Buch des Monats Dezember 2018
Aleida Assmann:
Der europäische Traum.
Vier Lehren aus der Geschichte.
München: C.H. Beck
2018, 208 S., Personenregister -
--- ISBN 978-3-406-73380-2 ---
- Zusammenfassung am Schluss der Besprechung
- English summary at the end of the review
- Résumé français au bout du compte rendu
Das hat die Kulturwisssenschaftlerin Aleida Assmann (geb. 1947) mit diesen Buch getan.
Sie fragt darum
zuerst, ob man aus der Geschichte lernen kann. Viele sind nämlich anderer
Meinung. Ihre These lautet, „dass aus der verheerenden Geschichte nach dem
Zweiten Weltkrieg tatsächlich auch Lehren gezogen wurden und die EU als Produkt
dieses Lernprozesses zu verstehen ist“ (S. 12). Darum müssen die Veränderungen
seit dem Zerfall der Sowjetunion für den europäischen Staatenbund neu
durchdacht werden.
Angesichts vieler
Erosionstendenzen sind darum Orientierungen nötig, damit der Hoffnungstraum von
Europa nicht verloren geht, sondern realistischen Boden gewinnt. Darum zieht
Aleida Assmann im 1. Teil des Buches
„Vier Lehren aus der Geschichte“. So wird Erinnerungskultur zur
Zukunftsaufgabe.
1. Lehre: Friedenssicherung – Wie aus
Erzfeinden kooperierende Nachbarn werden
Europa kann sich
glücklich schätzen, weil es im Raum der heutigen europäischen Union seit über
70 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hat. Der Verzicht auf Rache, man denke nur
an die Erzfeinde Deutschland – Frankreich, ist tatsächlich Vergangenheit. Der
Rezensent kann hier bestätigen, wie bereits im den 50er Jahren über das
Deutsch-Französische Jugendwerk ein Freundschaftsprojekt aufgebaut wurde, das
dem politischen Willen von Charles de Gaulles und Konrad Adenauer entsprang.
Nicht zu vergessen sei aber auch neben der Ostdenkschrift der EKD der Kniefall
Willy Brandts vor dem Mahnmal in Warschau, das an den Aufstand im jüdischen
Ghetto erinnert. Die Städtefreundschaft zwischen Dresden und Coventry ist ein
weiteres Zeichen solchen Versöhnungswillens. Diese und weitere Beispiele europäischer
Geschichte sind als Er-Mahnung in Zeiten der Krise besonders wichtig, damit
nicht diese Friedens-Errungenschaften antidemokratisch und rechtspopulistisch
verspielt werden.
2. Lehre: Die (Wieder-)Herstellung von
Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau von Diktaturen in Demokratien
Nationalstaatliche
Egoismen und Dominanzansprüche wie „America first“, das Ausspielen der
Opferrolle, die Betonung der Heldenperspektive, das Verdrängen von Schuld und das
Sich-Verweigern von geschichtlicher Verantwortung sind auf Dauer gefährliche Aushöhlungen
von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit / Schwesterlichkeit. Aleida Assmann
zieht darum als herausragendes Beispiel die von den Siegermächten
durchgeführten Nürnberger Prozesse 1945 heran. Hier wurden in demokratischer
Antwort auf den Holocaust Verbrechen gegen die Menschlichkeit in ersten
Schritten aufgearbeitet. „Es war tatsächlich das erste Mal in der Geschichte,
dass die Sieger den Besiegten eines Staates den Prozess machten. Dieser Prozess
wurde zum Vorbild für den 1998 gegründeten Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag, der seit 2002 Fälle behandelt in denen eine nationale Strafverfolgung
nicht möglich oder staatlich nicht gewollt ist“ (S. 31).
3. Lehre: Historische Wahrheit und der Aufbau
einer deutschen Erinnerungskultur
Erinnerung
muss keineswegs nur heilsam sein, sie kann auch Hass schüren. Aber die Autorin betont,
dass Vergessen und Vergeben auf Dauer zusammengehören. Das bedeutet aber nicht,
einen „Schlussstrich“ zu ziehen oder „Vergangenheitsbewältigung“ und
„Wiedergutmachung“ anzumahnen, sondern es geht um eine „neue Erinnerungskultur“
(S. 48ff). Für sie gelten fünf Gesichtspunkte:
1. Die
Einmaligkeit des Holocaust als Menschheitsverbrechen ist wesentlicher Teil der
deutschen Geschichte (und Hitler nicht nur ein „Vogelschiss“, wie der AfD-Fraktionsvorsitzende
Gauland öffentlich zu sagen wagte,
vgl. FAZ 02.06.2018). Darum muss Erinnerungskultur 2. selbstkritisch sein. Sie kommt 3. nicht ohne historisch-kritische Forschung aus. Dazu gehört auch 4. die Zeugenschaft, insbesondere die Stimmen der Opfer zu Gehör zu bringen, wo es keine Dokumentationen und Archive gibt (z.B. in der Geschichte des Kolonialismus oder der Sklaverei). Und schließlich geht es 5. in der neuen Erinnerungskultur nicht ohne Dialog. „In der EU existieren die nationalen Gedächtnisse aber nicht mehr in Isolation, sondern sind mit denen der Nachbarn untrennbar verbunden. Der politische und kulturelle Rahmen der EU hat schon viel bewirkt, um die nationalen Erinnerungen hellhöriger und poröser für die eigene Schuld und das Leid der anderen zu machen“ (S. 52).
vgl. FAZ 02.06.2018). Darum muss Erinnerungskultur 2. selbstkritisch sein. Sie kommt 3. nicht ohne historisch-kritische Forschung aus. Dazu gehört auch 4. die Zeugenschaft, insbesondere die Stimmen der Opfer zu Gehör zu bringen, wo es keine Dokumentationen und Archive gibt (z.B. in der Geschichte des Kolonialismus oder der Sklaverei). Und schließlich geht es 5. in der neuen Erinnerungskultur nicht ohne Dialog. „In der EU existieren die nationalen Gedächtnisse aber nicht mehr in Isolation, sondern sind mit denen der Nachbarn untrennbar verbunden. Der politische und kulturelle Rahmen der EU hat schon viel bewirkt, um die nationalen Erinnerungen hellhöriger und poröser für die eigene Schuld und das Leid der anderen zu machen“ (S. 52).
Also nicht „Schlussstrich“
heißt die Devise einer zukunftsorientierten Erinnerungskultur, sondern
Trennungsstrich, den politische Bildung in intensiver Bewusstwerdung des
Vergangenen leisten sollte.
4. Lehre: Die Wiederentdeckung der
Menschenrechte
Aleida Assmann wertet es
hoffnungsvoll, dass das Thema Menschenrechte nach 1945 wieder einen großen
Stellenwert in der Weltgesellschaft gewann und auch nationalstaatliche
Einengungen überwunden wurden. Gerade in Diktaturen werden so Bürgerrechtsbewegungen
automatisch zu Menschenrechtsbewegungen (S. 59). Das gilt für (Mittel-)Osteuropa
und Lateinamerika gleichermaßen. Ein weiterer Anstoß sind die verstärkten
Fluchtbewegungen aus den Kriegsgebieten, aus den Hungerzonen und aus Regionen,
in denen Menschen durch die klimatischen Zuspitzungen keine Lebensmöglichkeit
mehr haben. Damit sind Menschenrechte zugleich Menschenpflichten für ein
würdiges Zusammenleben.
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenpflichten
Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenpflichten
Im 2. Teil ihres Buches nimmt Aleida
Assmann darum „Fallbeispiele“ auf, die ihre Hoffnungen konkretisieren, und zwar
„geordnet“ in der Reihe ihrer vier Lehren: Darum kommen hier zur Sprache: der
8./9. Mai 1945, der 1. Weltkrieg, der 2. Weltkrieg und das Ende der NS-Diktatur
1945, 1989 das Ende der SED-Diktatur, 1936-1939: der spanische Bürgerkrieg, 1968
die Studentenrevolution und die Aufarbeitung der NS-Diktatur, die deutschen
Fluchtgeschichten und die Folge-Entwicklungen. Es sind Ereignisse, die die
gesellschaftliche, politische und kulturelle Zukunft Europas in den letzten 100
Jahren wesentlich geprägt haben und gemeinsamer Anstrengungen über regionale
und nationale Grenzen hinaus zur Schlüsselaufgabe für eine friedvolle Zukunft
machen.
Aleida Assmanns Epilog kann als Bilanz verstanden werden: Die
4 Lehren aus der Geschichte sind Markierungspunkte: Friedenssicherung,
Rechtsstaatlichkeit, wahrhaftige Erinnerungskultur und Menschenrechte. Diese
betont sie gerade angesichts der gegenwärtigen Konflikt-Entwicklungen, des zunehmenden
und beunruhigend öffentlich akzeptierten Rechtsextremismus und einer sich
wieder verstärkender Ost-West-Spannung. Mit ihren kritisch-historischen
Rückblicken und Thesen zur Geschichte und Zukunft Europas hofft die Autorin,
dass im Horizont des europäischen Traums eines gemeinsamen Lebensraumes für die
Generationen seit 1945 notwendige Lehren aus der Geschichte gezogen werden:
Freiheit, Demokratie, Menschenrechte sind im Sinne eines aufgeklärten
Humanismus die unwiderrufliche Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben über
bisherige Abgrenzungen hinweg. Die Autorin nimmt dazu ein Zitat von Georges
Bernanos auf, das faktisch der Aufruf ist, gegen alle Gehörverhärtung deutlich
zu machen, was Feindschaft anrichten kann. „Die Zukunft gehört nicht den Toten,
sondern denen, die von den Toten sprechen und erklären, warum sie gestorben
sind“ (S. 190).
Wem die friedvolle
Völkervielfalt in einem gemeinsamen Europas am Herzen liegt, wer
Völkerfreundschaften als Chance für sich weiter verbreitende Humanität ansieht,
wird dieses Buch gern weiter empfehlen.
Vgl. den Beitrag „Orient und Okzident sind nicht mehr zu
trennen“. Europa üben …:
https://religiositaet.blogspot.com/2017/04/orient-und-okzident-sind-nicht-mehr-zu.html
https://religiositaet.blogspot.com/2017/04/orient-und-okzident-sind-nicht-mehr-zu.html
Die Völkermühle Europas – Carl Zuckmayers
Plädoyer für kulturelle Vielfalt:
https://textmaterial.blogspot.com/2015/02/volkermuhle-europas-zuckmayers-pladoyer.html
https://textmaterial.blogspot.com/2015/02/volkermuhle-europas-zuckmayers-pladoyer.html
Zusammenfassung
Die
Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann ist
angesichts vieler Erosionstendenzen in Europa zutiefst beunruhigt. Darum sind Orientierungen
nötig, damit der europäische Hoffnungstraum nicht verloren geht, sondern
realistischen Boden gewinnen kann. Das geht nicht ohne eine neue
Erinnerungskultur. Darum formuliert sie „Vier
Lehren aus der Geschichte“ als Markierungspunkte: Friedenssicherung,
Rechtsstaatlichkeit, wahrhaftig-kritische Erinnerungskultur und Menschenrechte.
Diese sind zugleich ethisch-soziale Verpflichtungen angesichts der
gegenwärtigen weltweiten Konflikt-Entwicklungen und (nationaler)
Abgrenzungstendenzen. Mit ihren kritisch-historischen Rückblicken und Thesen
zur Geschichte und Zukunft Europas hofft die Autorin, dass im Horizont des
europäischen Traums für die Generationen seit 1945 notwendige Lehren aus der
Geschichte gezogen werden: Denn Freiheit, Demokratie und Menschenrechte sind im
Sinne eines aufgeklärten Humanismus die unwiderrufliche Grundlage für ein
friedvolles Zusammenleben. Gegen alle politische Verhärtungen hat nämlich die
Geschichte nicht nur gezeigt, welche Katastrophen Feindschaft erzeugen, sondern
auch, welche Freiheit und welcher Lebensreichtum durch Freundschaften über
geistige und geografische Grenzen hinweg möglich werden.
Damit
der Traum für eine gemeinsam-friedvolle Völkervielfalt nicht nur in Europa bleibende
Realität werden kann, ist eine weitsichtige Menschlichkeit jedes/jeder
Einzelnen sowie der politisch Verantwortlichen dringend gefordert.
English
Summary
The Anglicist, Egyptologist and cultural scientist Aleida Assmann is deeply disturbed by many trends of erosion in Europe. Therefore, orientations are needed so that the European dream of hope doesn’t disappear, but can find realistic ground. This cannot be done without a new culture of remembrance. That is why the author formulates "four lessons of history" as landmarks: peacekeeping, the rule of law, a truly critical culture of remembrance and human rights. These are at the same time ethical-social obligations in the face of the current global conflict developments and (national) demarcation lines. With her critical-historical retrospectives and her theses on the history and future of Europe, the author hopes that necessary lessons are drawn from history in the horizon of the European vision for the generations since 1945. Therefore freedom, democracy, and human rights are the irrevocable basis for a peaceful coexistence – in the sense of an enlightened humanism. Against all political hardenings the history has shown not only which catastrophes generate enmity, but also what freedom and what wealth of life through friendships are possible across spiritual and geographical frontiers.
The Anglicist, Egyptologist and cultural scientist Aleida Assmann is deeply disturbed by many trends of erosion in Europe. Therefore, orientations are needed so that the European dream of hope doesn’t disappear, but can find realistic ground. This cannot be done without a new culture of remembrance. That is why the author formulates "four lessons of history" as landmarks: peacekeeping, the rule of law, a truly critical culture of remembrance and human rights. These are at the same time ethical-social obligations in the face of the current global conflict developments and (national) demarcation lines. With her critical-historical retrospectives and her theses on the history and future of Europe, the author hopes that necessary lessons are drawn from history in the horizon of the European vision for the generations since 1945. Therefore freedom, democracy, and human rights are the irrevocable basis for a peaceful coexistence – in the sense of an enlightened humanism. Against all political hardenings the history has shown not only which catastrophes generate enmity, but also what freedom and what wealth of life through friendships are possible across spiritual and geographical frontiers.
In order that the dream of a mutually-peaceful diversity of peoples will
become not only in Europe a lasting reality, a far-sighted humanity of the
individual as well as of the political leaders is urgently required.
Résumé
français
La angliciste, égyptologue et scientifique culturelle
Aleida Assmann est profondément perturbée par les nombreuses tendances de
l'érosion en Europe. Par conséquent, des orientations sont nécessaires pour que
le rêve d'espoir européen ne soit pas perdu, mais gagne du terrain réaliste.
Cela ne marche pas sans une nouvelle culture du souvenir. C'est pourquoi elle
formule "quatre leçons
d'histoire" comme points de repère: la garantie de la paix, l’État du droit,
une culture véritablement critique de la mémoire et les droits de l'homme. Ce
sont à la fois des obligations éthiques et sociales face aux développements
actuels des conflits mondiaux et aux tendances des démarcations (nationales).
Avec ses rétrospectives historico-critiques et ses thèses sur l'histoire et
l'avenir de l'Europe, l'auteure espère que dans l'horizon du rêve européen des
leçons nécessaires soient tirées de l'histoire des générations depuis 1945. Car
la liberté, la démocratie et les droits de l'homme sont la base irrévocable
d'une coexistence pacifique au sens d'un humanisme des Lumières. Contre tous
les durcissements politiques l’histoire a montré non seulement quelles
catastrophes l’hostilité a produit, mais aussi quelle liberté et quelle
richesse de vie deviennent possible grâce aux amitiés qui franchissent des
frontières mentales et géographiques.
Pour que le rêve d'une diversité des peuples – mutuellement
pacifique – devienne une réalité à demeure non seulement en Europe, une humanité
clairvoyante est indispensable pour l’individu et aussi pour les responsables
politiques.
Reinhard Kirste
Rz-Assmann-Aleida-Europa, 30.11.2018
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