Sonntag, 16. Februar 2020

Aelred von Rievaulx: Spirituelle Freundschaft – Einübung in wahre Mitmenschlichkeit (aktualisiert)


Aelred von Rievaulx: Über spirituelle Freundschaft.
Hg.: Wolfgang Buchmüller OCist,
Übersetzung: Moses Hamm OCist.
St. Ottilien: EOS 2018, 197 S.,
Anhang mit Bibliografien und Personenregister
--- ISBN 978-3-8306-7876-2 ---
InterReligiöse Bibliothek (IRB):
Buch des Monats März 2019
  • English summary at the end of the review
  • Résumé français au bout du compte rendu

Einen mittelalterlichen Text zu vergegenwärtigen, bringt immer gewisse Verständnisprobleme mit sich. Denn die Spiritualität „von damals“ lässt sich nicht einfach „heutig“ verstehen. Dennoch gibt es anthropologische Grundmuster des Lebens, die auch heute zum Nachdenken anregen. Das gilt auch beim Thema „Freundschaft“. Nun spricht der Autor des vorliegenden Buches, der Zisterzienserabt Aelred von Rievaulx (1110–1167), im Stile antik-mittelalterlicher Dialoge von geistlicher Freundschaft (de spirituali amicitia), die er in den Zusammenhang weltlicher Erfahrungen der Zeit einbindet. Die leicht zu lesende Neuübersetzung des lateinischen Textes und die Kommentare haben Mönche der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz bei Wien erarbeitet. Der Herausgeber, Wolfgang Buchmüller, ist übrigens seit kurzem Rektor der zum Kloster gehörenden Theologisch-Philosophischen Hochschule.
Zum besseren Verständnis haben die Herausgeber in einer ausführlichen Einleitung (S. 11–26) neben grundsätzlichen Fragen zu einem mittelalterlichen Lehrdialog auch ausführlich die biografischen Linien und den theologisch-mystischen Horizont im Denken Aelreds vorgelegt.
Biografische Linien (S. 26–59)
Aelred (1110–1167), Zeitgenosse des berühmten Erzbischofs Thomas Becket (1118–1170), wurde als Sohn eines Priesters in einer politisch unruhigen Zeit – auch kirchlicher Umbrüche – nahe der Grenze zu Schottland in einer renommierten Familie geboren. Er war der Sohn eines Priesters. Das war zu jener Zeit noch kirchenrechtlich möglich, stand aber bereits heftig zur Debatte. Seine Erziehung erhielt er durch die Benediktiner in Durham. Vor seiner Mönchszeit spielte er eine wichtige politische Rolle zwischen England und Schottland und anstehenden Kirchenreformen. So war Aelred – lebensfroh, aber auch von inneren Krisen bewegt – schon als junger Mann der höchste Hofbeamte (Palastmarschall) und Finanzverwalter des schottischen Königs David I. und unternahm für ihn auch diplomatische Aufträge.
Auf einer dieser Reisen zum Erzbischof von York
kam er in das 
 
Zisterzienserkloster
Rievaulx
 (Yorkshire).  
Rievaulx Abbey (Wikipedia.en)
Dort war er vom Leben der Mönche so fasziniert, dass dies für ihn zu einem Lebensumschwung führte. Er wurde mit 24 Jahren Novize, kümmerte sich aber sehr bald bereits um die gesamten Finanzen des Klosters. Nach kurzer Zeit als Novizenmeister wurde er 1141 zum Abt des neugegründeten Kloster Revesby gewählt und 1147 Abt des bedeutenden Mutterklosters, der Abtei Rievaulx. Seine Wirkung auf das Klosterleben bereits in der ersten Entwicklungsphase des Zisterziensererordens war beeindruckend, denn allein die Zahl der Mönche nahm in dieser Zeit beträchtlich zu. Mehr noch: von 1128 (Gründung der Waverley Abbey) bis 1153 wurden auf den britischen Inseln 58 Abteien gegründet, deren Zahl auch nach dem Tod Aelreds weiter wuchs. Aber Aelred wurde nicht nur Organisator und Ökonom im Mönchsgewand der Bescheidenheit, sondern ein meisterhafter Prediger und theologischer Schriftsteller.
Davon zeugen in besonderer Weise neben den etwa 200 erhaltenen Predigten u.a. 

das speculum caritatis (= Spiegel der Liebe, nach 1141) und das „Alterswerk“ de spirituali amicitia (= Über spirituelle Freundschaft, 1164 und später. vgl. die Auflistung seiner Werke im Literaturverzeichnis S. 181f).

Aelred war so berühmt, dass er schon 1191 heiliggesprochen wurde. Für das Verstehen der monastischen Mystik haben seine Werke eine wichtige Schlüsselfunktion. Denn an ihm werden die Zusammenhänge zisterziensischer Spiritualität mit dem Neuplatonismus, der klassisch griechisch-römischen Bildung und der mystischer Gottesnähe besonders deutlich.
Die Herausgeber bringen dies im Blick auf die von Aelred offiziell erarbeitete Vita auf den interkulturellen Punkt: „Aelreds Aufgabe bestand darin, die Errungenschaften der Renaissance der Lateinischen Literatur in einen christlichen Kontext zu integrieren und in Auseinandersetzung mit der meisterlich gehandhabten Methodik der Allegorese das Leben der heiliggesprochenen angelsächsischen Herrscherpersönlichkeit Edwards I. aus der Perspektive der Bibel als ein zeitloses Vorbild herauszustellen. Dementsprechend ist König Edward kein neuer Platon, sondern ein neuer Salomon …“ (S. 34).
In den philosophisch-theologischen Zugängen zum Text werden diese anthropologischen Hintergründe im Blick auf die Freundschaft mit Gott (S. 82) – auch in der Spannung zu Augustin – weiter erläutert. Schließlich wird an die beachtlichen Nachwirkungen seiner Werke und an die Vielfalt von Aelred-Editionen erinnert (S. 59–85). Nach diesem orientierenden „Vorlauf“ folgt die Übersetzung des lateinischen Textes ins Deutsche.
Der Inhalt der Dialoge mit mehreren Gesprächspartnern (S. 87–178):
1.  Der Zusammenhang von Freundschaft und Liebe:
Im Gespräch zwischen Aelred und seinem Freund Ivo von Wardon wirkt die Aussage Ciceros als kontinuierlches Leitmotiv: „Freundschaft ist die mit Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in menschlichen und göttlichen Dingen“ (S. 94). So gehört neben der Verschwiegenheit und der Empathie auch dazu, die Fehler des Freundes sorgsam zu bessern. Anders dagegen ist die weltlich gesinnte und durch Gier geprägte Freundschaft, bei der es höchstens zu einer „Win-Win-Situation“ kommen kann.
Aber Aelred geht noch weiter: Das Gesetz der Liebe darf nicht auf die uns sympathischen Menschen beschränkt bleiben, sondern nötigt dazu, auch die Feinde durch Liebe zu Freunden zu machen.
2.  Die Wirkungen der Freundschaft:
Freundschaft – im Rahmen der Dreiteilung fleischlich, weltlich, spirituell – bedenken Aelred, der Ältere und Walter (= Daniel Walter, der Biograf Aelreds) und der Mönch Gratian, die beiden jüngeren Klosterbrüder, unter verschiedenen Aspekten. Schon die weltliche Freundschaft in Richtung auf die spirituelle Ebene zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sie völliges Vertrauen ermöglicht. Dann kann man sogar eigene – auch gravierende Fehler und Schwächen dem Freund offenlegen, ohne von ihm Überheblichkeit oder Missachtung fürchten zu müssen. Kritik und Lob des Freundes sind deshalb von Herzen und ohne Hintergedanken. Aber es gehört zur Liebe auch die Sorge um den anderen. Sie ist zugleich verbunden mit Arbeit für den anderen. Wenn das der Apostel Paulus nicht getan hätte, wäre für ihn wohl manches leichter gewesen (S. 124f). Die wahre Freundschaft ist eine Herzenszuneigung – auch mehr als eine Jugendfreundschaft, in die sich viele – nicht selten Gefühle des Sturm und Drang mischen.
Man kann hier durchaus an Schillers Gedicht „Die Freundschaft“ denken …

>>> 
Das gesamte Gedicht: hier (
Friedrich Schiller-Archiv Marbach)

Wichtig ist für Aelred, dass dieses anthropologische Muster der Freundschaft auf Gott übertragen wird. Hier wird auch die biblische Basis für sein Denken deutlich. Denn neben der beispielhaften Freundschaft von David und Jonathan
(1. Samuel 28 bis 2. Könige 1) steht die Äußerung Jesu im Mittelpunkt: Johannes 15,13–15: Jesus bezeichnet seine Jünger als Freunde. Und die Liebe zeigt sich dort am größten, wo man sogar sein Leben für die Freunde hingibt. Nur seine Seele, d.h. seinen innersten Wesenskern darf man nicht für die Freundschaft opfern.
3. Auf dem Weg zur vollkommenen Freundschaft:
Die drei Mönchsfreunde des 2. Abschnitts  machen sich hier klar, dass Freundschaft keine zeitlich begrenzte Lebensphase sein kann, und zwar allein schon deshalb, weil die Basis der Freundschaft die Liebe ist, und zwar eine von Gott geprägte und sich an Gott orientierende Liebe. Wie verschieden auch Freunde als Personen sein mögen, es verbindet sie etwas Gemeinsames: den Mut, nach reiflicher Prüfung ganz bewusst auf den Anderen sich einzulassen. Das ist der Weg zur vollkommenen Freundschaft, die Aelred in vier Schritten beschreibt:
  1. Mit wankelmütigen, unberechenbaren, oberflächlichen und aufbrausenden Menschen lassen sich keine wahren Freundschaften schließen, denn dazu sind Liebe, Verlässlichkeit und Vertrautheit nötig.
  2. Freundschaft wird also dadurch erprobt, dass die gemeinsame Suche nach dem Guten im Horizont Gottes geschieht, d.h. dass man sich zugleich verantwortlich vor Gott sieht. Diese vier Eigenschaften treten dabei besonders hervor: „Wertschätzung und Zuneigung, Verlässlichkeit und Liebenswürdigkeit“ (S. 146).
  3. So zeigt sich beim Wachsen einer Freundschaft eine grundsätzliche Akzeptanz, eine Wahr-Nehmung des anderen,
    die aber nichts mit blinder Liebe zu tun hat.
  4. Schließlich kommt es beim Wachsen einer Freundschaft zu einer völligen Gemeinsamkeit und innerer Übereinstimmung im Blick auf die Welt und im Blick auf Gott. Diese Haltung äußert sich in  einer generell wohlwollenden Sichtweise.
Wie dieser Weg zur vollkommenen Freundschaft aussehen kann, beschreibt Aelred auch an Beispielen aus seinem Leben, so dass seine grundsätzlichen – immer wieder an Cicero und Seneca orientierten und geschulten – Äußerungen deutlich machen, dass „spirituelle Freundschaft“ nur in ganz konkreten Lebensbezügen wahrhaftig und authentisch zum Ausdruck kommt, nämlich:
  • füreinander da zu sein „ohne Wenn und Aber“, 
  •  zu einer gemeinsamen Meinung zu finden
  •  im Gebet füreinander sich auf das Wahrwerden der Hoffnung einzulassen, dass Gott alles in allem ist.

Resümee: Spirituelle Freundschaft – Einübung in wahre Mitmenschlichkeit
Aelreds Gespräche über die spirituelle Freundschaft sind mehr als allgemein religiöse oder zeitbedingte Überlegungen. Das hängt damit zusammen, dass der philosophisch gebildete Mönch die antiken Grundverständnisse besonders von Plato, Aristoteles, Cicero und Seneca positiv aufnimmt. Die wahre Freundschaft geht über Sachinteressen und gemeinsame Vergnügungen weit hinaus. Sie ist gegenseitige Lebensbegleitung auf der Basis einer höheren Ethik der Mitmenschlichkeit. Aelred gelingt es, dieses vertiefte Verständnis von Freundschaft im Sinne eines christlichen Humanismus zu erweitern. Das heißt, dass die Kraft der göttlichen Liebe wahre Menschlichkeit erzeugt und so Egoismen und Mängel in den Freundschaften reinigen kann. So führt die Freundschaft als tragende Kraft menschlicher Beziehung hin zu Gott, so wie dies Jesus mit seinen Freunden, den Jüngern, vorgelebt hat. Aelred – in der mittelalterlichen mystischen Tradition spiritueller Freundschaft stehend – hat besonders deutlich gezeigt, wie Freunde zu „Gottesfreunden“ werden können. Eine solche Freundschaft im Horizont Gottes ist ein Geschenk für das Leben. Diese Gedanken sind gerade in einer Zeit wachsender Eigeninteressen und der Jagd nach Erfolgen besonders wichtig. Von daher kann dieser mittelalterliche Text „de spirituali amicitia“ durchaus als sinnvolles Vademecum für die heutige Einübung in wahre Menschlichkeit dienen.

English Summary: Spiritual friendship – practice into true compassion
Aelred's conversations about spiritual friendship are more than general religious considerations or conditioned by the time. This is due to the fact that the philosophically educated monk absorbs the ancient basic understandings in a positive manner, especially from Plato, Aristotle, Cicero and Seneca. True friendship goes far beyond interests and common pleasures. It is a mutual life support based on a higher ethic of humanity. Aelred succeeds in broadening this deeper understanding of friendship in the sense of a Christian humanism. This means that the power of divine love can create true humanity and thus cleanse egoisms and deficiencies in friendships. Thus, friendship, as a sustaining power of human relationship, leads to God, just as Jesus lived with his friends, the disciples. Aelred – standing in the medieval mystical tradition of spiritual friendship – has shown especially clearly how friends can become "friends of God". Such a friendship in the horizon of God is a gift for life. These thoughts are especially important in a time of growing self-interest and hunts for success. Therefore, this medieval text "de spirituali amicitia" can certainly serve as a useful vademecum for today's practice in true humanity.

Résumé français: Amitié spirituelle – entrâinement dans la vraie compassion
Les conversations d'Aelred sur l'amitié spirituelle sont plus que des considérations communement religieuses ou condtionnées par le temps. Cela est dû au fait que le moine éduqué philosophiquement absorbe l’intelligence antique principale d’une manière positive, en particulier de la part de Platon, Aristote, Cicéron et Sénèque. La véritable amitié va bien au-delà des intérêts et des plaisirs communs. C'est un convoyage mutuel d’une vie basé sur une éthique supérieure d'humanité. Aelred réussit à élargir cette compréhension plus profonde de l'amitié dans le sens d'un humanisme chrétien. Cela signifie que le pouvoir de l'amour divin peut créer une véritable humanité et ainsi purifier les égoïsmes et les défaillances de l’amitié. Ainsi, l’amitié comme puissance persévérante des relations humaines, mène à Dieu, c’est à dire comme Jésus a vécu avec ses amis, les disciples. Aelred – dans la tradition mystique médiévale de l'amitié spirituelle – a clairement montré comment des amis peuvent devenir des "amis de Dieu". Une telle amitié à l'horizon de Dieu est un cadeau pour la vie. Ces réflexions sont particulièrement importantes pour une époque des intérêts personnels croissants et de la chasse vers le succès. Par conséquent, ce texte médiéval "de spirituali amicitia" peut certainement servir de vademecum utile pour la pratique actuelle d’une véritable humanité.

Vgl. auch

Reinhard Kirste

Rz-Aelred-Freundschaft, 28.02.2019, aktualisiert: 16.02.2020




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