Fethi
Benslama: Der Übermuslim. Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt.
Aus dem Französischen von Monika Mager und
Michael Schmid.
Berlin: Matthes & Seitz 2017, 142 S. ---
ISBN 978-3-95757-388-9 ---
Französische Originalausgabe:
Un furieux désir de sacrifice. Le surmusulman [ = ein wahnsinniges Opferbegehren]
Paris: Seuil 2016, 151 pp. --- ISBN 978-2-02-131909-5 ---
Un furieux désir de sacrifice. Le surmusulman [ = ein wahnsinniges Opferbegehren]
Paris: Seuil 2016, 151 pp. --- ISBN 978-2-02-131909-5 ---
Der Autor dieses Buches, Fethi Benslama (geb.
1951 in Tunesien, seit 1972 in Frankreich), ist Psychoanalytiker. Er hat in den
Jahren 1985–2000 wesentliche Erfahrungen als klinischer Psychologe und
Psychopathologe gesammelt. Seit 2004 ist er Professor an der Pariser
Universität Diderot. Er gehört zugleich der Tunesischen Akademie der Wissenschaft
und Künste an. Seit vielen Jahren arbeitet er intensiv zu
den Themen gestörter kindlicher Identitäten und jugendlicher Radikalisierung.
Er gehört zu den wichtigsten französischsprachigen Forschern mit seinen
Untersuchungen über die Zusammenhänge des Islam als Religion und den Strömungen
des Islamismus. 15 Jahre hat der Autor in einer Pariser Banlieue mit
radikalisierten Jugendlichen gearbeitet. Durch das Zusammendenken von
psychologischen Hintergründen im Kontext von theologischer Fundamentalisierung lässt
sich leichter verstehen, wie aus dem demütig seinen Glauben lebenden Muslim der
Übermuslim wird.
Dieser aufregend geschriebene Essay bietet eine
nüchterne Bilanz. Der Autor kommt ohne die üblichen Klischees oder polemischen
Abgrenzungen aus.
Im Abschnitt „Radikalisierung als Symptom“ wird deutlich, was hinter den
Gewalttaten und den Angriffen auf die Demokratie steht. Es ist nicht nur das
Bedrohungspotential, das die Mehrheitsgesellschaft beunruhigt. Zu wenig wird
beachtet, dass die Radikalisierten überwiegend junge Männer sind. Aus
psychologischer Sicht muss die im 20. Jahrhundert verlängerte bzw. erweiterte Adoleszenszeit in die Analyse einbezogen
werden. Denn in dieser Phase zwischen Kind und Erwachsenem sucht der junge
Mensch nach Idealen, die ggf. radikal durchgesetzt werden möchten. Es gilt, das
eigene Selbst entsprechend zu positionieren und zu sichern. Damit geht man
gefährliche Risiken und Bewährungsproben für die eigene Anerkennung ein (S.
43). An diesem Punkt bieten sich fundamentalistische Glaubens- und Lebensformen
an. Extreme Gruppen gehen auf die Verunsicherten zu und bieten ihnen Hilfe an.
Das Leiden muss überwunden werden durch Einsatz für Gerechtigkeit – auch für
sich selbst und gegen die Gesellschaft. So werden durch die Gruppe Würde und
Allmacht erfahren. Der Weg dorthin ist gekennzeichnet durch Reue, innere und
äußere Reinigung im Sinne einer Konversion. Dann löst sich sogar die Grenze zwischen
Leben und Tod auf, so dass auch das Selbstopfer einen Sinn erhält. Der
französische Untertitel deutet dies bereits an.
„Halten wir in jedem Fall fest, dass manche
Kämpfer zunächst nicht auf der Suche nach Spiritualität oder religiöser
Konversion sind. Sie wollen sich gegen die grausame Unterdrückung der syrischen
Bevölkerung durch das Assad-Regime auflehnen. Für andere dient die Reise in den
geheimnisvollen Orient als romantischer initiierender Prozess. Beim Lesen von
Texten über die Kreuzzüge hat mich erstaunt, wie viele Ähnlichkeiten es zu den
abenteuerlichen Aufbrüchen in den Dschihad gibt“ (S. 48).
Zum weiteren Verstehen ist aber der häufig
benutzte Begriff des „Islamismus“ zu
hinterfragen. Benslama macht an politischen Entwicklungen deutlich, dass man
nicht von Islamismus im Sinne eines politischen Islam reden kann. Er macht das
an Beispielen u.a. der Revolution im Iran
1979 und der Proklamation des Islamischen
Staates von 2014 deutlich. „Die fundamentale Zielrichtung des Islamismus
besteht [darin], die Unterordnung des
Politischen unter das Religiöse so weit zu treiben, bis es darin verschwindet“
(S. 64).
In diesem Zusammenhang tritt der Übermuslim
auf, der als Glaubenskämpfer das Reich Gottes hier und jetzt verwirklichen will
(S. 67). Diese Entwicklung gewinnt seit den Lehren von Ibn Taymiyya (1263-1328) und durch die Erfahrungen mit dem
Kolonialismus (seit Napoleon) an Fahrt und führt dazu, dass Religion und Politik
miteinander identifiziert werden (S. 68). Das
Begehren, das Politische auf das Religiöse zu reduzieren hat den Übermuslim hervorgebracht (S. 69). Ein
solcher Mensch sieht, dass besonders in den westlich-aufgeklärten säkularen
Gesellschaften Gott in der staatlichen
Gewalt außer Kraft gesetzt worden ist (S. 81).
Man kann nun die Verhaltensweisen des Übermuslim bei den Gläubigen beobachten,
für die es nicht ausreicht, die Religion im Rahmen der Tradition zu leben,
nämlich gegründet auf dem Gedanken der Demut und Bescheidenheit. Benslama
betont: “Einer der größeren Bedeutungen des Namens >Muslim< ist der Demütige.
Das ist der fundamental ethische Kern des Islam. Beim Übermuslim dagegen handelt es sich darum, den Stolz des eigenen
Glaubens vor der Welt zu manifestieren: >Islam
pride<. Dieser Glaube wird in
öffentliche Demonstrationen hineingetragen – Glaubenszeichen auf der Stirn,
Gebet auf der Straße, körperliche und kleidungsmäßige Kennzeichen, rituelle Steigerungen
und Vorschriften, die die kontinuierliche Nähe zu Allah bei jeder Gelegenheit herausrufen.“
(S. 93, eigene Übersetzung aus dem
französischen Original, deutsche Ausgabe S. 84).
Die absolut gesetzte Deutungshoheit über die
Aussagen des Koran wird zur „Waffe des Terrors in der Hand des personifizierten
Übermuslims“ (S. 89).
Die Wirkungen sind verheerend und produzieren
zugleich einen Fatwa-Wahn jedes sich
dazu berufen Fühlenden, um Verbote und Abgrenzungen durchzusetzen. Eine Fatwa, ursprünglich ein religiöser
Ratschlag, bietet nun die Möglichkeit, „Macht über das Bewusstsein der
Gläubigen zu erlangen“ (S. 99). Da das Körperliche als Einfallstor des
Dämonischen gesehen wird, gilt es „wieder die Kontrolle über die Triebbeherrschung
der Muslime zu erlangen“ (S. 103). Extrem auffällig ist dabei, wie der Übermuslim sexuell reagiert. Der
weibliche Körper macht ihm besondere Schwierigkeiten. So wird auf seltsamen
Fatwa-Wegen die Frau zur Mutter und damit ent-erotisiert und ent-sexualisiert
(außerdem gilt das Inzest-Verbot). Sexualität bedroht die umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Darum muss der Übermuslim alles daran setzen „die
Gemeinschaft der Gläubigen vor der Frau als dem unkontrollierbaren sexuellen
Objekt zu schützen“ (S. 112).
Bilanz
Dies alles klingt wenig beruhigend. Welche
Möglichkeiten gibt es, diesen fundamentalistischen Extremen etwas aus der Kraft
der islamischen Religion entgegenzusetzen?
Dieser aufregend geschriebene Essay bietet eine
nüchterne Bilanz. Benslama kommt ohne die üblichen Klischees oder polemischen
Abgrenzungen aus. Seine bleibende Hoffnung bezieht Benslama auf den „Arabischen
Frühling“ von 2011. Er ist ein intimer Kenner der nordafrikanischen
Entwicklungen. So scheinen sich trotz aller negativer Erfahrungen seit 2011 Hoffnungs-Möglichkeiten
zu eröffnen. Dann hätte der Übermuslim
– besonders in Ägypten und Tunesien – weniger Chancen zur Umsetzung seiner von
Gewalt getränkten Ideale. Der Konflikt jedoch
ist unausweichlich: Der Islamismus ist eine "antipolitische
Utopie". Darum versucht er in salafistischem Gewande die Auflösungserscheinungen
der organischen religiösen Gemeinschaft, der „umma“, durch den (säkularen) Staat generell zu beseitigen.
Die muslimischen Aufklärer allerdings wollen gar „kein politisches Projekt der Laizität“ (S. 130), also einer strikten Trennung von Staat und Religion. Sie engagieren sich für eine „Zivilität in Kultur und Gesellschaft“ (aaO), das bedeutet ein Leben in bürgerlicher Freiheit. Nur so können die „versteinerten Phantasmen“ der Umgebung beseitigt werden. Wahrhaftig kein leichter Weg ! Aber eine dringende Aufforderung, hier weiter zu denken, zugleich in Solidarität mit den Aufbrüchen des arabischen Frühlings.
Die muslimischen Aufklärer allerdings wollen gar „kein politisches Projekt der Laizität“ (S. 130), also einer strikten Trennung von Staat und Religion. Sie engagieren sich für eine „Zivilität in Kultur und Gesellschaft“ (aaO), das bedeutet ein Leben in bürgerlicher Freiheit. Nur so können die „versteinerten Phantasmen“ der Umgebung beseitigt werden. Wahrhaftig kein leichter Weg ! Aber eine dringende Aufforderung, hier weiter zu denken, zugleich in Solidarität mit den Aufbrüchen des arabischen Frühlings.
Weitere Bücher von Fethi Benslama:
·
La psychanalyse à l'épreuve de
l'Islam. Paris: Flammarion 2004.
Psychoanalyse des Islam. Berlin: Matthes & Seitz 2017, s.u.
Psychoanalyse des Islam. Berlin: Matthes & Seitz 2017, s.u.
·
La Virilité en Islam (codirection avec Nadia Tazi). La Tour-d'Aigues: L’Aube 1998 / 2004
·
La psychanalyse à l'épreuve de
l'Islam. Paris: Flammarion 2004
·
Déclaration
d'insoumission: À l'usage des musulmans et de ceux qui ne le sont pas. Paris: Flammarion 2005.
·
La
contestation identitaire, L’école face à l’obscurantisme religieux.
Paris: Max Milo 2006.
·
Soudain la
révolution ! De la Tunisie au monde arabe.. La signification d'un
soulèvement. Paris: Denoël 2011.
·
La Guerre des subjectivités en Islam, Fécamp: Nouvelles Éditions Lignes 2014
·
L'idéal et la cruauté, subjectivité et politique de
la radicalization. Fécamp: Nouvelles
Éditions Lignes 2015
- Grundlegend:
- Fethi Benslama: Psychoanalyse des Islam.
Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt.Originaltitel: La psychoanalyse à l'épreuve de l'IslamÜbersetzung aus dem Französischen: Monika Mager, Michael SchmidBerlin: Matthes & Seitz 2017, 352 S. --- ISBN: 978-3-95757-338-4 ---
>>> Rezension: hier - Übersichten und Vorankündigungen zu Büchern von Fethi Benslama: hier
- Interview mit Fethi Benslama (Die ZEIT online, 10.04.2017):
Islamismus - Den Tod genießen
Vgl. auch das Interview mit Gilles Kepel: "Der
politische Rechtsruck folgt ein Stück weit derselben Logik
wie die islamische religiöse Radikalisierung" Aus: Länderprofile, bpb 21.03.2017:
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/245057/2017-interview-mit-dem-franzoesichen-politikwissenschaftler-gilles-kepel?pk_campaign=nl2017-04-05&pk_kwd=245057
wie die islamische religiöse Radikalisierung" Aus: Länderprofile, bpb 21.03.2017:
http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile/245057/2017-interview-mit-dem-franzoesichen-politikwissenschaftler-gilles-kepel?pk_campaign=nl2017-04-05&pk_kwd=245057
Weitere Buchhinweise
zu Martyrium und Selbstopferung (nicht nur) im Mittleren Osten
Reinhard Kirste
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