Freitag, 18. Januar 2019

Abdoldjavad Falaturi: Griechische Philosophie und koranisches Denken - Streit um die Wirklichkeit


Abdoldjavad Falaturi: Die Umdeutung
der griechischen Philosophie
durch das islamische Denken.

Herausgeber:
Mahdi Esfahani, Hamid Reza Yousefi, Parvis Falaturi 

Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, 203 S.
--- ISBN 978-3-8260-5974-2 ---


Buch des Monats Mai 2018 der InterReligiösen Bibliothek (IRB)

English summary at the end of the review !
Abdoldjavad Falaturi (1926–1996) gehört nicht nur zu den bedeutendsten Islamwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts, sondern auch zu den Brückenbauern zwischen den Denkkonzepten von Orient und Okzident, von griechischer und islamischer Philosophie. 
Das kam bereits in seiner Dissertation an der Universität Bonn von 1965 zum Ausdruck: 
Zur Interpretation der kantischen Ethik im Lichte der Achtung. Mit einem Anhang.
Vorarbeit zu Studien zu einem allgemeinen Kantwörterbuch.
 


In seiner Habilitation „Die Umdeutung der griechischen Philosophie durch die islamische Denkweise …“  von 1973 hob der Theologe und Philosoph die unterschiedlichen Denkkonzepte im Kontext der Orient-Okzident-Begegnungen besonders heraus.
Durch die Aufarbeitung des nicht leicht zu lesenden Manuskripts mit späteren Einträgen und Ergänzungen wird diese entscheidende Forschungsarbeit nun zum ersten Mal öffentlich zugänglich.
Die Bearbeiter schreiben darum im Vorwort: „Ihm [Falaturi] gelingt es, die griechisch-islamische Denkgeschichte interkulturell wie interreligiös neu zu durchdenken. In dieser … Schrift führt er … den Beweis, dass die sogenannte Islamische Philosophie nicht, wie oft insinuiert, eine Nachahmung der griechischen Philosophie ist noch eine islamisierte Form griechischen Denkens darstellt“ (S. 11). Im Einzelnen führt er aus, wie sich die griechischen Inhalte in der Bearbeitung durch islamische Philosophen verändern und dabei zugleich umgestaltet werden. So entsteht auf der Basis griechischer Philosophie ein facettenreiches islamisch geprägtes Denkgebäude von eigenständiger Kraft. Dieses erweist sich zugleich als Brücke für den Umgang mit den unterschiedlichen östlichen und westlichen Denkkonzepten.
Die Arbeit Falaturis hat also das griechische und koranische Zeit- und Wirklichkeitsverständnis gleichermaßen im Blick, um aus dieser Zusammenschau erkenntnis-theoretische Konsequenzen zu ziehen.
Der Einleitungsabschnitt und das 1. Kapitel gehen darauf besonders ein. Die Methodologie des Verfassers ermöglicht es dabei, kontinuierlich und konsequent die griechischen Denkstrukturen am Leitfaden von ἀρχή (Anfang/Prinzip, Ursprung), κίνησις (Bewegung), γένεσις (Entstehung, Schöpfung) und είμαι (Sein) zu durchleuchten. Dadurch können die jeweiligen unterschiedlichen Zeit- und Wirklichkeitsvorstellungen sowie die ontologischen Erkenntniszugänge im Blick auf Koran und griechische Philosophie hervorgehoben werden. Dies führt im weiteren Verlauf der Darstellung jedoch nicht dazu, dass es keinerlei Verbindungsbrücken zwischen griechischem und islamischem Wirklichkeitsverständnis gibt.
Im 1. Kapitel benennt Falaturi (noch thesenhaft) zwei wichtige Erkenntnisse, die die weiteren  zwischen griechischer Philosophie und koranischer Ansicht steuern. Es müssen erstens die arabischen Übersetzungen mit griechischen Originalen verglichen und die mittelalterliche Philosophie-Rezeption erst einmal ausgeblendet werden. Es kann nämlich nicht von Übereinstimmungen ausgegangen werden, weil in Wahrheit eine Abweichung vorliegt (S. 28). Das zeigt sich sehr deutlich an Texten von Avicenna, al-Ghazali, al-Farabi und Averroes. Zweitens kommt für „die Darstellung der rein islamischen Denkweise … nur der Koran als höchster Maßstab infrage. Es versteht sich aber von selbst, dass dieser nicht als kanonische Quellen einer religiösen Systematik, sondern als ein geistig überaus wichtiges Buch in Betracht kommt, dessen Vorstellungs- und Denkweise … den islamischen Geist am reinsten und am entschiedensten bestimmt hat“ (S. 31).
Bevor Falaturi jedoch die koranische Zeitauffassung näher erläutert, betont er: Der Kontrast zum koranischen Vorstellungsschema zeigt sich am griechischen Leitbegriff der ἀρχή. Das führt zu den Ausdifferenzierungen von χρόνος und καιρός. Aristoteles, Zenon und Plotin werden dabei zu hermeneutischen Schlüsselfiguren. Also leitet der regulierende Charakter der Zeit alle Erkenntniszugänge, m.a.W.: die griechischen Philosophenschulen stehen auf dem Boden dieses regulierenden Zeitverständnisses (S. 59). Diese Basis bzw. Denkstruktur fehlt im Koran.
Das 2. Kapitel liest sich nun deshalb recht spannend, weil Falaturi am Leitfaden des arabischen Wortes waqt und seinen Ableitungen nachweist, wie sich durch den islamischen Transfer die griechischen Begriffe χρόνος und καιρός verändern. So deutet alles darauf hin, „dass die koranische Zeit keine physikalische und keine metaphysische Größe ist … Sie ist also keine regulierende Zeit …. Sie ist … eine reale kosmische Erscheinung, die … von Gott hervorgebracht wurde und insofern ihre eigene Entität besetzt“ (S. 68f). Der Koran hat darum zwei Zeiteinheiten: Nacht und Tag und keine Zeitabläufe. Damit fehlt ihm auch die Ewigkeits- und Zeitlichkeitsvorstellung (S. 79). „Da die Zeit dem Weltall als ein Teil desselben gehört, so ist Gott folgerichtig vor oder außerhalb der Zeit“ (S 82). So lassen sich auch Prozesse nicht bis zu ihren Ursprung (ἀρχή) zurückverfolgen, weil die regulierende Zeit als Basis fehlt. Dadurch entsteht ein von der griechischen Philosophie abweichendes Wirklichkeitsverständnis. Das führt Falaturi im 3. Kapitel aus:
Der Koran betont die Ortsbezogenheit, er kennt keine Bewegtheit: Die Herkunft der Welt, geschaffen von einem einzigen Urheber – Gott. Er ist zugleich der Größte, der Gestaltgeber, neben dem es keine anderen Götter geben kann. Gott kann darum nicht als wirkende Ursache oder als erster Beweger verstanden werden (S. 96). Falaturi spielt diese Differenzen an einer Reihe von griechischen Begriffen durch, für die es kein arabisches Äquivalent gibt. Sein und Nichts beschäftigen den Koran nicht (S. 114), Wirklichkeit hat nichts mit einem prozesshaften Entstehen zu tun (S. 121) und ist damit das Gegenstück zur griechischen Wirklichkeitsauffassung. Wie sieht dann aber koranische Philosophie aus?
Falaturi schreibt im 4. Kapitel zur Wirklichkeitserkenntnis im Koran: „Das Wirklichkeitsbild des Korans scheint von der Überzeugung getragen zu werden, dass das All samt allem, was sich darin befindet, eine Summe von einzelnen Dingen ist, die alle unabhängig voneinander nur von einem … außerweltlichen Urheber oder Täter abhängen“ (S. 133). Daraus folgt, dass jegliche Metaphysik für den Koran undenkbar ist. Es muss jedoch eine entsprechende Erkenntnislehre geben. Sie bezieht sich auf das tiefste Wissen (arabisch ‘ilm =  „aus dem Grunde“, S. 138). Menschliches Wissen kommt dagegen nur an Einzeldinge heran. „Im Koran fehlt also – im Gegensatz zum Griechischen – das wissenschaftliche Wissen, die wissenschaftliche Reflexion und deshalb auch der wissenschaftliche Zweifel … Der Koran kennt damit auch keine ἀπορία (S. 167). Denn Zweifel (σκέψις) und Aus-Weglosigkeit (ἀπορία) sind Grundmuster griechischen Denkens. Dieses sah sich immer wieder bei der Lösung eines Problems vor Ergebnisse gestellt, deren Gegensätzlichkeiten (Antinomien) sich nicht auflösen ließen. Aber die Aporie ermöglichte immerhin, nach dem Anfang bzw. dem steuernden Prinzip (ἀρχή) zu fragen.
Und dennoch gibt es Verbindungslinien zum griechischen Denken, und zwar über die islamische Methodenlehre des Idjtihad, was etwa „Anstrengung“ bzw. „Fleiß“ bedeutet (S. 168). Idjtihad bestimmt die Koranauslegungen ganz wesentlich, auch wenn es theologische Versuche gab, das „Tor der Auslegung“ zu schließen. Diese Methodologie erlaubt nämlich, die Vermengungen griechischer und koranischer Fragestellungen aufzudecken und kann darum den islamischen Wissenschaften gerade in der Gegenwart neue Impulse geben.
Hier scheint mir genau der Punkt zu liegen, der im Mittelalter dazu führte, dass und auf welche Weise Averroes, Avicenna, al-Farabi, al-Ghazali, as-Suhrwardi und al-Shirazi die aristotelische Philosophie in einen anderen Denkhorizont transferiert haben, auch wenn man diesen Transfer nicht mehr als genuin koranisch bezeichnen kann.
Falaturi hebt in seinem Nachwort darum die erheblichen Reibungsflächen islamischer und griechischer Philosophie hervor. Er konstatiert jedoch nachdenklich, dass eigentlich nur Avicenna, diese Diskrepanz bemerkt habe (S. 187).
Bilanz
Falaturi ist es gelungen, die Eigenständigkeit islamischer, auf dem Koran basierender Philosophie hervorzuheben. Das könnte vermutlich auch zu Revisionen im Verständnis christlicher Denkkonzepte des Mittelalters führen, wenn man sie an islamischen Zeitvorstellungen spiegelt. Das gilt übrigens nicht nur für Averroes und den Averroismus. Darüber hinaus wird zugleich deutlich, dass griechische und islamische Philosophie wie zwei Pfeiler gleichsam an gegenüber liegenden Flussufern stehen. Auf diesen Pfeilern lässt sich durchaus die geistige Brücke zwischen Orient und Okzident verstärken.
So ist es ausgesprochen schade, dass uns Abdoldjavad Falaturi für diesen wichtigen weiterführenden Diskurs im Sinne christlich-islamischer Geistesbegegnung nicht mehr zur Verfügung steht ...

Die Herausgeber
English summary:
In this important contribution Abdoldhavad Falaturi (1926-1996), internationally well-known Islamic scientist, succeeds in rethinking Greek-Islamic intellectual history. By his interpretation of special Greec and Arabic philosophical terms he can demonstrate that the so-called Islamic philosophy is not, as often insinuated, an imitation of Greek philosophy, but  an originally Islamized form of Greek thought - founded in the hermeneutics of the Qur'an. This transfer can also be a bridge for dealing with the different concepts of the East and the West, especially in the context of time and reality. 
It is a challenge for some possible revisions in considering the coherences of Islamic and Christian philosophy in the Middle Ages. 
This does not touch only Averroes and the Averreroism but also other patterns of thought in the frame of re-interpretations of Greek philosophy.
Falaturi's research is therefore also important for the contemporary encounters
of Christian and Islamic epistemological conceptions.

Reinhard Kirste

Rz-Falaturi-Philosophie, 30.04.18 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen