Samstag, 24. Oktober 2020

Jan Assmann: Beethoven - eine Welt im Aufbruch und die Missa Solemnis als Ausdruck der Gottsuche - mit Literaturergänzungen (aktualisiert)



Jan Assmann:
Kult und Kunst - Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst 
- mit 50 Notenbeispielen -

München: C.H. Beck 2020, 272 S.

--- ISBN 978-3-406-75558-3 ---

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Als sein gelungenstes Werk bezeichnete Ludwig van Beethoven (1770 - 1827) sein Vokalwerk "Missa solemnis", op. 123, D-Dur,  das er zwischen 1819 und 1823 anlässlich der Inthronisation Erzherzogs Rudolphs von Österreich zum Erzbischof von Olmütz komponierte. "Von Herzen - Möge es wieder - zu Herzen gehn!" so betitelte Ludwig van Beethoven die Partitur der "Missa Solemnis". Jan Assmann, Professor em. für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz hat mit diesem Buch eine gelungene Hommage zum großen Beethoven-Jubiläum 2020 vorgelegt. 

Erinnern wir uns: Ludwig van Beethoven wurde 1770 geboren und sollte 16 Jahre alt in Wien bei Mozart oder Haydn Unterricht nehmen, doch musste schon nach zwei Wochen wieder nach Bonn zurückkehren. 1792 spielte er in Bonns Redoute vor Joseph Haydn und sie verabredeten, dass Beethoven eine zweite Studienreise nach Wien unternehmen solle, um Meisterschüler von Haydn zu werden.  Assmann beschreibt das Werk als Höhepunkt („Konzertmesse“, S. 12)  in der langen Geschichte des Gottesdienstes, als aus religiösem Kult autonome Kunst wird.

Bereits Beethovens erstes kirchenmusikalisches Werk, die C-Dur-Messe op. 86; die "kleine Schwester" der Missa solemnis, war wichtig für die Weiterentwicklung der Messkompositionen im 19. Jahrhundert. Die geplante Missa wurde zu einer mehr als vierjährigen Suche Beethovens nach seinem Gottesverständnis. Er betrieb intensive Forschungen auf den Gebieten TheologieLiturgik, Geschichte der Kirchenmusik, sowie von der Entstehungszeit des Gregorianischen Gesangs über Palestrina bis Bach und Händel

Beethoven widmete bekanntlich Erzherzog Rudolph, seinem hochgestellten Schüler und Gönner, mehr seiner Werke als irgend jemandem sonst. Zur feierlichen Einsetzung Erzherzog Rudolphs als Erzbischof von Olmütz (heutiges Tschechien) im März 1820 komponierte Beethoven diese "Missa solemnis", die allerdings nicht rechtzeitig zur Aufführung bei der Zeremonie vollendet wurde. Beethovens «Missa»  eigentlich für den liturgischen Gebrauch gedacht, geht durch ihre Länge sowie  die außerordentliche Intensität weiter.
Am 29. Juli 1819 schreibt Ludwig van Beethoven dem Erzherzog Rudolph die berühmten Worte: »Freiheit, Weitergehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen Schöpfung, Zweck«. Wenig bekannt ist die Fortsetzung des Satzes: »… und sind wir Neueren noch nicht ganz so weit als unsere Altvorderen in Festigkeit, so hat doch die Verfeinerung der Sitten auch manches erweitert.«... »Der Tag, wo ein Hochamt von mir zu den Feierlichkeiten für I.K.H. soll aufgeführt werden, wird für mich der schönste meines Lebens sein; und Gott wird mich erleuchten, dass meine schwachen Kräfte zur Verherrlichung dieses feierlichen Tages beitragen.«

Vgl. auch diese Veröffentlichungen:

Daher beginnt der Autor bereits nach der Einleitung basierend auf diesen Erkenntnissen historisch in:

Kap. 1. Heilige Spiele (S. 19ff.) beginnt mit dem altägyptischen Kult. Im christlichen Ritual wurde die Feier vom Abend auf den Morgen verschoben (S. 29).  

Kap. 2. Abendmahl und liturgische Erinnerung bringt die liturgische Struktur des Abendmahls in den synoptischen Berichten zur Sprache: Brot und Wein im Johannesevangelium sowie die Einsetzungsworte nach Paulus und den Synoptikern.  

Das 3. Kap.  beschreibt die Gedächtnisfeier: Das Abendmahl als Passahmahl sowie Passah und Passion (vgl. J.S. Bach: Johannes- und Matthäuspassion) mit der „Blutkommunion“ (S. 57),  die Sünde tilgt und Vergebung ermöglicht. Hintergrund ist stellvertretendes Leiden, basierend der jüdischen liturgischen Tradition. 

Im Kap. 4.  geht es um Die Protagonisten von Abendmahl und Passion: Jesus von Nazareth, Judas Iskariot, Pilatus sowie um die Zeugenschaft und Martyrium des Paulus. Beethoven wie viele Berühmte seiner Zeit ist "im Grunde seines Herzens Arianer“ (S. 69) genannt. 

Der aufschlussreiche Exkurs: Liturgische Zeit erhellt die Struktur des Gottesdienstgeschehens

In Kap. 5. Das Ordinarium Missae, das «Libretto» der Messe zeigt sich in den gesungenen Abschnitte des Gottesdienstes: Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus sowie Benedictus und Agnus Dei. Missa solemnis, «feierliche Messe», so wurde seit dem Mittelalter das katholische Hochamt genannt.
Assmann basiert nun Beethovens «Missa» im altägyptischen und jüdischen Kult und skizziert über Jahrtausende den Ursprung des christlichen Gottesdienstes, d.h. vom letzten Abendmahl Jesu und den Gedächtnisfeiern der frühen Christen über die Entstehung fester liturgischer Formen der Ostkirche  und im Westen durch den mehrstimmigen Gesang. 

Der Exkurs: Präsentifikation, die Herstellung von Gegenwart beschreibt die Musik, die  - wie keine andere -  Gegenwart konstituiert (S. 110) - bis hin zu neuzeitlichen Vertonungen. 

Kap. 6. Die «Kunstwerdung» der Messe. Die Geburt der abendländischen Musik
beginnt im 13. Jahrhundert. Der Abschnitt Von der religiösen Kunst zur Kunstreligion skizziert den Einfluss Händels und Haydns auf Beethoven. Auch Gedanken Mozarts finden sich in der Missa. Beethovens «Missa solemnis» ist nämlich hohe Kunst und feierlicher Gottesdienst in einem oft unterschätztes Spätwerk.

Das 7. Kap. Beethoven und die Missa Solemnis, Hadern mit dem Schicksal und Ergebung spiegelt das außergewöhnliche Schicksal des Komponisten in seiner Musik wider. 

Der Exkurs: Beethovens Glaubensbekenntnis schildert dazu das Denken seiner Zeit und den Weg Vom Gottesdienst zum Oratorium.

In Kap. 8  folgt eine klare Werkbeschreibung (S. 155ff.) mit 50 Notenbeispielen:
Von daher lässt sich der 1. Teil Kyrie, Gloria, Credo des Opus 123  in Beethovens Musik und  die Verbindung zum  christlichen Gottesdienst besser verstehen. 
Der 2. kürzere Teil bringt die einmalige Emotionalität des Sanctus und Benedictus (S. 200 ff) mit klanglichen Feinheiten zur Sprache. Das bedeutet für die Aufführungspraxis, dass sowohl der Chor als auch die Solisten an ihre Belastungsgrenzen kommen.  
Die Missa Solemnis ist ein Meisterwerk der christlichen Vokalmusik - brillant dabei das Violinensolo mit beseeltem Ausdruck im „Benedictus“. Anschließend werden noch das "Agnus Dei" und die Himmelsleitern übersichtlich und verdeutlichend präsentiert. 

Das Kap. 9 Beethovens Missa Solemnis – ein Gottesdienst im Kopf als Abschluss des Buches skizziert  Die Eigenlogik der Musik und die Macht des Messtextes. Assmann zitiert dazu Adorno, dass op. 123 seinen „künstlerischen Wahrheitsgehalt“ verliere (S. 221) und bemerkt dazu, dass Händel mit Israel in Egypt scheiterte, ähnlich wie Beethoven in op. 123: „...keine Arien und Rezitative, sondern vor allem Chöre von ungewohnter Komplexität, Größe und Schwierigkeit (S. 227). 

Man muss davon ausgehen, dass Beethoven op. 123 mit ungeheurem Zeitaufwand als eine moderne Messe schreiben wollte. Er betritt Neuland, auch mit dem Schwesterwerk  der
9. Symphonie, die „...weltweit zur Liturgie kunstreligiöser Feiern zum Jahreswechsel aufgestiegen" ist. Die Europäische Union hat die Ode "Freude schöner Götterfunken" zur offiziellen Hymne erkoren“(S. 238) - basierend auf politischen und kosmopolitischen Wirkungen seiner Person und seines Schaffens. 

Zusammenfassung
Beethovens Musik spiegelt eine europäische Gesellschaft im Aufbruch. Sie geht damit weit über ihren ursprünglichen Kontext hinaus. Das kompositorische Genie wies den Weg in die Moderne. Aus seinen Werken sprechen ein unbändiger Wille zur gesellschaftlichen Veränderung, höchste Humanität, die Freiheit der Künste und soziale Utopien. Sein Werk führt uns zu zentralen Identitäts- und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft. 

Der vielfach geehrte Jan Assmann - u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (zusammen mit Aleida Assmann, 2018) bewegt sich geschickt im Grenzbereich Kirchen-Musik-Geschichte  und Religionswissenschaft/ Theologie. Musikalische Details werden mit den großen historischen Linien in Beziehung gesetzt und anhand von Beethovens «Missa» die Geburt der Kunst aus dem Geiste des Gottesdienstes vor Augen geführt. Alles ist in diesem lesenswerten und spannungsreichen Werk ausgezeichnet präsentiert.  

Dem Buch ist neben den Anmerkungen, ein umfangreiches Literatur- und Personenregister beigegeben. 

Vgl. auch diese Veröffentlichungen von Jan Assmann:


Prof. Dr. Eckhard Freyer, Bonn

 Ein Blick auf zwei weitere Werke zum Thema "Freiheit und Brüderlichkeit"

Ergänzendes 

1. Das bedeutende Jubiläum und die Corona-Pandemie
2020 feiert Deutschland mit der ganzen Welt den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven. In einem einzigartigen Schulterschluss haben sich die Bundesrepublik Deutschland, das Land Nordrhein-Westfalen, der Rhein-Sieg-Kreis und die Bundesstadt Bonn zur Errichtung der gemeinnützigen Beethoven Jubiläums GmbH zusammengefunden, die dieses bedeutende Jubiläum koordiniert und unter der Dachmarke BTHVN2020 kommuniziert.


Für die bundesweiten Feiern zum 250. Geburtstag Beethovens stehen insgesamt 30 Millionen Euro zur Verfügung, davon Bund 27 Millionen Euro. Durch die Coronavirus-Pandemie wird das Festprogramms zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven Projekte, wie ein Musikfrachter, der von Bonn nach Wien schippern sollte,  abgesagt. Die Konzerte, Tanz, neue Kompositionen in das Jahr 2021 hinein verlängert und endet nicht wie geplant nach einem Jahr am 17. Dezember 2020.  Zusammen mit dem Beethovenfest ist das Beethoven-Orchester wesentlicher Bestandteil der Beethovenpflege der Bundesstadt Bonn. Das  Bonner Beethovenfest wurde wegen Corona auf 2021 verschoben.

Generell ist die Kulturbranche ein Zweig des gesellschaftlichen Lebens und  wichtiger Bestandteil der Lebensqualität, Den Kollaps öffentlich-kulturellen Lebens durch Corona gilt es zu verhindern, um auch unseren Nachkommen den Genuss dieser auf der Welt einzigartigen Kulturlandschaft zu ermöglichen. Doch die Pandemie zwang auch weltbekannte Künstlervermittlungen für klassische Musik in die Insolvenz. Die Konzertausfälle durch die Corona-Pandemie sind zu gravierend gewesen. In den USA wird es, anders als momentan in Europa, auch auf längere Sicht keine Konzerte geben. Die BILD-Zeitung fragt in dieser Zeit auch noch den Neid schürend, warum in Konzerthäusern Publikum möglich sei und in Fußballstadien nicht.  Bedenkenswert: Die große Auszeichnung eines vorzüglichen Mannes: Beharrlichkeit in widrigen, harten Zeiten. Ludwig van Beethoven.

Immerhin sei erwähnt: In nordrhein-westfälischen Konzerthäusern wie Dortmund und Essen dürfen derzeit 1.000 Plätze belegt werden. In der Alten Oper Frankfurt 600 Zuhörer. In  Baden-Württemberg dagegen sind nur 500 Besucher erlaubt, etc.

 

 2. Anmerkungen zu Beethovens Tonkunst

Wie haben seine frühen Jahre den Musiker Beethoven geprägt?
https://www.youtube.com/watch?v=ooBc5uT4f5M&app=desktop  
Die kurkölnische Hofkapelle genoss einen guten Ruf. Hier musizierten die Cousins Romberg und Christian Gottlob Neefe. Auch dessen Schüler Ludwig van Beethoven wirkte im Orchester mit und präsentierte sich in Bonn ebenfalls als Komponist. https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr3/wdr3-werkbetrachtungen/index.html
>Omne tulit punctum‹ - Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden (Horaz)


3. Eine medizinisch-musikalisch-historische Zeitreise,
Symposium am  16. und 17. Oktober in Bonn 

Dazu Ludwig van Beethoven: der Gehörte und Gehörlose Sense of hearing: eine medizinisch-musikalisch-historische Zeitreise  16. und 17. Oktober 2020  Symposium der Beethoven Jubiläums Gesellschaft in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Bonn (UKB) und des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM). Die politischen und kosmopolitischen Wirkungen seiner Person und seines Schaffens sowie Aspekte seiner Vokalkompositionen mit Rückbezug auf seine Krankheitsgeschichte dargestellt. Die Ergebnisse dieses vielfältigen und fachübergreifenden Symposium „Sense of Hearing“ - in diesem Symposium der Beethoven Jubiläums GmbH in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Bonn und dem Freiburger Instituts für Musikermedizin, das am 16. und 17.  Oktober 2020 im Hörsaal des Biomedizinischen Zentrums stattfindet, sollen aus musiker-medizinischer Perspektive sowohl die Musik als auch die Ertaubung Beethovens als Ausgangspunkte für eine historische und wirkungsgeschichtliche Betrachtung dienen. Ein wichtiger Fokus liegt dabei auf dem Hören und den Auswirkungen Beethovens Taubheit auf seine psychosoziale Situation sowie seinen sonstigen Erkrankungen. Die Ergebnisse dieses vielfältigen und fachübergreifenden Symposiums sind in deutscher und englischer Sprache als kostenloser Download erhältlich.

   

Beethoven mit dem Manuskript der Missa solemnis.
Ölgemälde von Joseph Karl Stieler 1820.
Nur auf diesem Gemälde begegnet uns der Werktitel „Missa solemnis ex D#“

4. Literaturhinweise

Ludwig van Beethoven: Missa solemnis. Erstdruck im Verlag Schott, Mainz 1827.

Blatt der Erstausgabe, Beethovenhaus Bonn

Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis.

Untertitel: Zum 200. Jubiläum fundierte Einführung ins Meisterwerk der christlichen Vokalmusik mit brillanter Aufführung des Chorwerkes durch Stuttgarter Kammerchores auf CD/Urheber: Walter, Meinrad (Herausgegeben von) / Hinrichsen, Hans-Joachim (Autor) / Koch, Jakob Johannes (Autor)* Meinrad Walter ist promovierter Theologe und Musikwissenschaftler. Deutsche Bibelgesellschaft 24.09.2019, 28€.
Dazu Beethoven:
Missa solemnis – Wort // Werk // Wirkung




  • Meinrad Walter: Messe als Drama - Bach, Beethoven, Bernstein, Vortrag 2020

Eine medizinisch-musikalisch-historische Zeitreise zu Beethoven

Herder-Verlag 2020, 240 S. - 
Vollständiger Download >>>
Textbasis des Buches: 
Symposium der 
Beethoven Jubiläums GmbH 
in Kooperation mit dem 
Universitätsklinikum Bonn (UKB) 
und dem 
Freiburger Institut für Musikermedizin (FIM),
am 16./17.10.2020 in Bonn


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