Montag, 3. Dezember 2018

Basiswerte für ein gemeinsames Europa: Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit, wahrhaftige Erinnerungskultur, Menschenrechte


Buch des Monats Dezember 2018

Aleida Assmann: 
Der europäische Traum. 
Vier Lehren aus der Geschichte.
München: C.H. Beck 2018, 208 S., Personenregister -
--- ISBN 978-3-406-73380-2 ---
  • Zusammenfassung am Schluss der Besprechung
  • English summary at the end of the review
  • Résumé français au bout du compte rendu
Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2018 und dann bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels machten Aleida und Jan Assmann in beeindruckender Weise deutlich, dass Wissenschaft nie „objektiv“ prägende Geschehnisse in Vergangenheit und Gegenwart betrachten kann. Dies gilt noch einmal in zugespitzter Weise, wenn man von Europa redet und den Europa-Träumen in besonderer Weise nachgeht.
Das hat die Kulturwisssenschaftlerin Aleida Assmann (geb. 1947) mit diesen Buch getan.
Mehr zu Aleida Assmann (Leben und Werk): https://www.perlentaucher.de/autor/aleida-assmann.html

Sie fragt darum zuerst, ob man aus der Geschichte lernen kann. Viele sind nämlich anderer Meinung. Ihre These lautet, „dass aus der verheerenden Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich auch Lehren gezogen wurden und die EU als Produkt dieses Lernprozesses zu verstehen ist“ (S. 12). Darum müssen die Veränderungen seit dem Zerfall der Sowjetunion für den europäischen Staatenbund neu durchdacht werden.


Angesichts vieler Erosionstendenzen sind darum Orientierungen nötig, damit der Hoffnungstraum von Europa nicht verloren geht, sondern realistischen Boden gewinnt. Darum zieht Aleida Assmann im 1. Teil des Buches „Vier Lehren aus der Geschichte“. So wird Erinnerungskultur zur Zukunftsaufgabe.
1. Lehre: Friedenssicherung – Wie aus Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden
Europa kann sich glücklich schätzen, weil es im Raum der heutigen europäischen Union seit über 70 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat. Der Verzicht auf Rache, man denke nur an die Erzfeinde Deutschland – Frankreich, ist tatsächlich Vergangenheit. Der Rezensent kann hier bestätigen, wie bereits im den 50er Jahren über das Deutsch-Französische Jugendwerk ein Freundschaftsprojekt aufgebaut wurde, das dem politischen Willen von Charles de Gaulles und Konrad Adenauer entsprang. Nicht zu vergessen sei aber auch neben der Ostdenkschrift der EKD der Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal in Warschau, das an den Aufstand im jüdischen Ghetto erinnert. Die Städtefreundschaft zwischen Dresden und Coventry ist ein weiteres Zeichen solchen Versöhnungswillens. Diese und weitere Beispiele europäischer Geschichte sind als Er-Mahnung in Zeiten der Krise besonders wichtig, damit nicht diese Friedens-Errungenschaften antidemokratisch und rechtspopulistisch verspielt werden.
2. Lehre: Die (Wieder-)Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien
Nationalstaatliche Egoismen und Dominanzansprüche wie „America first“, das Ausspielen der Opferrolle, die Betonung der Heldenperspektive, das Verdrängen von Schuld und das Sich-Verweigern von geschichtlicher Verantwortung sind auf Dauer gefährliche Aushöhlungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit / Schwesterlichkeit. Aleida Assmann zieht darum als herausragendes Beispiel die von den Siegermächten durchgeführten Nürnberger Prozesse 1945 heran. Hier wurden in demokratischer Antwort auf den Holocaust Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ersten Schritten aufgearbeitet. „Es war tatsächlich das erste Mal in der Geschichte, dass die Sieger den Besiegten eines Staates den Prozess machten. Dieser Prozess wurde zum Vorbild für den 1998 gegründeten Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der seit 2002 Fälle behandelt in denen eine nationale Strafverfolgung nicht möglich oder staatlich nicht gewollt ist“ (S. 31).
3. Lehre: Historische Wahrheit und der Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur
Erinnerung muss keineswegs nur heilsam sein, sie kann auch Hass schüren. Aber die Autorin betont, dass Vergessen und Vergeben auf Dauer zusammengehören. Das bedeutet aber nicht, einen „Schlussstrich“ zu ziehen oder „Vergangenheitsbewältigung“ und „Wiedergutmachung“ anzumahnen, sondern es geht um eine „neue Erinnerungskultur“ (S. 48ff). Für sie gelten fünf Gesichtspunkte:
1. Die Einmaligkeit des Holocaust als Menschheitsverbrechen ist wesentlicher Teil der deutschen Geschichte (und Hitler nicht nur ein „Vogelschiss“, wie der AfD-Fraktionsvorsitzende Gauland öffentlich zu sagen wagte,
vgl. FAZ 02.06.2018). Darum muss Erinnerungskultur 2. selbstkritisch sein. Sie kommt 3. nicht ohne historisch-kritische Forschung aus. Dazu gehört auch 4. die Zeugenschaft, insbesondere die Stimmen der Opfer zu Gehör zu bringen, wo es keine Dokumentationen und Archive gibt (z.B. in der Geschichte des Kolonialismus oder der Sklaverei). Und schließlich geht es 5. in der neuen Erinnerungskultur nicht ohne Dialog. „In der EU existieren die nationalen Gedächtnisse aber nicht mehr in Isolation, sondern sind mit denen der Nachbarn untrennbar verbunden. Der politische und kulturelle Rahmen der EU hat schon viel bewirkt, um die nationalen Erinnerungen hellhöriger und poröser für die eigene Schuld und das Leid der anderen zu machen“ (S. 52).
Also nicht „Schlussstrich“ heißt die Devise einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur, sondern Trennungsstrich, den politische Bildung in intensiver Bewusstwerdung des Vergangenen leisten sollte.
4. Lehre: Die Wiederentdeckung der Menschenrechte
Aleida Assmann wertet es hoffnungsvoll, dass das Thema Menschenrechte nach 1945 wieder einen großen Stellenwert in der Weltgesellschaft gewann und auch nationalstaatliche Einengungen überwunden wurden. Gerade in Diktaturen werden so Bürgerrechtsbewegungen automatisch zu Menschenrechtsbewegungen (S. 59). Das gilt für (Mittel-)Osteuropa und Lateinamerika gleichermaßen. Ein weiterer Anstoß sind die verstärkten Fluchtbewegungen aus den Kriegsgebieten, aus den Hungerzonen und aus Regionen, in denen Menschen durch die klimatischen Zuspitzungen keine Lebensmöglichkeit mehr haben. Damit sind Menschenrechte zugleich Menschenpflichten für ein würdiges Zusammenleben.
Vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenpflichten
Im 2. Teil ihres Buches nimmt Aleida Assmann darum „Fallbeispiele“ auf, die ihre Hoffnungen konkretisieren, und zwar „geordnet“ in der Reihe ihrer vier Lehren: Darum kommen hier zur Sprache: der 8./9. Mai 1945, der 1. Weltkrieg, der 2. Weltkrieg und das Ende der NS-Diktatur 1945, 1989 das Ende der SED-Diktatur, 1936-1939: der spanische Bürgerkrieg, 1968 die Studentenrevolution und die Aufarbeitung der NS-Diktatur, die deutschen Fluchtgeschichten und die Folge-Entwicklungen. Es sind Ereignisse, die die gesellschaftliche, politische und kulturelle Zukunft Europas in den letzten 100 Jahren wesentlich geprägt haben und gemeinsamer Anstrengungen über regionale und nationale Grenzen hinaus zur Schlüsselaufgabe für eine friedvolle Zukunft machen.
Aleida Assmanns Epilog kann als Bilanz verstanden werden: Die 4 Lehren aus der Geschichte sind Markierungspunkte: Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit, wahrhaftige Erinnerungskultur und Menschenrechte. Diese betont sie gerade angesichts der gegenwärtigen Konflikt-Entwicklungen, des zunehmenden und beunruhigend öffentlich akzeptierten Rechtsextremismus und einer sich wieder verstärkender Ost-West-Spannung. Mit ihren kritisch-historischen Rückblicken und Thesen zur Geschichte und Zukunft Europas hofft die Autorin, dass im Horizont des europäischen Traums eines gemeinsamen Lebensraumes für die Generationen seit 1945 notwendige Lehren aus der Geschichte gezogen werden: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte sind im Sinne eines aufgeklärten Humanismus die unwiderrufliche Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben über bisherige Abgrenzungen hinweg. Die Autorin nimmt dazu ein Zitat von Georges Bernanos auf, das faktisch der Aufruf ist, gegen alle Gehörverhärtung deutlich zu machen, was Feindschaft anrichten kann. „Die Zukunft gehört nicht den Toten, sondern denen, die von den Toten sprechen und erklären, warum sie gestorben sind“ (S. 190).
Wem die friedvolle Völkervielfalt in einem gemeinsamen Europas am Herzen liegt, wer Völkerfreundschaften als Chance für sich weiter verbreitende Humanität ansieht, wird dieses Buch gern weiter empfehlen.

Vgl. den Beitrag „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“. Europa üben …:
https://religiositaet.blogspot.com/2017/04/orient-und-okzident-sind-nicht-mehr-zu.html
Die Völkermühle Europas – Carl Zuckmayers Plädoyer für kulturelle Vielfalt:
https://textmaterial.blogspot.com/2015/02/volkermuhle-europas-zuckmayers-pladoyer.html

Zusammenfassung
Die Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ist angesichts vieler Erosionstendenzen in Europa zutiefst beunruhigt. Darum sind Orientierungen nötig, damit der europäische Hoffnungstraum nicht verloren geht, sondern realistischen Boden gewinnen kann. Das geht nicht ohne eine neue Erinnerungskultur. Darum formuliert sie Vier Lehren aus der Geschichte“ als Markierungspunkte: Friedenssicherung, Rechtsstaatlichkeit, wahrhaftig-kritische Erinnerungskultur und Menschenrechte. Diese sind zugleich ethisch-soziale Verpflichtungen angesichts der gegenwärtigen weltweiten Konflikt-Entwicklungen und (nationaler) Abgrenzungstendenzen. Mit ihren kritisch-historischen Rückblicken und Thesen zur Geschichte und Zukunft Europas hofft die Autorin, dass im Horizont des europäischen Traums für die Generationen seit 1945 notwendige Lehren aus der Geschichte gezogen werden: Denn Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind im Sinne eines aufgeklärten Humanismus die unwiderrufliche Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben. Gegen alle politische Verhärtungen hat nämlich die Geschichte nicht nur gezeigt, welche Katastrophen Feindschaft erzeugen, sondern auch, welche Freiheit und welcher Lebensreichtum durch Freundschaften über geistige und geografische Grenzen hinweg möglich werden.
Damit der Traum für eine gemeinsam-friedvolle Völkervielfalt nicht nur in Europa bleibende Realität werden kann, ist eine weitsichtige Menschlichkeit jedes/jeder Einzelnen sowie der politisch Verantwortlichen dringend gefordert.

English Summary
The Anglicist, Egyptologist and cultural scientist Aleida Assmann is deeply disturbed by many trends of erosion in Europe. Therefore, orientations are needed so that the European dream of hope doesn’t disappear, but can find realistic ground. This cannot be done without a new culture of remembrance. That is why the author formulates "four lessons of history" as landmarks: peacekeeping, the rule of law, a truly critical culture of remembrance and human rights. These are at the same time ethical-social obligations in the face of the current global conflict developments and (national) demarcation lines. With her critical-historical retrospectives and her theses on the history and future of Europe, the author hopes that necessary lessons are drawn from history in the horizon of the European vision for the generations since 1945. Therefore freedom, democracy, and human rights are the irrevocable basis for a peaceful coexistence – in the sense of an enlightened humanism. Against all political hardenings the history has shown not only which catastrophes generate enmity, but also what freedom and what wealth of life through friendships are possible across spiritual and geographical frontiers.
In order that the dream of a mutually-peaceful diversity of peoples will become not only in Europe a lasting reality, a far-sighted humanity of the individual as well as of the political leaders is urgently required.
Résumé français
La angliciste, égyptologue et scientifique culturelle Aleida Assmann est profondément perturbée par les nombreuses tendances de l'érosion en Europe. Par conséquent, des orientations sont nécessaires pour que le rêve d'espoir européen ne soit pas perdu, mais gagne du terrain réaliste. Cela ne marche pas sans une nouvelle culture du souvenir. C'est pourquoi elle formule "quatre leçons d'histoire" comme points de repère: la garantie de la paix, l’État du droit, une culture véritablement critique de la mémoire et les droits de l'homme. Ce sont à la fois des obligations éthiques et sociales face aux développements actuels des conflits mondiaux et aux tendances des démarcations (nationales). Avec ses rétrospectives historico-critiques et ses thèses sur l'histoire et l'avenir de l'Europe, l'auteure espère que dans l'horizon du rêve européen des leçons nécessaires soient tirées de l'histoire des générations depuis 1945. Car la liberté, la démocratie et les droits de l'homme sont la base irrévocable d'une coexistence pacifique au sens d'un humanisme des Lumières. Contre tous les durcissements politiques l’histoire a montré non seulement quelles catastrophes l’hostilité a produit, mais aussi quelle liberté et quelle richesse de vie deviennent possible grâce aux amitiés qui franchissent des frontières mentales et géographiques.
Pour que le rêve d'une diversité des peuples – mutuellement pacifique – devienne une réalité à demeure non seulement en Europe, une humanité clairvoyante est indispensable pour l’individu et aussi pour les responsables politiques.

Reinhard Kirste

Rz-Assmann-Aleida-Europa, 30.11.2018 



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