Montag, 20. Januar 2014

Interreligiöse Beziehungen verstehen und vertiefen



David Cheetham / Douglas Pratt / David Thomas (eds.):
Understanding Interreligious Relations.

Oxford (UK) / New York (USA): Oxford University Press 2013, 464 p., ausführlicher Index
--- ISBN 978-0-19-964585-5 ---

 Kurz-Rezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Drei im interreligiösen Dialog engagierte Wissenschaftler haben diesen Band herausgegeben: David Cheetham und David Thomas von der Universität Birmingham und der neuseeländische Religionswissenschaftler Douglas Pratt, zur Zeit an der Universität Bern. Sie verstehen ihre Zusammenarbeit mit den anderen Forschern als Orientierungsarbeit angesichts der Begegnung von Religionen auf unterschiedlichen Ebenen. Sie betonen in ihrer gemeinsamen Einleitung, dass es um die Interaktion von religiösen Gemeinschaften in Geschichte und Gegenwart, um interreligiöses Engagement und um die wissenschaftliche-interdisziplinäre Aufarbeitung der damit zusammenhängenden Phänomene und Probleme geht.


Die Leitfrage ist im Grunde, wie Religionen sich selbst und im Kontext der anderen in einer globalisierten und religiös-pluralen Welt wahrnehmen. Zugleich zeigt sich eine sinnvolle Differenzierung bei der Begegnung mit anderen Religionen. Die Herausforderung durch die „anderen“ hat auch einen inneren Dialog zur Folge, also intra-religiös ist es notwendig, sich im Spiegel der anderen Glaubenstraditionen verändert zu definieren.
Das Buch teilt sich in zwei Teile, einen ersten grundsätzlichen (7 Beiträge), in dem von einer bzw. der (überwiegend christlichen) eigenen Religion der Blick insgesamt geweitet wird. Dem folgen im zweiten Teil 11 Themen und Diskussionspunkte im Kontext interreligiöser Beziehungen.
Teil I: Religion and the Religious Other   
Der Mitherausgeber David Cheetham spricht mehr religionswissenschaftlich und religionsphilosophisch die Frage des religiös Anderen an. Er bezieht sich auf einige Theologen und Philosophen, die eine dialogische Sichtweise in ihrem Denken vertreten. Dies führen z.B. recht unterschiedlich Peter Ochs, Gavin D’Costa, Paul Knitter, John Hick, Emmanuel Levinas und Karl Jaspers vor. Jefferey D. Long (Elizabethtown College, Pennsylvania, USA) diskutiert ähnlich im Kontext von „Hinduism and the Religious Other“. Er beginnt mit der schwer zu beurteilenden Indus-Tal-Zivilisation und kommt über die frühe vedische Periode zum Buddhismus und Jainismus. Dann spielt er die Begegnungserfahrungen des Islam, des Sikhismus und des Christentums mit dem Hinduismus ein. Insgesamt scheinen sich heutige hinduistische Beziehungen zwischen einem (extremen) exklusivistischen Nationalismus und einem inklusivistischen Universalismus zu bewegen. Auch das Judentum kommt über einen inklusivistischen Ansatz nicht hinaus, weil es den Nächsten letztlich doch im eigenen Volk sieht. 
Bei seinem Durchgang durch die Geschichte, betont Ed Kessler (Universität Cambridge, UK), dass Maimonides als erster die positiven monotheistischen Wirkungen von Jesus und Mohammed in den Blick nimmt. Aufklärung und Moderne ermöglichen zwar die „Juden-Emanzipation“, aber zugleich zeigt sich ein wachsender Antisemitismus, der schließlich im Holocaust gipfelt. Zu den neueren Belastungselementen eines dialogisch offenen jüdischen Verständnisses gehört natürlich der Palästinakonflikt, aber „the Jewish reaquaintanenance with the religious <other>“ (S. 86) öffnet die Türen zu einem ehrlichen Dialog.  
Elizabeth J. Harris (Universität Liverpool) versetzt sich in buddhistisches Denken, indem sie sich auf die Lehren des historischen Buddha bezieht und die Beziehungen zu den „Anderen“ ein Stück weit in die indische Geschichte hinein verfolgt, besonders im Blick auf Kaiser Ashoka. Schließlich spricht sie noch die Verbreitung des Buddhismus in Sri Lanka, im Indus-Tal, Tibet, Mongolei und China und Burma an. Hier kommen die schon bald einsetzenden Begegnungen und Auseinandersetzungen mit dem expandierenden Islam sowie dem missionarischen Christentum in den verschiedenen Epochen zur Sprache. Die aktuelle offene Dialogsituation stellt die Autorin noch am Dalai Lama XIV., an Thich Nhat Hanh und Rita Gross vor. Anschließend nimmt sie aktuelle Tendenzen des Engagierten Buddhismus, die Gender-Problematik im Buddhismus und das Konfliktfeld >Konversion< auf. 
Vom Christentum her stützt sich Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster) auf die durchaus differierenden biblischen Aussagen, die er dann in der Kirchengeschichte weiter verfolgt. So werden die zuerst innerchristlichen Konflikte im Blick auf den „Anderen“ thematisiert. Im Weiteren stehen die christlich-islamischen und christlich-buddhistischen Beziehungen im Fokus. Systematisiert wird das Ganze unter den christlichen Zugangsweisen zu anderen Religionen, nämlich unter exklusivistischen, inklusivistischen und schließlich unter pluralistischen Vorzeichen. Der Autor favorisiert im Gefolge von W.C. Smith eine (christlich)-pluralistische Theologie der Religionen. Die Zusammenhänge koranisch-islamischen Verständnisses zu anderen religiösen Traditionen beleuchtet David Thomas (Brimingham). Er gibt einen geschichtlichen Überblick bis in die Gegenwart und hebt für die heutige Zeit besonders die religionsökumenische Offenheit von Ismail Raji al-Faruqi, Mohammed Arkoun und von Mahmoud Ayoub hervor. Es sind Wissenschaftler, die von bisherigen konservativen Traditionen abweichen.
Teil II: Themes and Issues in Interreligious Relations
Dieser Teil des umfassenden Werks fokussiert einzelne Themenschwerpunkte, die interreligiös prägen, bzw. belasten oder zu „Kursänderungen“ herausfordern. Andrew Wingate (Leicester) spricht den „Knackpunkt“ Konversion innerhalb des eigenen Glaubensverständnisses und den Übertritt von der einen zur anderen Religion an. Die Frage ist, ob die Konversion zu einer anderen Religion ein (einmaliges) Ereignis oder ein auch länger andauernder Entwicklungsprozess ist. Er spielt diese Überlegungen an einigen biografischen Beispielen durch. Eine weitere Frage bleibt hier offen, nämlich: Ist Konversion eine individuelle oder gemeinschaftliche Angelegenheit oder beides zugleich? Hier greifen offensichtlich religiös/theologische, kulturell/soziale, persönlich/psychologische und politisch/ökonomische/institutionelle Faktoren ineinander, die eine (rituelle) Verhaltensänderung zur Folge haben. Konversion kann durchaus (nur) eine partielle Assimilation an eine andere Glaubensweise bedeuten. Von daher sollte „Proselytenmacherei“ von den großen Weltreligionen vermieden werden, gerade dann, wenn davon auszugehen ist, dass keine Religion das Monopol auf den Weg zum Heil hat. 
Marianne Moyaert (Freie Universität Amsterdam) lässt die Geschichte des interreligiösen Dialogs Revue passieren, hebt als Wegmarke das Weltparlament der Religionen von 1893 in Chicago hervor, um dann die Folgen innerhalb der ökumenischen Bewegung und seit dem 2. Vatikanischen Konzil zu bedenken. Dann geht sie den Typen des Dialogs nach – mit stärkerer Betonung der Ethik bzw. der Suche nach Wahrheit. Insgesamt zeigt sich die interreligiöse Dynamik in der Spannung von Offenheit und Identitätssicherung, die durch interreligiöse Begegnung immer wieder herausgefordert wird. Da es dabei um ein Verstehen geht, das sich nicht über den anderen stellt, erlaubt der hermeneutische Zugang keine Vereinnahmungstendenz. Peter C. Phan (Georgetown Universität Washington) und Jonathan Y. Tan (Kath. Universität Sydney) diskutieren interreligiöse Beziehungen unter den Gesichtspunkten von Majorität und Minorität. Dialog sieht wesentlich anders aus, wenn eine der Religionen in der Minderheit oder gar unter dem Druck der Mehrheitsreligion steht. Christliche Beispiele dafür sind Pakistan, Indien, Sri Lanka, Malaysia, besonders in der Auseinandersetzung mit dem Islam bzw. dem Hinduismus. Anders stellt sich die Situation in den USA dar, wo die neuen religiösen Minderheiten neue religiöse Identitäten ermöglichen, und zwar durch die Begegnung des Katholizismus mit nichtchristlichen Migranten. Barrieren brechen am leichtesten dort zusammen, wo es in der Begegnung vor Ort gemeinsames Leben und Solidarität zwischen Majorität und Minorität gibt (S. 239). Fundamentalismus, Exklusivismus und religiöser Extremismus machen die interreligiöse Begegnung ausgesprochen schwierig, weil hier Absolutheitsansprüche die offene Diskussion blockieren. Darauf macht der Mitherausgeber Douglas Pratt aufmerksam, nachdem er die Geschichte des Fundamentalismusbegriffs skizziert hat. So kann er zeigen, wie in variierenden Denkschemata (passiv, verstärkend bejahend, selbst-vergewissernd, verurteilend) Religion sehr schnell in Extremismus und Terrorismus münden kann. Verständlicherweise muss (religiöse) Friedensarbeit gerade in Konfliktsituationen Begegnungen ermöglichen, so Anna Halafoff (Universität Victoria, Australien). Nun sind keineswegs immer religiöse Spannungen die Ursachen für Konflikte. Vielmehr schieben sich soziale Probleme, Aufarbeitung (post-)koloniale Strukturen sowie der Umgang mit Migranten und eine zunehmende globalisierte „marketization“ (S. 265) in den Vordergrund. Dies alles hat sich noch durch die Terroranschläge vom 11.09.2001 verschärft. Hier sehen interreligiöse „peacebuilder“ ihre wichtigsten Aufgaben zur Befriedung der Verhältnisse, und zwar besonders religiöse und nicht-religiöse Mediations-Organisationen auf lokaler und globaler Ebene.
Nicholas Adams (Universität Edinburgh, UK) geht ebenfalls den Wirkungen interreligiösen Engagements in der Öffentlichkeit nach. Er benennt anhand wichtiger Publikationen sieben Herausforderungen, die es erlauben von (inter-) religiösem Engagement in „ the public sphere“ oder „ the public square“ in einer medial geprägten Gesellschaft zu reden. Lässt man die Eigeninteressen der Religionen außen vor, geht es letztlich immer um „the common good“ (S. 303). In diesem Zusammenhang äußert sich Mario I. Aguilar (Universität St. Andrews, UK). Er hebt die Korrelation von Dialog, Befreiung und Gerechtigkeit für eine Gesellschaft hervor, um so Menschenwürde nicht nur zu betonen, sondern auch zu sichern. Die entsprechenden katholischen Äußerungen seit dem Vaticanum II können hier eine Orientierung sein, zu Bescheidenheit und Demut anleiten und so die Kooperation mit anderen religiösen Traditionen erleichtern.
In einer globalisierten Welt verändern sich Identitäten. Darum ist es wichtig, multiple religiöse Zugehörigkeiten genauer zu bedenken. Das leistet sehr präzise Catherine Cornille (Boston College, USA). Sie verweist auf die kulturellen und familiären Identitätsmuster, die sich mit anderen Glaubens- und Nicht-Glaubenselementen in einer Person verbinden und angesichts des vorhandenen religiösen Pluralismus neue Persönlichkeitsstrukturen ermöglichen. Das macht natürlich zugleich den interreligiösen Dialog zwischen einzelnen Religionen fragwürdig. Hier erleben wir viele Übergangssituationen („temporary or transitional state“, S. 337), Annäherungen und Notwendigkeit der Neubestimmung von religiöser Zugehörigkeit. Notwendig, aber durchaus schwierig ist es darum, in der Begegnung Grenzlinien zu benennen, wie David R. Vishanoff (Universität Oklahoma, USA) betont. Sie betreffen nicht nur die Essensgewohnheiten, sondern Sprache; Geografie; Nationalität, Rasse, Kultur und Abstammung. Missverständnisse liegen auf der Hand. Denn die unterschiedlichen Gottesvorstellungen, Heilige Orte und synkretistische sowie assimilatorische Elemente erzeugen einerseits Konversionen und andererseits multiple religiöse Identitäten. Dies kann jedoch auch die Begegnung unterschiedlich Glaubender voranbringen. Die moralische Verantwortung gerade der Fachleute liegt darum darin, die (eigene) religiöse Tradition nicht von der übrigen Gesellschaft zu isolieren. Wie von daher interreligiöse Kooperationen praktisch möglich werden (können), zeigt Paul Weller (Universität Derby, UK). Er durchleuchtet die veränderten Kontexte. Als überregionale Beispiele führt er an: „The Council of Christian and Jews“ und „Religions for Peace“. Mit Blick auf Europa – und etwas genauer an Großbritannien ausgeführt – zeigen sich interreligiöse Netzwerke als geradezu notwendige Weiterentwicklungen, um auch in Konfliktsituationen zusammen mit anderen „public bodies“ Frieden stiftend einzugreifen (S. 380).
Nach diesem vielfältigen und beeindruckenden Durchgang durch das Feld interreligiöser Beziehungen – zwischen lokalen und internationalen Rahmenbedingungen – sehen die drei Herausgeber in Konsequenz des Dargelegten interreligiöses Engagement als Zukunftschance. Dabei gilt es jedoch, sehr genau die sich teilweise schnell ändernden Kontexte, gesellschaftlichen Bedingungen und Trends sorgsam zu analysieren. Die Korrelation von religiösen Traditionen, Laizismus und Säkularität im Zusammenhang gesellschaftlicher Pluralität wird zum hermeneutischen Schlüssel. (Inter-)religiöse Verantwortung kommt ohne eine „constructive theology“ nicht aus (S. 400). Eine solche Theologie muss sich jeglicher Prädominanz enthalten, um den Dialog nicht zu gefährden, denn die eine Religion braucht in einer globalisierten Welt die "andere".
Die hier zusammengetragenen Erkenntnisse machen dieses voluminöse Buch zu einem wichtigen Merkposten im weltweiten interreligiösen Dialog.

Vgl. auch das in eine ähnliche Richtung gehende Buch: David Cheetham / Ulrich Winkler / Oddbjørn Leirvik/Judith Gruber (eds.): Interreligious Hermeneutics (2011): http://ein-sichten.blogs.rpi-virtuell.net/2011/06/30/buch-des-monats-juli-2011-interreligiose-interpretationsmuster-im-pluralistischen-europa/
Reinhard Kirste 
Rz-Cheetham-Interrel, 20.01.14 

Montag, 13. Januar 2014

Lernen im Trialog: Gotteshäuser und Feste

Das von der Herbert Quandt-Stiftung geförderte Schulprojekt des interreligiösen Lernens im Kontext von Trialog der Kulturen bietet auch entsprechende Unterrichtsmaterialien. Mit einer Gruppe von Fachleuten - gerade auch aus der Praxis - hat der Religionspädagoge Claus Peter Sajak (Universität Münster) inzwischen zwei Hefte herausgebracht. Sie ermöglichen auf einer soliden theologischen und religionswissenschaftlichen Basis nicht nur Zugänge zu Judentum, Christentum und Islam, sondern auch mögliches Miteinander durch diese Unterrichtshilfen zu vertiefen. Im Rahmen eines Seminars für künftige ReligionslehrerInnen an der TU Dortmund wurden die beiden bisher erschienen Hefte umfassend besprochen.

                                      Lernen im Trialog, Heft 1:
 Clauß Peter Sajak (Hg.):
Gotteshäuser. Entdecken - Deuten - Gestalten.
Sekundarstufen I und II.
Paderborn: Schöningh 2012

Lernen im Trialog, Heft 2: 
Clauß Peter Sajak (Hg.):
Feste feiern. Jahreszeiten  - Mahlzeiten - Lebenszeiten. 
Sekundarstufen I und II
Paderborn. Schöning 2013

Clauß Peter Sajak beschäftigt sich seit längerem mit den Fragen des interreligiösen Lernens.
Davon zeugt z.B. das Buch:

Clauß Peter Sajak, unter Mitarbeit von Katrin Gergen-Woll, Barbara Huber-Rudolf und Jan Woppowa:  Kippa, Kelch, Koran: Interreligiöses Lernen mit Zeugnissen der Weltreligionen.
Ein Praxisbuch
.
München: Kösel 2010 
--- Rezension: hier ---






Freitag, 3. Januar 2014

Integrales Bewusstsein als grundlegende Verbindung zwischen Ost und West



Michael Colsman: Bewusstsein, konzentrative Meditation und ganzheitsorientiertes Menschenbild. Beiträge zu einem Verstehen des Bewusstseins im Buddhismus und im integrativen Denken der Neuzeit (v.a. bei Jean Gebser und Sri Aurobindo).  Bochum : FGL-Verlag 2013, 563 S., Schaubilder, ausführliches Personen- und Sachverzeichnis (zugl. Diss. Universität Oldenburg 2011) --- ISBN 978-3-9815759-0-3 ---

Unter dem Leitmotiv „Bewusstsein“ versucht der Psychotherapeut und Indologe Michael Colsman, eine Brücke zwischen den verschiedenen Bewusstseinskonzepten in der (westlichen) Psychologie und in den asiatischen Traditionen herzustellen. Dabei bezieht der Autor auch Ergebnisse aus den Neurowissenschaften mit ein. Der Kulturanthropologe Jean Gebser (1905–1973) und der indische Yogameister Sri Aurobindo (1872–1950) spielen eine herausragende Rolle, weil beide den zentralen Gedanken der Ganzheitlichkeit als menschlich realisierbare Möglichkeit betonen.


Offensichtlich können „integrales Bewusstsein“ und „integraler Yoga“ als Verbindungsstücke zwischen Ost und West dienen. Damit wird zugleich die Intention anvisiert, wissenschaftliche Erkenntnisse und spirituelle Erfahrungen aufeinander abzustimmen. Diese Tendenz im Spannungsfeld von Theorie und (Übungs-)Praxis zieht sich durch die gesamte Dissertation von Michael Colsman.

In einem umfassenden Grundlagenteil versucht er dafür erste Ergebnisse auf der psychologischen Ebene zu gewinnen, um dann die jeweiligen Bewusstseinsverständnisse in der abendländischen, der indischen und tibetischen Geistesgeschichte systematisierend zu beschreiben. Dann untersucht er hinduistische und buddhistische Konzepte unter Eingrenzung auf einzelne buddhistische Schulen. Unterschiedliche Bewusstseinsfelder umschreibt er dafür auf dem Hintergrund der älteren Texte aus dem Pali-Buddhismus und bezieht dann einzelne Mahayana-Schulen und speziell den  tibetischen Buddhismus heran. All dies kann natürlich angesichts der Materialfülle nur Auswahlcharakter haben. Diesem Grundlagenteil folgt nach terminologischen Klärungen eine Art Übungsteil im Sinne einer „konzentrativen Meditation“ auf buddhistischer Grundlage.

Methodisch geht Colsman phänomenologisch vor, indem er sich auf das „Normalbewusstsein“ konzentriert. Von da aus bedenkt er empirisch sich veränderte Bewusstseinsstufen und ergänzt diese Erkenntnisse unter Berücksichtigung von Ergebnissen aus physiologischen und psychologischen Messverfahren.
Bei seinerintegrativen Arbeitsdefinition von Bewusstsein“ (S. 280–283) geht Colsman von dem nach außen orientierten „Normalbewusstsein“ aus, das durch entsprechende Übungen sensibilisiert und erweitert wird. Im weiteren Verlauf gelingt – wie die verschiedenen Konzepte gerade im speziellen Teil seiner Arbeit zeigen – ein Zugang hin auf „eine direkte tragfähige Verbindung zur höchsten Ebene der über das Weltliche hinausgehenden Wahrheit bzw. Wirklichkeit. So kommt der konzentrativ Meditierende schließlich zum „weisheitlichen Bewusstsein“ (S. 282) und kann sich angesichts der vollen Verwirklichung spirituellen Erwachens auch auf innerweltlicher Ebene voll integrativ entfalten“ (S. 282f).

Was hier als Definition vorweggenommen wurde, beginnt im Grundlagenteil mit einer Eingrenzung und Präzisierung des Bewusstseinsbegriffs. Hier werden menschliche Bewusstseinsebenen im Zusammenhang von pathologischen, meditativen und kontemplativen Veränderungen angesprochen. Colsman interessieren dann besonders die Übergänge vom „Normalen“ zu höheren Bewusstseinsebenen. Dieser Gedankengang wird durch die Darstellung geschichtlicher Entwicklungen zum Bewusstseinsbegriff insgesamt unterbrochen. So folgt ein Überblick aus Sicht der Philosophiegeschichte, der Soziologie und der Neurowissenschaften, um von da die meditativ-kontemplativ veränderten Bewusstseinszustände zu bedenken, wie sie im Abendland eine Rolle spiel(t)en. Dem werden die Positionen von Sri Aurobindo, dem Pali-Buddhismus und mehrerer anderer Schulen des Buddhismus bis hin zum Yogachara (= Ausüben des Yoga) und dem tibetisch-tantrischen Buddhismus gegenüber gestellt.

Im speziellen Teil folgt eine Orientierung im Blick auf die buddhistische konzentrative Meditation mit den entsprechenden Bewusstseinsübungen, um eine „höhere“ Sammlung zu erreichen. Dazu gehören neben der übenden Vorbereitung, der Beachtung der Körperhaltung, die „Inhalte“ der Meditation und spirituelle Wegmarkierungen hin zu „feinkörperlich-formhaften Versenkungsstufen“ (S. 320ff). Sie gipfeln in der Auflösung der Dualität. Was hier mehr allgemein gesagt wird, präzisiert Colsman an Elementen der Mahayana-Tradition, aber ebenso an „eigentlichen konzentrativen Erreichungszuständen“ (S. 373) bis hin zu den „vier unkörperlich-formfreien Versenkungsstufen“ der Unendlichkeit von Raum und Bewusstsein, der Nichtsheit und dem „Schwebezustand zwischen (dual unterscheidenden Erkennen und Nicht-Erkennen“ (S. 397).

Im Anhang, beschäftigt sich der Autor zur Verdeutlichung von Bewusstseinsstrukturen im Buddhismus mit der Mahāyāna-Lehre von den "Drei Körpern"– Trikaya als Modi des vollkommenen Buddha. Hier geht es um das wahre Wesen der Buddhanatur als Dharmakaya = Einsein im kosmischen Bewusstsein, um die Verkörperung der Wahrheit im „Reinen Land“, also um die Erleuchtung = Sambhogakaya und um den Körper der Verwandlung – Nirmanankaya als strahlende Transformation höchster Wirklichkeit und fundamentaler Wahrheit der Leere.

Bilanz

Überblickt man das Ganze, so tritt der dialogische Ansatz Colmans in der Deutung östlicher und westlicher Seinsweisen klar hervor. Dies wird im Spannungsbogen von spiritueller Realisierung und westlich-wissenschaftlicher Analyse an Sri Aurobindo und dem allerdings umstrittenen Jean Gebser „durchgespielt“ – im Sinne von „integralem“ Bewusstsein“ bei Gebser und „integralem“ Yoga bei Sri Aurobindo. So scheinen die Interpretationen buddhistischer Bewusstseinszustände durch die Linse dieser beiden Persönlichkeiten  gebrochen zu sein. Gebsers kulturanthropologisches Modell zum Verständnis in der abendländischen Geschichte (vgl. S. 48ff) gewinnt faktisch eine hermeneutische Leitfunktion für die Gegenwart (Vgl. „Integrality and Embodiment in Jean Gebser and Sri Aurobindo“ von Debashish Banerji: http://www.sciy.org/?p=9062). Das hat auch Auslegungskonsequenzen für die angesprochenen asiatischen Traditionen.
Nun macht es die hier vorgelegte Dissertationsfülle allerdings nicht leicht, die Menschenbilder von Jean Gebser und Sri Aurobindo auf eine umfassende Anthropologie hin zu diskutieren. Bei einer verkürzenden Straffung des Textes (besonders der Anmerkungen) ließe sich mit dem Autor leichter bedenken, wie weit das Verständnis ganzheitlicher Ansätze nicht dogmatisch fixiert, sondern im Sinne unberechenbarer Erfahrung
offen bleibt.

Reinhard Kirste
Rz-Colsman, 03.01.14

Donnerstag, 2. Januar 2014

Islam-Orientierung für Jugendliche und Erwachsene - ohne Vorurteile



Lamya Kaddor / Rabeya Müller
(Illustrationen: Alexandra Klobouk): Der Islam.
Für Kinder und Erwachsene.
 
München: C.H. Beck 2012. 175 S., Abb.,
Anhang mit Literaturhinweisen, Register und Verzeichnis der Koranstellen
--- ISBN 978-3-406-64016-2 ---

 Kurzrezension: hier

Ausführliche Besprechung

Der Islam ist ein Dauerthema in Deutschland. Oft werden jedoch Halbwissen und Vorurteile zu einer polemischen Brisanz gemischt, der argumentativ schwer beizukommen ist. Die beiden Autorinnen bemühen sich seit Jahren kompetent, dem ein unverstelltes, ehrliches Bild vom Islam entgegenzusetzen. Lamya Kaddor hat als Islamlehrerin in der Schule und Islamwissenschaftlerin Grundlegendes geleistet. Rabeya Müller, islamische Theologin und Religionspädagogin, hat ein umfassendes religionspädagogisches Islam-Konzept entworfen, das sie auch in vielen Ausbildungs- und Fortbildungskursen weiter verbreitet. Beide gehören zu den Gründerinnen des Liberal-islamischen Bundes1.
Bereits 2008 brachten sie eine Auswahl von Korantexten für Kinder und Erwachsene heraus.2 Das nun vorgelegte Buch ist gewissermaßen Fortsetzung und grundlegende Verstärkung dessen, was in der Koran-Übertragung nur auf die wesentlichen Texte bezogen war.


Zur Struktur und zum Inhalt
Die thematische Zusammenstellung des Buches geht vom Glauben aus, und zwar im Blick auf das Gottesverständnis – erläutert an den 99 schönen Namen Gottes (Kap. 1: Viele Namen, ein Gott). Dem folgt die Vorstellung der Glaubenskonkretionen und Rituale (Kap. 2: Fünf Säulen, ein Glaube). Dann kommt die Moschee als Gebäude, in ihrer Funktion mit ihrem „Personal“ in den Blick (Kap. 3). Besonders erhellend ist der Abschnitt über die Koranschulen, über die in der Öffentlichkeit und gerade in den Medien viele Missverständnisse kursieren. 
Dasselbe gilt vom Koran als Wort Gottes (Kap. 4). Auch hier wird Grundsätzliches mit praktischer Orientierung verbunden (z. B. Speisegesetze). Das Reizwort Scharia (Kap. 5) erfährt mit den entsprechend aufgearbeiteten historischen Hintergründen wie den Rechtsschulen eine sinnstiftende Orientierung im Sinne gelebter Rechtmäßigkeit, deren Basis der Koran ist. Der Stellung des Gesandten/Propheten Mohammed als Überbringer abschließender Offenbarung wird sowohl biografisch wie entwicklungsgeschichtlich nachgegangen und die Unterschiede etwa zwischen Sunniten und Schiiten einbezogen (Kap. 6). Dass die beiden Autorinnen die Gender-Problematik, Sexualität und Ehe im Islam in all ihren Schwierigkeiten sehen und die aktuelle Problematik unprätentiös angehen (Kap. 7), macht das Buch besonders sympathisch. Das gilt gerade für Begriffe wie Homosexualität, Zwangsheirat, Ehrenmord und Kopftuch.
Nur in scheinbar ruhigere Bahnen führt das Kap. 8 über Tradition und Kunst. Hier wird zum einen die kulturelle Offenheit des Islam im Prinzip herausgehoben, aber auch auf volkstümliche Vorstellungen (wie der „böse Blick“) eingegangen. Schließlich wird das Bilderverbot und Karikaturenstreit präzise thematisiert.
Beim Thema der Beziehungen zwischen den verschiedenen Mitmenschen und die Stellung der Religion in der Gesellschaft sprechen die Autorinnen zum einen die Vernunftbezogenheit islamischen Denkens an, die Absage an jegliche Missionsbemühungen und den vom Koran gebotenen Respekt vor den Andersgläubigen (Kap. 9). Sie betonen damit die im Wort „Islam“ steckende Verbindung im Sinne von „Frieden“. Im Kap. 10 über Islam und Politik werden die Grundmuster  islamischer Verantwortung herausgestellt. Sie wehren sich gegen den „Heiligen Krieg“ und den Märtyrer-Terrorismus und zeigen die Notwendigkeit moralischer Anstrengung (dschihad) als religiöse Pflicht. Dem Monopol beanspruchenden Fundamentalismus wird dabei keine Chance gegeben. So gehört innerislamische Kritik zum Grundmuster diskursiven Denkens beider Autorinnen (so auch in Kap. 11), ebenso wie die Ablehnung, Islam und Terrorismus immer wieder gleichzusetzen.
In diesem 11. Kapitel steht die islamische Vielfalt in Deutschland im Mittelpunkt. Sie bedarf auch der kritischen Begleitung. Verdeckte oder gar offen zur Schau getragener Islamfeindlichkeit ist jedoch kontraproduktiv. Die Autorinnen machen deutlich, dass es „den“ Islam nicht gibt, was auch ein Blick in die weltweite islamische „umma“ zeigt. Imgrunde hätte der Anhang auch als eigenes Kapitel gezählt werden können, weil er „anschaulich“ den Umgang mit Bildern thematisiert. Das betrifft sowohl das islamische Bilderverbot wir die von Bildern geprägten Medien und den Stellenwert islamischer Medien in Deutschland überhaupt.
Bilanz
Die Autorinnen sind sich im Klaren, dass sie nicht den Islam repräsentieren, sondern ihre Sicht auf ihre Religion darstellen. Sie belegen dies mit der aktualisierenden Interpretation vieler Koranzitate. So scheint ein Verständnis des Islam auf, der nicht die großen Schlagzeilen bringt, aber dafür dem interkulturellen Verständnis dient. Hinzu kommt, dass das Buch in einer leicht zugänglichen Sprache geschrieben ist. Allerdings dürfte es vom Duktus und Stil her weniger für Kinder als vielmehr für Jugendliche und natürlich Erwachsene geeignet sein. Als Sachbuch hält es zum einen wissenschaftlichen Kriterien stand und zum andern ist es eine Lektüre, die nicht langweilt. Dazu verhelfen auch die Illustrationen, die dem Buch bei aller inhaltlichen Gewichtigkeit einen leichten „Touch“ vermitteln (sollen).
Bei den Tabellen und Schaubildern ergibt sich durch die Art der Zeichnungen und durch die Schreibschrift eine gewisse Unübersichtlichkeit (vgl. S. 16-17, 19. 21, 27, 30f, 78-79, 146f, besser z.B. S. 85). Dies sind jedoch eher optische Unschärfen, die die Gesamtintention letztlich nicht beeinträchtigen.        
Wenn das Wort nicht negativ besetzt wäre, könnte man das Buch als gelungenes populärwissenschaftliches Werk betrachten. Sowohl Muslimen, aber auch Christen, überhaupt allen einigermaßen religiös Interessierten kann es darum ein guter Wegweiser sein.
Reinhard Kirste,
 Rz-Kaddor-Müller-Islam, 14.09.12
Anmerkungen
1)  Zur Information über den Liberal-islamischen Bund vgl. die Selbstdarstellung: http://www.lib-ev.de/