Mittwoch, 19. Februar 2020

Monika Walter: Der Islam gehört zu Europa

Monika Walter: Der verschwundene Islam?
Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas.


Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 533 S., Autorenverzeichnis
--- ISBN 978-3-7705-6135-3 --- 


InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats März 2017


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Der gebetsmühlenartig wiederholte Zweifel, ob der Islam zu Deutschland gehöre, mutet geradezu bizarr an, je mehr man sich in das Buch der Romanistin Monika Walter (TU Berlin) einliest. Sieht man einmal von der islamischen Geschichte des Balkans ab, so zwingt die fast 800 Jahre dauernde islamische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel zwischen 711 und 1492 dazu, intensiv über die Prägung Europas (besonders Spaniens und Frankreichs) durch den Islam nachzudenken.
1. Vorspiel: Zum  Zeugen „vom anderen Ufer“ wird Miguel de Cervantes für die Autorin mit seinen Erfahrungen von den beiden Seiten des Mittelmeeres: Er war ein erstaunlicher Grenzgänger, der nicht zu den Maurenverächtern gehörte. So bleibt er fast durch das gesamte Buch Wegbegleiter als Ansporn für eine Revision des europäischen Kulturverständnisses.         
2.  Einführung: Eine Islamgeschichte „unter dem Teppich“?
In ihrer Einführung spricht die Autorin die seltsame Gemengelage der Islam-Sichten in der europäischen Geschichte an. Sie spitzt das Problem mit der Frage zu: „Ist es möglich, dass die einen Wissenschaftler an den Voraussetzungen einer innereuropäischen Kulturgeschichte des Islam gearbeitet haben, während sich andere Zunftkollegen blind gegen ihre Existenz stellten? … Denn eine andere Frage folgt aus >anderem< Sehen“ (S. 47). So rückt Monika Walter nicht nur die „Brillen“ des Verschweigens, der Vorurteile und Abwehrhaltungen auch prominenter Forscher und Philosophen zurecht, sondern nötigt zu einer christlichen und muslimischen Sehweise für Europa. Sehweise eines nicht nur eines , sondern auch muslimischen Europas. Dazu untersucht sie bekannte und weniger bekannte Fakten und Konzeptionen in Vergangenheit und Gegenwart. Gerade die spanische Forschung der letzten Zeit hat eine veränderte Einschätzung deutlich gemacht. Schließlich zeigt sich ausgesprochen auffällig im elften Jahrhundert durch das Kalifat von Córdoba eine ganze europäische Region als muslimisches Zentrum kultureller und wissenschaftlicher Hochblüte. Mit dem „Hispania“ der Araber als hermeneutischem Schlüssel entwickelt die Autorin nun eine „andere Kulturgeschichte Westeuropas“.

Im 3. Kapitel kommt im Horizont des Morisken Ricote bei Cervantes auch die „Anormalität“ der Mudejaren zur Sprache, Es sind Muslime, die freiwillig unter christlicher Herrschaft blieben (S. 78f). Neben ihnen gab es Morisken (moriscos), zwangsbekehrte Muslime, die nach der „reconquista“ ebenfalls unter christlicher Herrschaft lebten. Mozaraber (mozárabes) dagegen sind Christen unter muslimischer Herrschaft.   

Monika Walter spürt in diesem Abschnitt der spanischen Islamgeschichte nach, die sich multireligiös sowohl unter islamischer wie christlicher Herrschaft zeigte. Und natürlich blieb gerade im Grenzgebiet zwischen muslimischen und christlichen Fürstentümern die erstaunliche Zivilisationsblüte im islamisch beherrschten Teil der Iberischen Halbinsel nicht verborgen. Gern hätte der Rezensent hier noch etwas zur historischen Rolle des El Cid = Rodrigo Díaz de Vivar (um 1045 bis 1099) und den um ihn entstandenen Mythos gehört – in der Spannung von raffiniertem Warlord und (neuzeitlichem) spanischem Nationalhelden. Politisch weiter wirkend ist jedoch die Tatsache, dass das islamische dhimma-Prinzip für die andersgläubigen Schutzbefohlenen in modifizierter politischer Form auch von christlichen Herrschern angewandt wurde. Das zeigte sich besonders am „Kulturkonzept“ von Alfons X., dem Weisen (1221–1284), in dem Juden und Muslimen entsprechender Freiraum eingeräumt wurde (S. 93ff und S. 228-235). In diesem Kontext gehört auch der dialogoffene Malloquiner Ramon Llull (1232–1316), der seine Bekehrungsintentionen auf die intellektuelle Ebene hob. Selbst nach 1492 war die rücksichtslose Feindschaft gegenüber Muslimen und Juden nicht überbordend, ja die Jesuiten legten durchaus einen Grundstein für eine „Theologie der Religionen“ (S. 121), auch wenn die Inquisition anders handelte. Auch die christliche Literatur (immer wieder im Spiegel von Cervantes) gibt erstaunlich differenzierte Einblicke. Dass dabei auch Mythen, Fälschungen, „alternative Fakten“ produziert werden, liegt auf der Hand.



Im 4. Kapitel zu christlichen und islamischen Mythen über Hispania kommt die Autorin dabei u.a. auf die sog. Bleibücher vom Sacromonte in Granada zu sprechen, die offensichtlich mit religiösen Erwartungen spielten. Für die formal Christen Gewordenen, aber im Geheimen den Islam Praktizierenden, gab es hier die Bestätigung eines frühen arabischen Ur-Evangeliums (S. 161–168). Aus diesen und weiteren zweifelhaften Dokumenten – besonders im „Fall“ des Morisken Miguel de Luna (1550–1619) und seiner „wahrhaften Geschichtsschreibung“ (S. 175). Diese weist durchaus eine gewisse Nähe zu dem berühmten Geschichtsphilosophen Ibn Khaldun (1332–1406) auf . Und so lässt sich ablesen, dass die Iberische Halbinsel seit 711 zu einem Brückenkopf zwischen Orient und Okzident geworden war. Nach diesem ausführlichen Gang durch die mittelalterliche Geschichte Spaniens [und Portugals] beschreibt sie  Entwicklungen der Aufklärung bis zur Gegenwart. Die spanische Identität ist durch die Jahrhunderte währende direkte Begegnung mit dem Islam entscheidend geprägt. 


Monika Walter führt dies im 5. Kapitel unter dem Titel „Ausblick oder  >die Rückkehr der Morisken<“ aus. Literarische Anstöße im 18. Und 19. Jahrhundert zeigen den Versuch „vergrabene Geschichte“ wieder ans Licht zu bringen (S. 246). Es entstand jedoch ein Kampfmuster zweier Spanien, auf der einen Seite die „Aufgeklärten“ und Patriotischen, auf der anderen Seite, die „Fremden“ bzw. „neuen Sarazenen“ (S. 248). Westeuropa verlegte die Geschichte der Iberischen Halbinsel ins Abseits. Erst Engländer wie Washington Irving und Franzosen wie Théophile Gautier und Prosper Mérimée entdeckten das verfallene Juwel „Alhambra“ wieder (S.254). Im kolonial-imperial sich gebärdenden Spanien des 19. Jh.s sah man in Nordafrika meist nur unzivilisierte „moros africanos.“. Durch das späte Lob des Islam durch Ortega y Gasset wurden auch die islamfeindlichen Denkmythen der Westeuropäer offenbar (S. 271). Dass sich allerdings der Diktator Franco zum „Caudillo der Mauren und Christen“ hochstilisierte (S. 273) machte die Gemengelage von Maurophilie und Maurophobie nicht leichter und änderte sich nach dem Tod Francos (1975) zuerst nicht. Und die Autorin schlussfolgert (vorläufig!): „Übermächtig scheint in Spanien ein Grundkonsens zu überleben, wie er im 16. Jahrhundert keineswegs schon in alle Köpfe der Spanier getragen worden war. Nach ihm sollte eine moderne españolidad nichts mit dem Al-Andalus nach 711 und auch nichts mit der ‚spanischen‘ Moriskenwelt nach 1492 zu tun haben. Diese überkommene Sicht wirkt seit den 1980er Jahren umso mehr fort, als sie sich problemlos mit einem Verständnis von Europeaness vereinbaren lässt, das selbst im Gegensatz zum Islam konstruiert worden ist“ (S. 292).

Mit dem 6. Kapitel „Eine Ahnenreihe der „histoire-problème“ – von Abaelard bis Rousseau setzt darum Monika Walter noch einmal neu an. Wo haben sich Menschen in Vergangenheit und Gegenwart aufgemacht, um die Spuren des arabisch-islamischen Südwesteuropa zu suchen, aufzudecken und offenkundig zu machen? Die „dialogische Ahnenreihe“ ist beeindruckend, auch wenn natürlich immer wieder der Vorzug des Christentums bei diesen Persönlichkeiten durchscheint oder im Diskurs dargelegt wird. Immerhin – ein Weg von der Polemik zur Islamkritik ist der erste Schritt zu einem Verstehen auf „Augenhöhe“. Aber bei aller Wertschätzung der von den Arabern nach Europa vermittelten griechischen Philosophie und vorsichtiger Annäherung über den „missverstandenen Averroes“ (S. 311ff) gibt es doch ein erstaunlich differenziertes Islambild im christlichen Mittelalter. Dafür stehen u.a. Petrus Abaelardus, Ramon Llull, Petrus Venerabilis, Thomas von Aquin. Die bleibende Problematik hat nach der Meinung von Monika Walter der Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun auf den Punkt gebracht: „Die Verwechslung des Islam als Religion mit dem Islam im historischen Rahmen einer Kultur und Zivilisation hat sich bis heute erhalten und ist überdies noch komplexer geworden“ (zitiert auf S. 322). In der beginnenden Neuzeit brach zudem das Glaubensmonopol der katholischen Kirche gegenüber dem Staat langsam weg – mit dem Ergebnis, dass sich mehr und mehr die „Realpolitik“ auch gegenüber dem Osmanischen Reich durchsetzte. Das gilt für Venedig, für Frankreich, später auch für Preußen und gesellschaftlich für die wachsenden Moden der Orient- und Türkei-Begeisterung. Sie schlagen sich in Essays, Theaterstücken und zeitgenössischen Reiseberichten nieder. In der Aufklärung tauchen dann eine ganze Reihe islamfreundlicher Denker auf (S. 352ff): Pierre Bayle, Montesquieu: Henri de Boulainvilliers, während Voltaires (zwiespältige Islamhaltung) für Goethe zum Problem wurde. Dagegen treibt Jean Jacques Rousseau mit seinem Gesellschaftsvertrag die Skepsis gegen Religion überhaupt auf die Spitze. Natürlich muss man beim Weg in die Moderne besonders die Wirkung Napoleons bedenken, der seine Ägypten-Invasion als Beitrag zur Fortschritts-Initiative in der Menschlichkeit stilisierte.

Im 7. Kapitel: Zum Islam in Frankreichs Moderne treffen arabische Bewunderung für das weltoffene Frankreich und Restauration im 19. Jh. als Gegenbewegung aufeinander – verbunden mit religiös-katholischen Fundamentalismen und ihrem „Chefideologen“ Chateaubriand (1768–1848). Da gerät auch der Islam in den Geruch moderner Barbarei (S. 404ff). Künstler wie Maupassant und Flaubert lassen sich dagegen auf die Ästhetik des Orients ein. Unter den kolonialen Bedingungen Frankreichs wird der Widerstandskämpfer und Sufi Abd el-Kader (1808–1883) zu einem Vorbild. Seine Mahnungen an die Verständigen beschreiben das Konzept eines reformerischen, dialogfähigen Islam – geprägt von islamischer Aufklärung. Der Historiker Ernest Renan (1823–1892), „Erfinder“ einer französisch-republikanisch multiethnischen Nation-Rasse-Ideologie grenzt sich bewusst vom Islam ab, weil er seit Averroes in dieser Religion keinerlei rationale Kultur (mehr) sehen konnte (S. 443). Daran änderte auch sein berühmter reform-muslimischer Gesprächspartner Jamal ad-Din al-Afghani (1838–1897) nichts. Dieser versuchte, den wahren Islam so zusammenzudenken – auf die für alle Menschen gültige Wissenschaft und durch den Rückgriff auf das Goldene Zeitalter des Islam, die Salafiyya. Was bleibt ist eine französisch-kosmopolitisch eingefärbte „citoyenneté“ auf beiden Seiten des Mittelmeers. 

Die Kolonialgeschichte Frankreichs einerseits und das Bürgerverständnis andererseits führen die Autorin im 8. Kapitel zu einem Ausblick über die Stellung der muslimischen Franzosen angesichts schärfer werdender Einbürgerungspraxis gegenüber den Maghrebinern. Der Algerienkrieg hat bis heute seine traumatischen Spuren hinterlassen. Hier entstand eine problematische europäische Abgrenzungsmentalität (auch von Charles de Gaulle) gegenüber einer ermüdeten islamischen Zivilisation (S. 492). Diese Haltung trägt rassistische Züge. Erst seit den 70er Jahren des 20. Jh.s entwickelte sich eine postkoloniale Gegenbewegung, in der z.B. der Historiker Jacques le Goff (1924–2014) die Kolonisierung der Geschichtsschreibung“ anprangerte (S. 477). Die Frankophonie (im Kontext der ehemaligen Kolonien Frankreichs bleibt ein schillernder Begriff. Bedeutende maghrebinische Intellektuelle wie die Schriftsteller Tahar Ben Jelloun (geb. 1944), Assia Djebar (1936–2015) und Abdelwahab Meddeb (1946–2014) sowie der Philosoph und Islamwissenschaftler Mohammed Arkoun (1928–2010) betonten einen rational geprägten Islam angesichts zunehmender Islamisierungstendenzen. Zugleich hoben sie die arabisch-islamische Seite Europas hervor. Letzteres erweist sich allerdings als paradoxes Konstrukt (S. 503). Dies ist fast schade,  weil Mohammed Arkoun die Linie von Averroes konsequent weiterführte. Damit konnte er zugleich eine fundamentalistische Korandeutung abwehren.

9. Kapitel - Epilog und Bilanz: Eine Fülle von Geschichten in der Spannung von Christentum und Islam in Westeuropa vom Mittelalter bis heute breitet Monika Walter vor den Lesenden aus. Trotz dieser detailreichen Vielfalt geht jedoch der „rote Faden“ nicht verloren. Es ist eine Variante des „Spieltisches“, den Cervantes für sein Vaterland aufstellen wollte. Die Autorin nimmt diesen Gedanken als Traumvision von Toledo auf, bei der wie an einem „Spieltisch“ verschiedene Denker ihre Rollen „spielen“, und zwar wie einst Petrus Abaelardus: Er führt seine drei Gesprächspartner, den Philosophen, den Christen und den Juden zusammen und hat selbst die Schiedsrichterrolle übernommen. „Auf die Frage, >zu welchem Bekenntnis sie gehörten< antworteten die drei bekanntlich: Menschen sind wir, die sich auf unterschiedliche Glaubensrichtungen stützen. Eines einzigen Gottes Verehrer zu sein, bekennen wir nämlich gleichermaßen, obwohl wir ihm mit einem unterschiedlichen Glauben und Leben dienen“ (S. 518f). Von historischer Abgrenzung in der christlichen und aufklärerischen Geschichte Europas ist es allerdings ein schwerer, jedoch notwendiger Weg, europäische Identität auch im Kontext des Islam neu zu definieren. Da zerbricht der Mythos des christlichen Abendlandes vor den jüdischen und islamischen Prägungen, ohne die Europa heute nicht so wäre wie es ist. Angesichts der Verschärfungen, der Gewaltausbrüche, die oft pauschal dem Islam zugewiesen werden, müsste diese „andere“, eben islamisch mitgeprägte Kultur- und Literaturgeschichte zur Pflichtlektüre jedes Politikers, aber auch jedes gesellschaftlich Interessierten werden – um Europas willen.

Reinhard Kirste
 Rz-Walter-Islam-Europa, 28.02.17 

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