Donnerstag, 4. April 2019

Markus Walther: Zeit und Ewigkeit - Meister Eckhart und al-Ghazali im Vergleich (aktualisiert)


Markus Walther: Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen zwischen Philosophie, Theologie und Mystik.
Eine vergleichende Fallstudie
zu Christentum und Islam
anhand der Texte von Meister Eckhart und al-Gazali
.

Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften. Reihe Philosophie, Bd. 594.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, 584 S. (zugleich Diss. Universität Frankfurt/M. 2016)
--- ISBN 978-3-8260-6255-1 ---

  • English summary
    at the end of the review
  • Résumé français
    au bout du compte rendu

Der Autor Markus Walther kommt aus dem Umfeld interkulturell-sozialer Arbeit. Er promovierte mit der vorliegenden Arbeit im Fach Religionsphilosophie an der 
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/M.
Die Intention dieser umfassenden Arbeit ist vergleichend im Blick auf zwei bedeutende Theologen, Philosophen und Mystiker des Mittelalters angelegt: Der berühmte Dominikaner Meister Eckhart / Eckhart von Hochheim (um 1260–1328) auf christlicher Seite und der nicht minder bedeutende persische Denker
Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī
  (1058–1111).
Beide Persönlichkeiten haben in ihr Glaubens- und Lebensverständnis starke Impulse aus der griechischen Philosophie übernommen. Ihre Spiritualität ist zugleich (unterschiedlich) mystisch geprägt. Beide haben die Theologie und Philosophie bis heute „crosscultural“ erheblich beeinflusst.


Während Meister Eckhart sich stärker auf die neuplatonischen Tendenzen bezieht, arbeitet al-Ghazali in skeptischer theologischer Zuspitzung die aristotelische Logik auf. Wie weit dieser unterschiedliche Ansatz in den Denkkonzeptionen Annäherungen zwischen Al-Ghazali und Meister Eckhart erzeugt, überprüft der Autor nun an den jeweiligen Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen. Diese Analysen müssen gewissermaßen eine dreifache Ebene durchlaufen: philosophisch, theologisch, spirituell-mystisch, und zwar im Horizont der jeweiligen religiösen Traditionen und im Kontext der Auslegungen von Bibel und Koran. Nur so ist eine gewisse Kategorisierung möglich, die eine Gegenüberstellung der beiden Theologen erlaubt. Der Autor prüft darum auch, inwieweit die Denkkonzepte von Meister Eckhart und al-Ghazali sowohl in christlicher als auch islamischer Ausprägung eine universale Ausweitung erfahren haben.
Die umfängliche Dissertation beginnt mit der Erläuterung der Hauptbegriffe, die der Arbeit zugrunde liegen: Zeit, Philosophie, Theologie und Mystik im Kontext der Forschungslage zu Meister Eckhart und Al-Ghazali. Dabei kommen schon bestimmte Lebensumstände der beiden Theologen ins Spiel
(Einleitung, Kap. 1, S. 15-91).
Das Kapitel 2 widmet sich sozialgeschichtlich, politisch und biografisch Meister Eckhart und
al-Ghazali im Horizont ihrer Zeit
.
Wichtig und aufschlussreich sind in diesem Kapitel die Abschnitte über die Quellen und Einflüsse antiker und mittelalterlicher Autoren. Schwerpunktmäßig sind das bei Meister Eckhart neben der Urkunde des Glaubens, der Bibel, Aristoteles, Augustinus und Dionysius Areopagita, die Schule der Dominikaner mit Albertus Magnus, Dietrich von Freiberg und Thomas von Aquin. Dies ist jedoch nur die eine Seite, denn bereits der Bezug zu Dionysius Areopagita zeigt an, dass der Neuplatonismus und mystische Ähnlichkeiten mit der Begine Marguerite Porète den Verständnishorizont Meister Eckharts mitbestimmen.
Etwas anders sieht es bei al-Ghazali aus. Auch bei ihm stehen zunächst der Koran und die Hadithe, also die Auslegungstradition im Vordergrund, dann aber verbunden mit einer konsequenten Aufarbeitung seiner Logik und Syllogistik. So steht al-Ghazali mit Einschränkungen positiv zu Avicenna (um 980–1037) und al-Farabi (um 872–950). Hinzu kommen aber neben der Wertschätzung von Al-Djuwaini (1028–1085) die sufischen Quellen der ash‘aritischen Theologen al-Qusayri (986-1072) sowie Abu Talib al-Makki (?–996). Diese interpretiert er jedoch aristotelisch, um sich bedingt vom Neuplatonismus abzugrenzen. Nur so kann er stärker die (begrenzte) Vernunftorientiertheit der Theologie (kalam) betonen.
Walthers hier ansetzender Vergleich zur teilweisen ähnlichen Quellenbenutzung und Verarbeitung beider Theologen konkretisiert seine anfängliche Vermutung: Die von ihm gesehenen „indirekten Schablonen“ (S. 32) erlauben ihm, sowohl bei dem Zeit- und Ewigkeitsverständnis von Eckhart und al-Ghazali als auch im systematisierenden Vergleich die thematischen Parallelen konsequent herauszuarbeiten.
Nun folgt das entscheidende Kapitel 3 (S. 209-473),
nämlich der Vergleich der Konzepte in Bezug auf
Zeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit.

3.1. Meister Eckhart
betont in seinen Bibelkommentaren immer wieder, „dass das Schaffen Gottes ganz unzeitlich und alles zugleich geschaffen ist und Gottes Ruhe schon im Wirken besteht und nicht zu irgendeinem Zeitpunkt eintritt“ (S. 225). Der Mensch in seiner Zeitlichkeit muss mit negativen Erfahrungen fertig werden. Angesichts dieser Heillosigkeit gibt es aber die Möglichkeit, die eigene Begrenztheit zu überschreiten, in dem der Mensch sich in seinen Seelengrund begibt und damit Gott nahe kommt; und so sind Anfang und Ende im göttlichen „Nun“ umschlossen (S. 287). Mir scheint, dass man im Sinne der Interpretation Walthers in seiner Bilanz zum Zeitverständnis Meister Eckharts durchaus von einer „präsentischen Eschatologie“ reden kann. Diese ist grundlegend auch für Eckharts seelsorgerliche und ethische Praxis.

3.2. al-Ghazali: Nach der Sichtung einzelner Schriften sowohl aus der Frühzeit wie der späteren Epoche hält Walther fest: al-Ghazali bestreitet – kosmologisch argumentierend – dass die Welt schon von Ewigkeit her existiert und auch ewig fortdauern wird. Ursache ist der ewige Gotteswille, darum kommt auch die Vernunft hier an ihre Grenzen und jegliche chaotische Willkürlichkeit im Verlauf des Geschehens entfällt. So lässt sich auch die Ursache der Welt nicht beweisen (S. 319f). Sein Hauptangriffspunkt gegenüber jeglicher neuplatonischer Tendenz ist, dass dort die Seele als eigenständig und unauflöslich angesehen wird. Körper und Seele werden gleichermaßen der Wiederauferstehung zugeführt. Hier sieht al-Ghazali Aristoteles und Avicenna auf seiner Seite. Der Weg zur Glückseligkeit und Vollkommenheit findet darum erst im Jenseits sein Ziel, aber es gibt im Rahmen der Zeitlichkeit und Diesseitigkeit schon fortgeschrittene Stufen (S. 363).
Unter ausführlicher Berücksichtigung  des Werkes Ihya ‘ulum ad-din = Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften = der islamischen Religion (S. 370ff) werden die muslimische Gebetspraxis und die ethischen Folgerungen für das Leben in die (alltäglichen) Zeitabläufe integriert. Letztlich geht alles Tun von dem Einen (Gott) aus und bezieht sich kontinuierlich darauf zurück, aber es findet keine (mystische) Einung mit Gott statt (wie bei vielen christlichen Mystikern), sondern nur „eine Schau des Einen“ (S. 450f). Ohne als Rezensent die Besonderheiten des mystischen Denkens von al-Ghazali an dieser Stelle weiter zu bedenken (S. 448-451), resümiert Walther zugespitzt, „dass von einem ewigen Jetzt wie bei Eckhart oder einer Teilnahme an Gottes Ewigkeit bei al-Gazali expressis verbis nie die Rede ist. Die endgültige Entrückung geschieht erst im Tod, insofern Gott gnädig ist“ (S. 451). 
Damit hebt al-Ghazali anders als Meister Eckhart die eschatologische Komponente in ihrer Zukünftigkeit ausdrücklich hervor.

Spannend wäre hier, wie angesichts einer solchen Haltung die Auseinandersetzung mit Ibn Arabi aussehen würde – gerade auch im Kontext vernunftgemäßer Klarheit und menschlicher Begrenztheit. Spannend auch deshalb, weil nach al-Ghazali der Mensch in seiner Zeitlichkeit einen Reifeprozess durchmacht, der erst durch den Tod im Jenseits der Ewigkeit sich vollendet. Jedoch gibt es Augenblicke ekstatischer „Vorausschau“, die sich auch im Gedenken an den Tod eröffnen und dann doch irgendwie Diesseits und Jenseits in eins fallen lassen.
4./5. Kapitel - Zusammenfassender Vergleich und Ausblick:
Offensichtlich lassen die Positionen Eckharts und al-Ghazalis im Grunde keinen durchgehenden Vergleich zu. So ist man gespannt, wie der Autor die Ambivalenz zwischen mystischem Einheits- oder Annäherungsdenken an das Göttliche im Sinne einer vernunftgemäßen Theologie (kalam) und doch im Augenblick schon erfahrener Einheitsschau auf dieselbe Ebene bringen will. Aristoteles, Plato und die Neuplatoniker verweigern eine einheitliche „Grundierung“. Und Al-Ghazalis Kritik an den Philosophen ändert ja nichts daran, dass er aristotelische Denkmuster benutzt und mystische Erfahrungselemente in das Leben des zu Gott strebenden Menschen einbringt. Gerät man also schon ontologisch beim Vergleich gerade dieser beiden Denker in eine gewisse Verlegenheit, so steigert sich diese noch im Kontext der Schöpfungslehre, der Eschatologie, der religiösen Gesetzlichkeiten und Riten, der Bewertung des irdischen Todes, der göttlichen Vorherbestimmung des Menschen und die Beziehung zum Einen, dem Göttlichen, dem Ewigen. Aber beide Theologen betonen ja die Einheit Gottes: „Die absolute Einheit Gottes bedeutet für beide den Ausschluss jeglicher Ausgedehntheit, Menge, Zahl und Begrenztheit. Das schließt in Konsequenz ein, dass die Zeit … nicht in Gott sein kann, der vielmehr der Ewige bzw. Urewige … ist, der auch in alle Ewigkeit besteht“ (S. 489). Noch leichter wird die Annäherung der beiden auf dem Gebiet der Ethik, geprägt von einer Haltung von Gleichmut (nicht Gleichgültigkeit) und Toleranz, die auch bei al-Ghazali trotz manch dogmatischer Schärfe immer wieder durchschlägt. Und das mystische Bewusstsein zeigt sich bei beiden in einer spirituellen Haltung, die die Begierden zähmt und die Lasten des Lebens loslässt und so in einem neu „definierten“ Verständnis von Zeit, nämlich im Horizont des „Jetzt“, des „Nun“ augenblicklich zum Wesentlichen kommt bzw. sich diesem annähert. Ich bin mir nicht sicher, ob man hier von einem „übersteigernden Entwerden“ der beiden Theologen reden sollte (S. 507.513), weil doch alle Dinge – von Gott kommend – zu ihm zurück wollen.

Resümee: Kosmischer Weitblick und seelische Wahrnehmung Gottes
Markus Walther geht den Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen bei Meister Eckhart und Muhammad al-Ghazali ausführlich nach. Er zeigt, wie sowohl auf der christlichen wie auf der islamischen Seite die antike Philosophie des Aristoteles und Plato die Gedankengänge und ethischen Konsequenzen beider Theologen bestimmt. Diese Prägung verbindet sich mit einer Reihe von mystischen Elementen in Bezug auf die Einheit Gottes. Wenn man auch vermuten darf, dass Meister Eckhart al-Ghazali-Texte gekannt hat, geht er doch in seinem Zeitverständnis wesentlich über eine chronologisch orientierte Eschatologie hinaus. Sie gipfelt in der unio mystica, in der unmittelbaren Verbindung mit Gott, und zwar bereits im Augenblick, im „Nun“, im Bewusstsein des ungeschaffenen göttlichen Seelengrundes. Daraus leiten sich auch Folgerungen für das moralische Handeln ab. Al-Ghazali dagegen weist bei seiner Orientierung der Theologie zuerst die philosophische Vernunft in ihre Grenzen. Er sieht die aristotelische Philosophie als Problem, obwohl seine Kritik an der islamischen Glaubenspraxis das aristotelische Ethik-Verständnis mit einbezieht und Wahrheit auf verschiedenen Wegen gefunden werden kann. Al-Ghazali sieht dann in kosmologischer Weite die Annäherung an Gott und erwartet die Vollendung zukünftig nach dem Tod (von Körper und Seele), wo der Gläubige in der Auferstehung Gott endgültig schauen wird. Eckhart und Ghazali verbindet insgesamt jedoch eine spirituell-mystische Askese des Loslassens, des Entwerdens, wo das „Ich“ keine Rolle mehr spielt und diese Erfahrungen in die moralische Praxis des Glaubens hineinwirken.
Für Markus Walther zeigt sich hier durchaus eine Anregung für den heutigen Menschen, der im Sinne al-Ghazalis mehr kosmische Empfindsamkeit, aber auch eine sensible Wahr-Nehmung des Augenblicks bei der Bewältigung des Alltags durchaus gebrauchen kann. Die Überlegungen zu Zeit und Ewigkeit bei Meister Eckhart und al-Ghazali sind darum mehr als metaphysische Gedankenspiele, sie haben direkt mit der Wirklichkeit des Lebens und einer Hoffnung zu tun, die den Tod überschreitet.


English Summary: Cosmic vision and spiritual perception of God
Markus Walther details the concepts of time and eternity in the works of
Meister Eckhart and Muhammad al-Ghazali.
He shows how, on the Christian as well as on the Islamic side, the ancient philosophy of Aristotle and Plato shapes the threads and ethical consequences of both theologians. This intellectual imprint is associated with a series of mystical elements relating to the unity of God. Although it may be assumed that Meister Eckhart knew al-Ghazali texts, his understanding of time goes far beyond a chronologically oriented eschatology. It culminates in the unio mystica, in the immediate connection with God, already in the moment, in the "now" in the consciousness of the uncreated divine ground of soul. This also leads to conclusions for moral action. Because of  his theological orientation Al-Ghazali, on the other hand, first sets boundaries to the philosophical reason. He sees Aristotle's philosophy as a problem, although his criticism of Muslim practice of faith implies the Aristotelian understanding of ethics and enables that truth can be found in various ways. Al-Ghazali then sees the approach to God in cosmological extent and expects the completion in the future after death (of body and soul), where the believer in the resurrection will finally see God. Overall, however, Eckhart and Ghazali combine a spiritual-mystical asceticism of a release (“Loslassen”), of a “not being any longer (“Entwerden”), where the self (= “I am”) no longer plays any role; and these experiences impacts the moral practice of faith.
For Markus Walther, this certainly provokes a challenge for today's man, who, in the spirit of al-Ghazali, may need more cosmic sensitivity, but also a sensible perception of the moment in coping with everyday’s life. The reflections on time and eternity of Meister Eckhart and al-Ghazali are therefore more than metaphysical-intellectual games, they are directly related to the reality of life and to a hope that transcends death.

Résumé français: Vision cosmique et perception spirituelle de Dieu
Markus Walther explique en détail les concepts de temps et d'éternité dans les œuvres de Maître Eckhart et Muhammad al-Ghazali. Il montre comment, du côté chrétien et du côté musulman, l'ancienne philosophie d'Aristote et de Platon influence le raisonnement et les conséquences éthiques des deux théologiens. Cette marque intellectuelle est associée à une série d'éléments mystiques en référence à l'unité de Dieu. Bien que l'on puisse supposer que Maître Eckhart connaissait les textes d'al-Ghazali, sa compréhension du temps dépasse à loin une eschatologie d’une orientation chronologique. Cela culmine dans l‘union mystique, unio mystica, une connexion immédiate avec Dieu et arrive déjà dans l'instant, dans le “maintenant” (das “Nun”), dans la conscience du divin fond non créé de l'âme. Cela conduit également à des conclusions pour une action morale. Al-Ghazali, au contraire, dans son orientation théologique, dirige d'abord la raison philosophique à ses limites. Il considère la philosophie d'Aristote comme un problème, bien que sa critique de la pratique de la foi en Islam implique la compréhension aristotélicienne de l'éthique et permet, que la vérité puisse être trouvée de différentes manières. Al-Ghazali voit alors l'approche de Dieu dans l'immensité cosmologique et attend son achèvement dans le futur après la mort (du corps et de l'âme), là où le croyant dans la résurrection verra enfin Dieu.
Cependant, dans l'ensemble, Eckhart et Ghazali combinent un ascétisme spirituel-mystique du lâcher-prise (“Loslassen”), d’un non-être plus, où le soi (= “Je suis”) ne joue plus aucun role; et ces expériences induisent la pratique morale de la foi.
Pour Markus Walther, cela provoque certainement un enjeu chez l'homme d'aujourd'hui, qui,
dans le sense d'Al Ghazali, a besoin d'une plus grande sensibilité cosmique, mais aussi d'une perception sensible du moment pour faire face à la vie quotidienne.
Les réflexions sur le temps et l’éternité chez Meister Eckhart et al-Ghazali sont donc plus que des jeux d’idées métaphysiques, ils sont directement liés à la réalité de la vie et à un espoir qui transcende la mort.

Reinhard Kirste



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