Amartya Sen: Die Welt teilen.
Sechs Lektionen über Gerechtigkeit
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Hagestedt, Sabine Reinhardus und Heike Schlatterer
München: C.H. Beck 2020, 128 S.
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Die Aufsätze in diesem Band erschienen zuerst in The Little Magazine und danach in Buchform unter dem Titel «The country of first boys and other essays», herausgegeben von Antara Dev Sen und Pratik Kanjilal, bei Oxford University Press.
Der nach dem Zweiten Weltkrieg von Verlegern eingerichtete
Friedenspreises des deutschen Buchhandels
war als Wiedergutmachung an der
Welt gedacht. 2020 entschied sich der
Stiftungsrat des Friedenspreises des deutschen Buchhandels für Sen: Er stelle
nach wie vor das Wohlergehen der Menschen als Grundvoraussetzung für Frieden
ins Zentrum seines Denkens. Anlässlich
der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sind nun Schriften
Sens neu veröffentlicht worden. Biografie: Amartya
Sen, geb. in Santiniketan, Indien, ist Professor in Harvard und war Master des
Trinity College in Cambridge. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie und
im November 2007 den Meister-Eckhart-Preis. Er engagiert sich seit Dekaden für
globale Gerechtigkeit und gegen soziale Ungleichheit einsetzt. Sen die Liste
prominenter Preisträgerinnen und Preisträger: Albert Schweitzer und Hermann
Hesse, Nelly Sachs und Ernst Bloch, Fritz Stern und Susan Sontag. Daher Karin
Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
"Je tiefer ich – von Zeile zu Zeile, von Buch zu Buch – in sein Werk
eintauchte, desto sicherer wusste ich: Wir hatten nicht nach dem
Preisträger des Corona-Jahres gesucht, wir hatten ihn einfach gefunden. Denn
was Sen über Identität und Gerechtigkeit schreibt, schien und scheint mir ein
geeignetes Fundament zu sein für den Aufbau einer besseren Welt nach
Corona….Die Lektüre von Amartya Sen kann so etwas sein wie der Polarstern für
eine weltoffene, gerechte Gesellschaft." https://www.hessenschau.de/kultur/buchmesse/friedenspreis-verleihung-eine-buergerkrone-der-menschlichkeit-fuer-amartya-sen,friedenspreis-verleihung-amartya-sen100.html
In der Laudatio von Bundespräsident Steinmeier: "Seine Schriften haben auch meinen Blick
auf die Ökonomie erweitert". Als Einführung in sein Werk kann "Die Welt teilen. Sechs Lektionen über
Gerechtigkeit", dienen mit Aufsätzen und Vorträge Amartya Sens aus den
2000er Jahren. Das Buch ermöglicht einen guten Überblick für eine gerechtere
Globalisierung. "Die Welt teilen" skizziert in sechs Lektionen. Vom Übel der Armut in seinem
Heimatland Indien umkreisen alle diese Texte das Thema Gerechtigkeit und
sein Glaube an die Macht der Vernunft und
die Möglichkeit des Guten. Denn die Errungenschaften der Globalisierung sind in
vielen Teilen der Welt beeindruckend: die Weltwirtschaft erbrachte einigen
Regionen der Welt Wohlstand. Früher waren Armut und ein „garstiges,
brutales und kurzes“ Leben (T. Hobbes) weltweit verbreitet. Zur
Überwindung dieses Elends haben umfangreiche wirtschaftliche Verflechtungen und
der Einsatz moderner Technologie in hohem Maße beigetragen.“
Amartya Sen hat mit seinen
Arbeiten die Welt verändert Fragen der Gerechtigkeit geht, ist der Nobelpreis-
und Friedenspreisträger eine international anerkannte Instanz. Dass nicht das
Wirtschaftswachstum allein über die Entwicklung eines Landes Auskunft gibt,
sondern das, was davon bei den Menschen ankommt und wie es ihre Chancen dauerhaft
verbessert, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen - diese zentrale
Einsicht geht ganz wesentlich auf ihn zurück. Stets geht es in Sens Denken
darum, das Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten zu schärfen und die
Lebensbedingungen benachteiligter Menschen ganz konkret zu verbessern. Die
wirtschaftliche Globalisierung als erstrebenswertes Ziel de in der
heutigen Welt einen positiven Beitrag leistet ist für sehr viele Menschen
unbestreitbar nur schwer erkennbar.
Der Human Development Index und
der Befähigungsansatz: Sen
zeigte, dass der Hunger in Indien weniger durch Nahrungsmittelknappheit als
durch die Ungleichheit bei der Verteilung und durch zu hohe Lebensmittelpreise
verursacht wird. Er trug dazu bei, dass die Vereinten Nationen seit 1990 einen
alternativen Wohlstands- und Entwicklungsindikator ausweisen, den Human Development Index, der den Erfolg
von Ökonomien nicht mehr nur am Bruttosozialprodukt, sondern auch an
Lebenserwartung und Bildungszugängen misst.
Der Austausch mit der feministischen Moralphilosophin
Martha Nussbaum, ergab den sogenannten
"Befähigungsansatz": Sen und Nussbaum zufolge dürfe sich eine Theorie
der Freiheit nicht nur mit formalen Rechten, dem Fehlen staatlicher Verbote
oder der Möglichkeit des unternehmerischen Handelns beschäftigen, sondern müsse
auch über die Befähigung nachdenken, Freiheit ausüben zu können. Damit holten
Sen und Nussbaum Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, aber auch die
individuelle Verletzlichkeit zum Beispiel von Kranken und Behinderten in den
Blick der liberalen Freiheitstheorie. Sens Perspektive war also, dass er für
eine humanistische Entwicklung plädierte, die die sozialen Ungleichheiten, die
Klassenverhältnisse, das koloniale Erbe und die Geschlechterunterdrückung
dezidiert in den Blick nahm. Sen kritisierte die Allmacht der Märkte und blieb
doch dem Liberalismus verbunden für
einen John Rawls Sozialliberalismus der auch internationale Beziehungen,
Klassen- und Geschlechterverhältnisse transformiert.
1998 bekam Amartya Sen für seine Beiträge zur
Wohlfahrtsökonomik den Nobelpreis für
Wirtschaft. Der Human Development Index betrachtet nicht nur das Bruttoinlandsprodukt,
er schaut auf das Wohlergehen der Menschen." Sens
Visionäre Denkanstöße basieren auf anderen Zeiten und die entwicklungstheoretische
Debatte geht nun viel weiter. Die postkolonialen Debatten konzentrieren
sich nicht auf das Entwicklungsparadigma (Gesellschaften, die sich entwickeln
müssten) zum internationale
Ungleichheitsverhältnis. Die Unterentwicklung des globalen Südens wäre die notwendige Kehrseite des Reichtums im
Norden. Sens Anliegen ist es, die
bestehenden Gesellschaften und den kapitalistischen Weltmarkt menschlicher zu
gestalten. Angesichts aktueller
Entwicklungen und des Klimawandels ist Sens Ansatz sehr immanent
gedacht. Sein wichtigster Verdienst:
Amartya Sen gehört zu den wenigen modernen Ökonomen, die sich immer der
gesellschaftlichen Verantwortung gestellt und moralische und soziale Fragen mit
verhandelten.
Auch die weltweite
Corona-Pandemie zwingt alle Menschen, Politiker und auch Forscher wie ihn,
vieles neu zu denken. Der Gedanke "nicht, was ist gut für mich, sondern
was ist gut für den anderen" sollte unsere Entscheidungen
leiten. Es brauche einen neuen Einfallsreichtum im Umgang mit anderen Menschen
- und auch mit Krisen. "Wir sollten unser Leben in einem größeren,
globalen Zusammenhang sehen", seine mahnenden Worte. Sen warnte
angesichts der Corona-Pandemie auch vor einer Pandemie der Repression und des
Nationalismus. Die Pandemie hat die globale Mobilität fast auf null zurückgefahren und könnte das
Ende der Globalisierung bedeuten.
Der 86-jährige Gelehrte wirkt noch immer an der Harvard
University, vorher Vermehrung seines symbolischen Kapitals: Kolkata, Cambridge,
Massachusetts Institute of Technology, Delhi, Berkeley, London School of
Economics, Oxford und Harvard. Sen ist philosophisch geworden, weil er in der
mathematisch formalisierten Disziplin keine konkreten Antworten auf seine Frage
nach Gerechtigkeit fand. Auch John
Rawls’ Vertragstheorie «Eine Theorie der Gerechtigkeit» von 1971 war Sen zu
abstrakt um das Wohlergehen der Gemeinschaft zu fördern. Dazu erhielt 2009 Elinor Ostrom erstmals eine Frau
den Nobelpreis für Wirtschaft :
https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/2009/ostrom/facts/
In diesen Kontext lassen sich auch auch Überlegungen anlässlich der
Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Wirtschaftswissenschaftler Stephan
Klasen durch die
Universitat Jaume I in Valencia einbringen.
--- Bericht, Interreligiöses Dialog-Journal, 29.04.2018 >>>
--- Details auch auf YouTube >>>
Im Blick auf den größeren Zusammenhang:
Global & European Development Research Network (EUDN / GDN) >>>
Amartya Sen: Ökonomie für den
Menschen.
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann.
München: Hanser 2020. 424 S.
Verlagsinfo - Inhaltsverzeichnis - Leseprobe >>>
Originaltitel: Development
as Freedom. Bei Hanser neu aufgelegte
Titel "Ökonomie für den Menschen" - bereits 1999 auf Englisch
erstveröffentlicht - ermöglicht das Buch einen soliden und nach wie vor
aktuellen Einstieg in Sens Schaffen. Schon in den ersten Zeilen der Einleitung
skizziert der indische Ökonom, worin sein zentrales Anliegen besteht: Er will
den Entwicklungsbegriff neu definieren.
"Entwicklung
lässt sich, so meine These, als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten
verstehen, die den Menschen zukommen. Die Konzentration auf menschliche
Freiheit kontrastiert mit engeren Auffassungen von Entwicklung, in denen
Entwicklung mit dem Wachstum des Bruttosozialprodukts oder mit dem Anstieg des
persönlichen Einkommens gleichgesetzt wird." Die Erweiterung der
realen Freiheiten ist Ziel und Maßstab der Entwicklung und weit über Strategien
der 1960er und 1970er Jahren hinaus. Der Abkoppelung der
Wirtschaftswissenschaften von den gesellschaftlichen Verhältnissen immer
entschieden widersetzte sich Amartya Sen.
Amartya Sen: Identität und Gewalt
Aus dem Englischen von Friedrich Giese.
München: C.H. Beck, München 2020. 214 S.
Identität kann eine Quelle von Stolz und Freude, Kraft und Selbstvertrauen sein
– und sie kann töten. Hemmungslos töten. Das geschieht, wenn Identität durch
die Ausgrenzung von anderen Menschen zementiert wird und so Differenz in Hass
umschlägt. Aber diese Identitäten sind Konstrukte und verabsolutieren einzelne
Merkmale. Lange vor dem Aufstieg identitärer Bewegungen überall auf der Welt
hat der indische Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen in diesem Buch
gezeigt, dass Identitäten niemals statisch sind und kein Mensch nur eine
einzige Identität besitzt. Es hat bis heute nichts von seiner Aktualität
verloren und legt überzeugend dar, warum die Einsicht in die universale
Vielfalt der menschlichen Existenz der Schlüssel zu einer friedlicheren Welt
ist.
Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn
Weiteres zu Amartya Sen als Friedendspreisträger des Deutschen Buchhandels >>>
Eine
Reihe von Amartya Sens Schriften sind 2020
wieder aufgelegt oder neu
übersetzt worden:
- Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von
Jens Hagestedt, Sabine Reinhardus und Heike Schlatterer.
München: C.H. Beck 2020. 128 S., - Ökonomie
für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft.
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann.
München: Hanser 2020. 424 S.
--- Anmerkungen in jpc-Leidenschaft für Musik >>> -
Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
Aus dem Englischen von Friedrich Giese.
München: C. H. Beck 2020. 208 S., - Identität und Gewalt.
Aus dem Englischen von Friedrich Giese. München: C. H. Beck 2020. 214 S.
WDR 3-Buchkritik >>> (verfügbar bis 16.10.2021), - Gleichheit? Welche Gleichheit? Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Ute Kruse-Ebeling. Ditzingen: Reclam 2020. 90 S.,
-
Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Aus dem Englischen von
Ute Kruse-Ebeling. Ditzingen: Reclam 2020. 122 S., -
Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen
Theorie. Aus dem Englischen von Valerie Gföhler
Ditzingen: Reclam 2020. 72 S.
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