Freitag, 23. Oktober 2020

Ökonomie und Gerechtigkeit - Anmerkungen zu Büchern von Amartya Sen

Amartya Sen: Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Hagestedt, Sabine Reinhardus und Heike Schlatterer
München: C.H. Beck 2020, 128 S.
 
Verlagsinfo - Inhaltsverzeichnis und Leseprobe >>>



Die Aufsätze in diesem Band erschienen zuerst in The Little Magazine und danach in Buchform unter dem Titel «The country of first boys and other essays», herausgegeben von Antara Dev Sen und Pratik Kanjilal, bei Oxford University Press.

Der nach dem Zweiten Weltkrieg von Verlegern eingerichtete Friedenspreises des deutschen Buchhandels  war als  Wiedergutmachung an der Welt gedacht. 2020 entschied sich der Stiftungsrat des Friedenspreises des deutschen Buchhandels für Sen: Er stelle nach wie vor das Wohlergehen der Menschen als Grundvoraussetzung für Frieden ins Zentrum seines Denkens. Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels sind nun Schriften Sens neu veröffentlicht worden. Biografie: Amartya Sen, geb. in Santiniketan, Indien, ist Professor in Harvard und war Master des Trinity College in Cambridge. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie und im November 2007 den Meister-Eckhart-Preis. Er engagiert sich seit Dekaden für globale Gerechtigkeit und gegen soziale Ungleichheit einsetzt. Sen die Liste prominenter Preisträgerinnen und Preisträger: Albert Schweitzer und Hermann Hesse, Nelly Sachs und Ernst Bloch, Fritz Stern und Susan Sontag. Daher Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. "Je tiefer ich – von Zeile zu Zeile, von Buch zu Buch – in sein Werk eintauchte, desto sicherer wusste ich: Wir hatten nicht nach dem Preisträger des Corona-Jahres gesucht, wir hatten ihn einfach gefunden. Denn was Sen über Identität und Gerechtigkeit schreibt, schien und scheint mir ein geeignetes Fundament zu sein für den Aufbau einer besseren Welt nach Corona….Die Lektüre von Amartya Sen kann so etwas sein wie der Polarstern für eine weltoffene, gerechte Gesellschaft." https://www.hessenschau.de/kultur/buchmesse/friedenspreis-verleihung-eine-buergerkrone-der-menschlichkeit-fuer-amartya-sen,friedenspreis-verleihung-amartya-sen100.html

In der Laudatio von Bundespräsident Steinmeier:  "Seine Schriften haben auch meinen Blick auf die Ökonomie erweitert". Als Einführung in sein Werk kann  "Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit", dienen mit Aufsätzen und Vorträge Amartya Sens aus den 2000er Jahren. Das Buch ermöglicht einen guten Überblick für eine gerechtere Globalisierung. "Die Welt teilen" skizziert in sechs  Lektionen. Vom Übel der Armut in seinem Heimatland Indien umkreisen alle diese Texte das Thema Gerechtigkeit und sein  Glaube an die Macht der Vernunft und die Möglichkeit des Guten. Denn die Errungenschaften der Globalisierung sind in vielen Teilen der Welt beeindruckend: die Weltwirtschaft erbrachte einigen Regionen der Welt Wohlstand. Früher waren Armut und ein  „garstiges, brutales und kurzes“ Leben (T. Hobbes) weltweit verbreitet. Zur Überwindung dieses Elends haben umfangreiche wirtschaftliche Verflechtungen und der Einsatz moderner Technologie in hohem Maße beigetragen.“

Amartya Sen hat mit seinen Arbeiten die Welt verändert Fragen der Gerechtigkeit geht, ist der Nobelpreis- und Friedenspreisträger eine international anerkannte Instanz. Dass nicht das Wirtschaftswachstum allein über die Entwicklung eines Landes Auskunft gibt, sondern das, was davon bei den Menschen ankommt und wie es ihre Chancen dauerhaft verbessert, ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu führen - diese zentrale Einsicht geht ganz wesentlich auf ihn zurück. Stets geht es in Sens Denken darum, das Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten zu schärfen und die Lebensbedingungen benachteiligter Menschen ganz konkret zu verbessern. Die wirtschaftliche Globalisierung als erstrebenswertes Ziel de in der heutigen Welt einen positiven Beitrag leistet ist für sehr viele Menschen unbestreitbar nur schwer erkennbar.

Der Human Development Index und der Befähigungsansatz:  Sen zeigte, dass der Hunger in Indien weniger durch Nahrungsmittelknappheit als durch die Ungleichheit bei der Verteilung und durch zu hohe Lebensmittelpreise verursacht wird. Er trug dazu bei, dass die Vereinten Nationen seit 1990 einen alternativen Wohlstands- und Entwicklungsindikator ausweisen,  den Human Development Index, der den Erfolg von Ökonomien nicht mehr nur am Bruttosozialprodukt, sondern auch an Lebenserwartung und Bildungszugängen misst.

Der Austausch mit der feministischen Moralphilosophin Martha Nussbaum, ergab  den sogenannten "Befähigungsansatz": Sen und Nussbaum zufolge dürfe sich eine Theorie der Freiheit nicht nur mit formalen Rechten, dem Fehlen staatlicher Verbote oder der Möglichkeit des unternehmerischen Handelns beschäftigen, sondern müsse auch über die Befähigung nachdenken, Freiheit ausüben zu können. Damit holten Sen und Nussbaum Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit, aber auch die individuelle Verletzlichkeit zum Beispiel von Kranken und Behinderten in den Blick der liberalen Freiheitstheorie. Sens Perspektive war also, dass er für eine humanistische Entwicklung plädierte, die die sozialen Ungleichheiten, die Klassenverhältnisse, das koloniale Erbe und die Geschlechterunterdrückung dezidiert in den Blick nahm. Sen kritisierte die Allmacht der Märkte und blieb doch dem Liberalismus  verbunden für einen John Rawls Sozialliberalismus der auch internationale Beziehungen, Klassen- und Geschlechterverhältnisse transformiert.

1998 bekam Amartya Sen für seine Beiträge zur Wohlfahrtsökonomik  den Nobelpreis für Wirtschaft. Der Human Development Index betrachtet nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, er schaut auf das Wohlergehen der Menschen." Sens Visionäre Denkanstöße basieren auf anderen Zeiten und die entwicklungstheoretische Debatte geht nun viel weiter. Die postkolonialen Debatten konzentrieren sich nicht auf das Entwicklungsparadigma (Gesellschaften, die sich entwickeln müssten)  zum internationale Ungleichheitsverhältnis. Die Unterentwicklung des globalen Südens wäre  die notwendige Kehrseite des Reichtums im Norden.  Sens Anliegen ist es, die bestehenden Gesellschaften und den kapitalistischen Weltmarkt menschlicher zu gestalten. Angesichts aktueller  Entwicklungen und des Klimawandels ist Sens Ansatz sehr immanent gedacht.  Sein wichtigster Verdienst: Amartya Sen gehört zu den wenigen modernen Ökonomen, die sich immer der gesellschaftlichen Verantwortung gestellt und moralische und soziale Fragen mit verhandelten.

Auch die weltweite Corona-Pandemie zwingt alle Menschen, Politiker und auch Forscher wie ihn, vieles neu zu denken. Der Gedanke "nicht, was ist gut für mich, sondern was ist gut für den anderen" sollte unsere Entscheidungen leiten. Es brauche einen neuen Einfallsreichtum im Umgang mit anderen Menschen - und auch mit Krisen. "Wir sollten unser Leben in einem größeren, globalen Zusammenhang sehen", seine mahnenden Worte. Sen warnte angesichts der Corona-Pandemie auch vor einer Pandemie der Repression und des Nationalismus. Die Pandemie hat die globale Mobilität  fast auf null zurückgefahren und könnte das Ende der Globalisierung bedeuten.

Der 86-jährige Gelehrte wirkt noch immer an der Harvard University, vorher Vermehrung seines symbolischen Kapitals: Kolkata, Cambridge, Massachusetts Institute of Technology, Delhi, Berkeley, London School of Economics, Oxford und  Harvard. Sen  ist philosophisch geworden, weil er in der mathematisch formalisierten Disziplin keine konkreten Antworten auf seine Frage nach Gerechtigkeit fand.  Auch John Rawls’ Vertragstheorie «Eine Theorie der Gerechtigkeit» von 1971 war Sen zu abstrakt um das Wohlergehen der Gemeinschaft zu fördern. Dazu  erhielt 2009 Elinor Ostrom erstmals eine Frau den Nobelpreis für Wirtschaft :
https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/2009/ostrom/facts/  

In diesen Kontext lassen sich auch auch Überlegungen anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Wirtschaftswissenschaftler Stephan Klasen durch die
Universitat Jaume I in Valencia einbringen. 
--- Bericht, Interreligiöses Dialog-Journal, 29.04.2018 >>> 
--- Details auch auf YouTube >>>

Im Blick auf den größeren Zusammenhang:

Global & European Development Research Network (EUDN / GDN) >>> 

Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen.
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann.
München: Hanser 2020. 424 S.
Verlagsinfo - Inhaltsverzeichnis - Leseprobe >>>



Originaltitel: Development as Freedom.  Bei Hanser neu aufgelegte Titel "Ökonomie für den Menschen" - bereits 1999 auf Englisch erstveröffentlicht - ermöglicht das Buch einen soliden und nach wie vor aktuellen Einstieg in Sens Schaffen. Schon in den ersten Zeilen der Einleitung skizziert der indische Ökonom, worin sein zentrales Anliegen besteht: Er will den Entwicklungsbegriff neu definieren.

"Entwicklung lässt sich, so meine These, als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten verstehen, die den Menschen zukommen. Die Konzentration auf menschliche Freiheit kontrastiert mit engeren Auffassungen von Entwicklung, in denen Entwicklung mit dem Wachstum des Bruttosozialprodukts oder mit dem Anstieg des persönlichen Einkommens gleichgesetzt wird." Die Erweiterung der realen Freiheiten ist Ziel und Maßstab der Entwicklung und weit über Strategien der 1960er und 1970er Jahren hinaus. Der Abkoppelung der Wirtschaftswissenschaften von den gesellschaftlichen Verhältnissen immer entschieden widersetzte sich Amartya Sen.

Amartya Sen: Identität und Gewalt
Aus dem Englischen von Friedrich Giese.
München:  C.H. Beck, München 2020. 214 S.

Identität kann eine Quelle von Stolz und Freude, Kraft und Selbstvertrauen sein – und sie kann töten. Hemmungslos töten. Das geschieht, wenn Identität durch die Ausgrenzung von anderen Menschen zementiert wird und so Differenz in Hass umschlägt. Aber diese Identitäten sind Konstrukte und verabsolutieren einzelne Merkmale. Lange vor dem Aufstieg identitärer Bewegungen überall auf der Welt hat der indische Philosoph und Nobelpreisträger Amartya Sen in diesem Buch gezeigt, dass Identitäten niemals statisch sind und kein Mensch nur eine einzige Identität besitzt. Es hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren und legt überzeugend dar, warum die Einsicht in die universale Vielfalt der menschlichen Existenz der Schlüssel zu einer friedlicheren Welt ist.

 Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn

Weiteres zu Amartya Sen als Friedendspreisträger des Deutschen Buchhandels >>>


Eine Reihe von Amartya Sens Schriften sind 2020
wieder aufgelegt  oder neu übersetzt worden:

  • Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Sabine Reinhardus und Heike Schlatterer.
    München: C.H. Beck 2020. 128 S.,
  • Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann.
    München: Hanser 2020. 424 S.
    --- Anmerkungen in jpc-Leidenschaft für Musik >>>
  • Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt.
    Aus dem Englischen von Friedrich Giese.
    München: C. H. Beck 2020. 208 S.,
  • Identität und Gewalt.
    Aus dem Englischen von Friedrich Giese. München: C. H. Beck 2020. 214 S.
    WDR 3-Buchkritik >>> (verfügbar bis 16.10.2021),
  • Gleichheit? Welche Gleichheit? Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Ute Kruse-Ebeling. Ditzingen: Reclam 2020. 90 S.,
  • Elemente einer Theorie der Menschenrechte. Aus dem Englischen von
    Ute Kruse-Ebeling. Ditzingen: Reclam 2020. 122 S.,
  • Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Aus dem Englischen von Valerie Gföhler
    Ditzingen: Reclam 2020. 72 S.

Redaktion: InterReligiöse Bibliothek (IRB)

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