Samstag, 22. Dezember 2012

Christliche Ökumene und jüdische Perspektiven



Fornet-Ponse, Thomas: Ökumene in drei Dimensionen.
Jüdische Anstöße für die innerchristliche Ökumene.
Jerusalemer Theologisches Forum, Bd. 19.
Münster: Aschendorff 2011, 516 S., Register
(zugleich Diss. 2010, Kath. Theol. Fakultät
der Paris Lodron-Universität Salzburg)
--- ISBN 978-3-402-11023-2 --- 

 Ausführliche Beschreibung
Forschungsaufenthalte in Jerusalem können das christlich-jüdische Gespräch in zuweilen etwas vernachlässigte Denkrichtungen bringen. Dafür steht beeindruckend die leicht überarbeitete Dissertation des katholischen Theologen Thomas Fornet-Ponse, der das vom 2. Vatikanischen Konzil initiierte dialogisch-theologische Umdenken im Blick auf das Judentum einfordert. Dies muss auch in Richtung auf die innerchristliche Ökumene mit ihren unterschiedlichen Glaubenstypen geschehen.. Denn Kirche hat wesentliche Strukturen ihrer Identität vom Judentum erhalten. Schlimm genug jedoch ist, dass es weiterhin Reserven gegen eine konsequente Öffnung zum Judentum innerhalb sich ökumenisch gebender Theologie gibt. Die Tatsache der Wiederaufnahme der Fürbitte für die Juden im liturgischen Karfreitagsgebet durch Papst Benedikt XVI. steht dafür als ein rückwärts gewandtes Beispiel. Und so stellt sich unausweichlich die Frage: Denken die Kirchen (sowohl die katholische wie die evangelischen) wirklich die durchgehende Beziehung zum Judentum wirklich mit?


In der Einleitung (Kap. 1) betont der Autor, dass er das spezifisch Jüdische gezielt in die innerchristliche Diskussion einbringen will. Bei den Grundlagen (Kap. 2) weist er auf interkulturelle Philosophie- und Theologiemodelle hin, wie sie sich zukunftsweisend in der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung zeigen, so z.B. bei Raúl Fornet-Betancourt: „Die interkulturelle Philosophie vertritt gegen die totalitäre Intoleranz der neoliberalen Globalisierung einen alternativen Entwurf, der eine ethische Option für Respekt, Toleranz und Solidarität ist“ (S. 70).
Eine interkulturell ausgerichtete ökumenische Theologie kann nun allerdings einige Probleme nicht umgehen, die sich besonders in der Spannung von Kontextualität und Universalität sowie im Blick auf Differenzen zeigen, die durch transkulturelle hermeneutische Ansätze entstehen. Aber es darf dabei nicht nur um Abstrakta gehen. Konkretionen lassen sich am „Modell Jerusalem“, also interkulturell plural verifizieren (S. 78).
Mit seiner Beschränkung des interreligiösen Ansatzes auf die christlich-jüdischen Zusammenhänge betont Fornet-Ponse in einem weiteren Schritt die entscheidende Bedeutung des Judentums für die Identität des Christentums. Es fällt immer wieder Ärgernis erregend auf, dass  das Christentum insgesamt ökumenisch mit seinen innerkonfessionellen Einheitsmodellen im Sinne eines differenzierten Konsensus (Kap. 3) nicht zurechtkommt. Die Unterschiede scheinen offensichtlich grundlegend kirchentrennend zu sein. Die Frage ist, ob diese Differenzen kontradiktorisch oder nicht-kontradiktorisch bestehen (S. 119). Für einen historischen Klärungsversuch, geht Fornet-Ponse in die Kirchen- und Theologiegeschichte, indem er die Spannung von Grundkonsens und Grunddifferenz untersucht. Er tut dies mit der Intention herauszufinden, was sich denn nun wirklich kirchenspaltend bzw. kirchentrennend ausgewirkt hat und auswirkt: Der Gegensatz zwischen Ost- und Westkirche, die Reformation, die Anglikanische Kirche.
Dies führt nun zur wesentlichen Auseinandersetzung im Blick auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) 1999 (Kap. 4) zwischen dem Lutherischen Weltbund (danach noch mit den Methodistischen Kirchen) und der römisch-katholischen Kirche. Diese bilanziert Fornet-Ponse vorläufig so: „Mithin sehe ich auch im Blick auf die reformatorischen Kirchen die Grunddifferenz in der Ekklesiologie, wobei hinsichtlich des in CA VII ( = Confessio Augustana VII) formulierten Kirchenverständnisses als um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde eine Nähe zum Kirchenverständnis des II. Vaticanums ausgemacht werden kann“
(S. 232). Aber bleiben nicht dennoch kirchentrennende Differenzen oder arbeitet die Katholische Kirche mit unterschiedlichen Ökumenemodellen? (S. 235). Dies führt nun zur Veränderung der Blickrichtung hin auf ein Autoritätsverständnis, das vom jüdisch-christlichen Dialog her motiviert ist (Kap. 5), denn die Einigung der GER geschieht konsequent am Judentum vorbei. Darauf machen neben Brumlik und Menke besonders detailliert Friedrich-Wilhelm Marquardt [1] aufmerksam. In der Konsequenz des Ansatzes seines Lehrers Helmut Gollwitzer greift er mehr und mehr vom Judentum her die Problematik innerchristlicher Annäherung in der Rechtfertigungslehre auf: der jüdische Partner wird in der GER nicht nur nicht in den Blick genommen, sondern auch in seinem Gesetzesverständnis missverstanden. Das gilt gerade auch bei der Interpretation des paulinischen Rechtfertigungsverständnisses (S. 246).
Der Autor versucht nun, diesen Mängeln dadurch beizukommen, dass er das religiöse Autoritätsverständnis im Judentum untersucht, und zwar auf die Faktoren „göttlich“ und „menschlich“ bezogen: zum Einen in der hebräischen Bibel – zugespitzt auf Prophet, Priester und Tora-Interpretation, und zum Andern in der Halacha, der mündlichen Auslegung, die sich im Talmud als autoritative Quelle etabliert hat. Sie prägt bis heute das (rabbinische) Judentum und die daraus folgende rabbinische Gesetzgebung. Rabbiner und besonders die Talmud-Gelehrten werden damit zur kompetenten und autorisierten Teilnehmern in der Tora-Auslegung. Die geschichtliche Entwicklung – gerade im Diaspora-Judentum – tut noch ein Übriges, nämlich dass faktisch keine zentrale Autorität Deutungshoheit erreicht. Auch die charismatische Autorität im Chassidismus hat ihre Grenzen. So bleibt der Rabbiner auch heute überwiegend Experte der Halacha. Daran ändern die gesellschaftlich hoch geschätzten Oberrabbinate nichts (S. 348ff). So kann das Judentum erstaunlich gut mit unterschiedlichen Interpretationen leben und trotzdem am Einheitsgedanken festhalten.
Das Verhältnis von Identität und Differenz zeigt sich mehr und mehr als hermeneutische Chance, auch innerchristlich aus einer vielfältigen Einheit heraus zu denken. Die jüdische Seite macht dazu Mut, sich der Wahrheit in pluralen Ausdrucksformen anzunähern. So müssen auch Differenzen nicht vorrangig miteinander versöhnt werden, weil die Einheit selbst Vielfalt erlaubt. In diesem letzten Teil (Kap. 6) von Fornet-Ponses Buch (S. 357-448) wird die jüdische Stimme ständig bei den Versuchen zur Vertiefung innerchristlicher Ökumene mitgehört. Die jüdischen Erfahrungen der „Regionalisierung“ bis hin zur Autorität von Einzelgemeinden laden dazu ein, die Gesamtkirche bzw. Universalkirche nach katholischem Verständnis mit den Ortskirchen korrelativ („perichoretisch“, S. 447) zu durchdringen. Das heißt, dass Kirche viel stärker von der Ortskirche her gedacht werden sollte. Orthodoxie und Protestantismus könnten so positiv auch auf das katholische Amtsverständnis einwirken, wenn dieses durchgängig als Dienst an der (zu erwartenden, aber vielfältig bleibenden) Einheit gesehen werden könnte.
Was übrigens Friedrich-Wilhelm Marquardt mit seiner die jüdische Hermeneutik konsequent einbezogenen Dogmatik geleistet hat [2], holt nun Fornet-Ponse fundamentaltheologisch für die katholische Seite nach. Wagt man die grundlegenden katholischen Probleme von Kollegialität der Bischöfe und Primat des Papstes sowie die Jurisdiktionsaussagen im Kontext der Infallibilität im Papstamt zu relativieren, könnte sich ein Weg für einen gesamtkirchlichen „Petrusdienst“ eröffnen, in dem die Kollegialität der Bischöfe ebenso wie die „Basis“ gehört werden (müssen). Es kann nicht so bleiben, dass in der Vielfalt kirchlicher Stimmen die Dissonanzen eine mögliche Einheit verhindern. Die jüdischen Verstehensebenen von Autorität, Einheit und Pluralität in der Auslegung der hebräischen Bibel und im Talmud sind darum in die Debatten innerchristlicher Ökumene-Differenzen einzubringen (Kap. 6).
Vom lutherischen Kirchenverständnis her hat es übrigens immer wieder – auch innerprotestantisch strittige – Signale gegeben, über die gesamtkirchliche Stellung des Papstes als Ehrenprimat ins Gespräch zu kommen.[3] Im Hoffnungsrahmen von Pluralität in der Einheit scheinen hier allerdings noch viele Stolpersteine zu liegen. Und trotz einiger vom Autor herangezogenen ermutigender Formulierungen Ratzingers muss man unter seiner Ägide als Benedikt XVI. doch eine Tendenz wahrnehmen, in der sich die Gewichte zuungunsten einer Einheit in versöhnter Verschiedenheit [4] verschieben. So bleibt auch Fornet-Ponses Resümee eine Vision (Kap. 7), deren Realisierung man sich jedoch endlich wünscht. Man kann nur zustimmen, wenn er ausblickend sagt: „Gerade wenn vor dem Hintergrund eines umfassenden (und nicht primär juridischen) Kirchenverständnisses die petrinische Funktion vor allem als Pastoralprimat konzipiert wird, könnte der römische Bischof diese Funktion für die gesamte Christenheit ausüben, ohne dass die anderen Kirchen die geschichtlich gewachsene römisch-katholische Rechtsstruktur übernehmen müssten“ (S. 448). Vielleicht ist dazu denn doch ein Drittes Vatikanisches Konzil nötig, das wagt, die Türen dafür aufzustoßen …
Reinhard Kirste
Rz-Fornet-Ponse, 22.12.12



[1]  vgl. die Homepage mit weiteren Informationen: http://www.fwmarquardt.eu/
[2]  Vgl. schon Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik. Gütersloh 1988 und dann ausführlich in seiner siebenbändigen Dogmatik 1988-1997.
[3]  z.B. der badische Bischof Helmut Fischer in evangelisch.de vom 18.04.2010:
http://www2.evangelisch.de/themen/religion/bischof-fischer-fuer-ehrenprimat-des-papstes16072
  (abgerufen 19.12.2012)

[4]  Vgl. Harding Meyer: Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie II. Der katholisch/lutherische Dialog. Frankfurt/M: Lembeck 2000 und die diese Position haltende EKD-Synode vom November 2000, vgl. EKD-Pressestelle vom 05.11.2000: http://www.ekd.de/presse/1067.html (abgerufen 19.12.2012)


Mittwoch, 12. Dezember 2012

Hildegard-Medizin für Körper und Seele



Brigitte Pregenzer / Brigitte Schmidle in Zusammenarbeit mit Felicitas Karlinger: Hildegard von Bingen – Einfach gesund.
Ein Gesundheitsratgeber mit Sonderteil „Hildegard-Apotheke für Einsteiger“.
Innsbruck-Wien: Tyrolia [2006] 2011, 3. Aufl., 235 S., Abb., Register

Ausführliche Beschreibung
Hildegard von Bingen (1098–1179) hat seit Jahren Konjunktur. Ihre Erhebung zur Kirchenlehrerin durch Papst Benedikt XVI. im Oktober 2012 hat diesen „Hype“ sicher noch befördert. So kommt in einer kaum noch zu überblickenden Vielzahl von Publikationen die Mystikerin, die Visionärin, die Klostergründerin, die Predigerin, die Gesellschaftskritikerin und die Heilkundige zu Wort.

Im Feld der Hildegard-Medizin wird allerdings vieles zusammen-getragen, was oft nur sehr entfernt mit ihr zu tun hat. Und dennoch können sich gerade im Blick auf die Heilkunde viele ihrer beeindruckenden Wirkungsgeschichte nicht entziehen. Der Name „Hildegard“ scheint Programm zu sein. Der Tyrolia-Verlag hat hier eine ganze Serie aufgelegt: Zeitlose Lebensweisheiten für Menschen, die ihr Leben bewusst gestalten wollen. Eine Besonderheit bildet dabei eine Reihe, die ihren Ursprung in Sendungen des Radios Vorarlberg hat und von Brigitte Pregenzer (Hildegard-Akademie in Dornbirn) und Brigitte Schmidle (Journalistin auch beim ORF) gestaltet wird (in Zusammenarbeit mit der ganzheitlich arbeitenden Ärztin Felicitas Karlinger). Aufgrund des großen Interesses hat der Tyrolia-Verlag daraus eine Buchreihe gestaltet:
Hildegard von Bingen:   
Einfach leben / Einfach gesund / Einfach kochen 1  / Einfach kochen 2  /
Einfach fasten / Einfach gesund / Einfach für Kinder 


Kraftquellen für die Seele (Geschenkbuch) 
                                                                             - Folge der Spur deines Lebens (Geschenkbuch)                                                                                                       
                                                      
Der hier herausgegriffene Band lockt wegen seiner Überblicksstruktur nun besonders zum Nachlesen. Er enthält neben grundsätzlichen Überlegungen zu einem gesunden, ganzheitlichen Leben und einem kurzen Lebensbild der Hl. Hildegard in einem 1. Teil  (leicht grün eingefärbt) lexikonartig zusammengefasst Krankheitsbilder A-Z (Akne bis Zorn) Im 2. Teil (im schwachem Rosa) folgen dann die Heilmittel und Elixiere gegen die genannten Krankheiten, ebenfalls von A-Z (Akeleihonig bis Zypressenbad). Hinzu kommt eine Art Sonderteil. Er befasst sich zuerst mit dem Fasten, dem Aderlass und dem Schröpfen, gibt dann sog. Goldene Lebensregeln, wie man/frau die Lebensenergie erhält und die Wachstumskräfte stimuliert. Die Konkretion erfolgt über Ernährungstipps und die Wirkkraft bestimmter Getränke. Schließlich gibt es eine sog. Hildegard-Apotheke für Einsteiger, im Grunde noch einmal eine stichwortartige Zusammenfassung des Lexikons.
Man spürt den Autorinnen die Praxis und Beratungsarbeit durch das Medium des Hörfunks an. Das Buch versucht dies mit entsprechenden didaktischen und methodischen Hilfsmitteln zu verstärken, indem es auf jeder Seite entsprechende Randbemerkungen enthält. Diese sind leider vom Druckbild ungünstig positioniert.  Die dort am Außenrand stehenden Info-Kästchen lassen zu viel breiten Leerraum, während der Abstand von der Buchbindung in der Mitte jeweils nur ca. 1 cm  zum Text beträgt. Dadurch muss man beim Lesen das Buch sehr auseinanderspreizen. Es würde sich für die Übersichtlichkeit weiter lohnen, spezielle Erläuterungen nur einmal zu finden, also entweder bei den Krankheitsbildern einfach den Hinweis auf die Elixiere und bei den Heilmitteln nur den Verweis auf die Krankheit.
Trotz dieser mehr formalen Mängel liegt jedoch ein in der Praxis erprobtes Buch vor, dessen Beschreibungen gute Orientierung geben und dessen Ratschläge sich leicht umsetzen lassen. Leserinnen und Leser werden hier  angeregt, das Empfohlene in den Alltag zu integrieren, im eigenen Garten zu planen oder mit entsprechenden Pflanzentöpfen sich die Wohltaten der Natur ins Haus zu holen und damit entsprechend zu experimentieren.  So ist ein Vademecum entstanden, das durchaus die seelische und körperliche Gesundheit fördert.
Reinhard Kirste
Rz-Pregenzer-Hildegard-Medizin, 12.12.12

Samstag, 8. Dezember 2012

Sekten - aus der facettenrreichen Vielfalt religiöser Bewegungen



Gerald Willms: Die wunderbare Welt der Sekten.
von Paulus bis Scientology
.            
Mit einem Vorwort von Marco Frenschkowski.             
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012,
320 S.
---
ISBN 978-3-525-56013-6 ---
Ausführliche Beschreibung
Gehören für den Soziologen Gerald Willms die „Sekten“ zur wunderbaren Welt dazu? Der Autor lässt daran kaum Zweifel. Die Vorzeichen vor dem, – wie dann auch immer gedeuteten Begriff: „Sekten“, -– waren im gewohnten Denken mit einer Minusklammer versehen. Gerald Willms bleibt in Beschreibung und Beurteilung unterschiedlicher religiöser Phänomene geschmeidig und leichtfüßig. Dabei liefert er einer Fülle von wissenschaftlichen Fakten, die seine Sichtweise bestätigen. Unspektakulär klärt der Autor in einer Sprache auf, die in den Überschriften, keine Panik aufkommen lässt.
Willms eigene Zugangsweise unterscheidet sich von den bekannten kirchlichen Kompendien. Die großkirchlich eingeleitete Frage: “Ist eine bestimmte Gruppe mit den Richtlinien der Großkirche in Übereinstimmung zu bringen, oder eben nicht?“, entfällt bei Willms. Die Frage: „Darf man – oder darf man nicht?“, wurde bis dato kirchlich erörtert. Willms hingegen sortiert nicht „gut und böse“ aus. Er lässt das Spektrum religiöser Erscheinungen einfach nebeneinander existieren. Für Willms trifft die gängige Anti-Sekten-Polemik nicht zu. Das gewohnte „Schwarz-Weiß-Denken“, fordert deshalb bei der Lektüre der wunderbaren Welt einige konzentrierte Veränderungen. 


Das Buch ist im eigentlichen Sinne die endgültige Aufgabe der ehemaligen alleingültigen kirchlichen Deutungshoheit: Was als „richtig“ oder „falsch“, „wahr“ und „unwahr“ einzuschätzen ist, definierte im christlichen Abendland die Religion in Gestalt der Großkirchen. Was im Glauben „richtig oder falsch“ war, wurde von Gewalt und Inquisition durchgesetzt, und mit dem Aufkommen von Sektenbeauftragten Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts weitergesponnen. In der Gegenwart, wo Groß-Kirchen um gesellschaftliche Bedeutung ringen, wird diese Frage mittlerweile entspannter angegangen. Der notwendige Dialog hat auch in den Kirchen an Bedeutung gewonnen, abgesehen von einer geringer werdenden Zahl von Sektenbeauftragten, die immer noch lautstark rufen: „Es muss doch wenigstens einen Bösewicht geben!“ „Warum?“ fragt man nach der Lektüre des Buches – wenn auf einmal kein Bösewicht mehr auszumachen ist?   
Was wäre wenn der deutsche Papst und der EKD- Ratsvorsitzende diese Leichtigkeit im Umgang mit religiösen Fragen an den Tag legen würden?
Das Entspannende an dem Buch ist: Der Autor muss nicht gegen jemanden oder gegen eine religiöse Richtung opponieren. Man ist bei der Einteilung in „recht“ und „unrecht“ schon auf sich selbst gestellt. Willms nimmt sich die Freiheit heraus, eigenständig zu entscheiden, was er selbst erarbeitet hat. Sogar das eigene Urteil zu Scientology hält der Autor einer angstverzerrten weltanschaulichen Opposition entgegen. Ich verstehe das als einen möglichen demokratischen Akt, der in der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert ist.
Ohne „Aus“- oder „Nicht-Ausgrenzen“ zu müssen, entspannt sich die religiöse Lage von selbst. Von selbst kann es zum heiteren Dialog werden. So lässt sich der Leser vom Autor zum eigenen entspannten Überblick von den Anfängen des Christentums bis in die Gegenwart mit einem Schuss Humor einladen. Jeder mag sich wie der Autor, eine eigene wunderbar- entspannte Welt erschaffen. Willms folgt seinem literarischen Vorbild: „IRRE, wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen.“ Der Kölner Psychiaters und Theologe Manfred Lütz stellte schon 2009 die Frage, wie gefährlich die Normalen sind.
Oder lassen die Normalen nur Humor vermissen? Oder wird es normaler, wenn bei der persönlichen religiös weltanschaulichen Einschätzung sogar mit einem Schuss Humor gedeutet wird? Der Drehbuchautor und Schriftsteller David Safir („Jesus liebt mich“, „Mieses Karma)“ nutzt die gegenwärtige weltanschauliche Verunsicherung ebenso wie der Kabarettist Dieter Nuhr (Nuhr wer´s glaubt wird selig). Welche Befreiung  wird erlebt, wenn sogenannte Glaubenswahrheiten im Lichte des Humors zusammengestellt und verstanden werden? Glaubenswahrheiten humoristisch neu verpackt, scheinen sich sogar zunehmend als Geschäftsideen zu entwickeln.
Mit Willms darf ich persönlich anmerken: Entspannt kann die Evangelische Kirche ihre Suche nach dem eigenen Profil aufgeben. Die Menschen selbst entwickeln bereits in jeder religiösen Richtung unterschiedlich vorhandene Profile. Wie gut ist, dass der Dialog, – vielleicht auch schon der Humor bei der Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) Einzug gehalten hat. Das Buch bietet weitere wunderbare Möglichkeiten, eigene Bilder zukünftiger Religiosität zu entwerfen.            
Da Willms in der wunderbaren Welt der Sekten Martin Luther und sein Wirken eher negativ beurteilt, fühle ich mich als ev. Pfarrer herausgefordert, bei aller berechtigten Kritik an dem Reformator doch gegenzusteuern. Mich fasziniert auch heute noch der junge Luther. Jiddu Krishnamurti beschrieb ihn 1929 mit einem Satz: „...denn ich behaupte, dass die einzige Spiritualität, die Unbestechlichkeit des Selbst ist.“
Und man vergesse es nicht: Zur zeitlos gültigen Unbestechlichkeit gehört auch Humor. Gerald Willms verbindet Sachlichkeit mit dieser heiter gestimmten Gelassenheit. Sie macht das Buch so sympathisch.
Gerhard Kracht
ehemaliger Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen
der Evangelischen Kirche von Westfalen
Rz-Willms-Sekten, 08.12.12