ff): Pierre Bayle, Montesquieu: Henri de
Boulainvilliers, während Voltaires
(zwiespältige Islamhaltung) für Goethe
zum Problem wurde. Dagegen treibt Jean
Jacques Rousseau mit seinem Gesellschaftsvertrag die Skepsis gegen Religion
überhaupt auf die Spitze. Natürlich muss man beim Weg in die Moderne besonders die Wirkung Napoleons bedenken, der seine
Ägypten-Invasion als Beitrag zur Fortschritts-Initiative in der Menschlichkeit stilisierte.
Im 7.
Kapitel: Zum Islam in Frankreichs Moderne treffen arabische Bewunderung für
das weltoffene Frankreich und Restauration im 19. Jh. als Gegenbewegung
aufeinander – verbunden mit religiös-katholischen Fundamentalismen und ihrem
„Chefideologen“ Chateaubriand (1768–1848). Da gerät auch der Islam in den
Geruch moderner Barbarei (S. 404ff). Künstler wie Maupassant und Flaubert lassen
sich dagegen auf die Ästhetik des Orients ein. Unter den kolonialen Bedingungen
Frankreichs wird der Widerstandskämpfer und Sufi Abd el-Kader (1808–1883) zu einem Vorbild. Seine Mahnungen an die Verständigen
beschreiben das Konzept eines reformerischen, dialogfähigen Islam – geprägt von
islamischer Aufklärung. Der
Historiker Ernest Renan (1823–1892),
„Erfinder“ einer französisch-republikanisch multiethnischen Nation-Rasse-Ideologie
grenzt sich bewusst vom Islam ab, weil er seit Averroes in dieser Religion keinerlei
rationale Kultur (mehr) sehen konnte (S. 443). Daran änderte auch sein berühmter
reform-muslimischer Gesprächspartner Jamal
ad-Din al-Afghani (1838–1897) nichts. Dieser versuchte, den wahren Islam so
zusammenzudenken – auf die für alle Menschen gültige Wissenschaft und durch den
Rückgriff auf das Goldene Zeitalter des Islam, die Salafiyya. Was bleibt ist
eine französisch-kosmopolitisch eingefärbte „citoyenneté“ auf beiden Seiten des
Mittelmeers.
Die Kolonialgeschichte
Frankreichs einerseits und das Bürgerverständnis andererseits führen die
Autorin im 8. Kapitel zu einem Ausblick
über die Stellung der muslimischen
Franzosen angesichts schärfer werdender Einbürgerungspraxis gegenüber den
Maghrebinern. Der Algerienkrieg hat bis heute seine traumatischen Spuren
hinterlassen. Hier entstand eine problematische europäische
Abgrenzungsmentalität (auch von Charles de Gaulle) gegenüber einer ermüdeten islamischen
Zivilisation (S. 492). Diese Haltung trägt rassistische Züge. Erst seit den
70er Jahren des 20. Jh.s entwickelte sich eine postkoloniale Gegenbewegung, in
der z.B. der Historiker Jacques le Goff
(1924–2014) die Kolonisierung der Geschichtsschreibung“ anprangerte (S. 477). Die
Frankophonie (im Kontext der ehemaligen Kolonien Frankreichs bleibt ein
schillernder Begriff. Bedeutende maghrebinische Intellektuelle wie die
Schriftsteller Tahar Ben Jelloun
(geb. 1944), Assia Djebar (1936–2015)
und Abdelwahab Meddeb (1946–2014)
sowie der Philosoph und Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun (1928–2010) betonten einen rational geprägten Islam
angesichts zunehmender Islamisierungstendenzen. Zugleich hoben sie die arabisch-islamische
Seite Europas hervor. Letzteres erweist sich allerdings als paradoxes Konstrukt
(S. 503). Dies ist fast schade, weil Mohammed
Arkoun die Linie von Averroes konsequent weiterführte. Damit konnte er zugleich
eine fundamentalistische Korandeutung abwehren.
9. Kapitel - Epilog und Bilanz: Eine Fülle von Geschichten in der Spannung von
Christentum und Islam in Westeuropa vom Mittelalter bis heute breitet Monika
Walter vor den Lesenden aus. Trotz dieser detailreichen Vielfalt geht jedoch
der „rote Faden“ nicht verloren. Es ist eine Variante des „Spieltisches“, den
Cervantes für sein Vaterland aufstellen wollte. Die Autorin nimmt diesen Gedanken
als Traumvision von Toledo auf, bei
der wie an einem „Spieltisch“ verschiedene Denker ihre Rollen „spielen“, und
zwar wie einst Petrus Abaelardus: Er führt seine drei Gesprächspartner, den
Philosophen, den Christen und den Juden zusammen und hat selbst die Schiedsrichterrolle
übernommen. „Auf die Frage, >zu welchem Bekenntnis sie gehörten<
antworteten die drei bekanntlich: Menschen
sind wir, die sich auf unterschiedliche Glaubensrichtungen stützen. Eines
einzigen Gottes Verehrer zu sein, bekennen wir nämlich gleichermaßen, obwohl
wir ihm mit einem unterschiedlichen Glauben und Leben dienen“ (S. 518f). Von
historischer Abgrenzung in der christlichen und aufklärerischen Geschichte
Europas ist es allerdings ein schwerer, jedoch notwendiger Weg, europäische
Identität auch im Kontext des Islam neu zu definieren. Da zerbricht der Mythos
des christlichen Abendlandes vor den jüdischen und islamischen Prägungen, ohne
die Europa heute nicht so wäre wie es ist. Angesichts der Verschärfungen, der Gewaltausbrüche,
die oft pauschal dem Islam zugewiesen
werden, müsste diese „andere“, eben islamisch mitgeprägte Kultur- und
Literaturgeschichte zur Pflichtlektüre jedes Politikers, aber auch jedes
gesellschaftlich Interessierten werden – um Europas willen.
Reinhard Kirste
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