Samstag, 22. Juli 2017

Koran-Übersetzungen in europäischen, türkischen und ostafrikanischen Kontexten (aktualisiert)

Christian Mauder / Thomas Würtz /
Stefan Zinsmeister (Hg.):
Koran in Franken. Überlegungen und Beispiele
 für Koranrezeption in fremden Kontexten.

Judentum – Christentum – Islam.
Interreligiöse Studien Bd. 15.
Würzburg: Ergon 2016, 199 S.
 --- ISBN 978-3-95650-220-0 ---



Buch des Monats April 2017

der InterReligiösen Bibliothek (IRB)

Wenn man den Titel „Koran in Franken“ hört, löst dies sicher zuerst Verwunderung aus. Mit diesem Thema beschäftigte sich eine Tagung im Jahre 2011. Bei genauerem Nachdenken hat man schon eine Ahnung, und die Herausgeber bestätigen es (S. 9): Der Dichter und Begründer der Orientalistik, der Franke Friedrich Rückert (1788 – 1866), wurde zu einer Art Leitmotiv: Rückert gelang es mit seiner Übersetzung von Teilen des Korans, die Poesie dieser Heiligen Schrift mit bewusst deutschen Rhythmen zur Sprache zu bringen. Dieser Versuch ist bisher einzigartig geblieben. Die berühmte Orientalistin Annemarie Schimmel war davon überzeugt, dass Rückerts „Über-Setzung“ immer noch die beste aller deutschen Übertragungen sei.
Das Buch wurde von drei jüngeren Theologen und Islamwissenschaftlern herausgegeben. Der Geschäftsführer der Rückert-Gesellschaft, Rudolf Kreutner, hat in seinem Geleitwort Friedrich Rückert als Übersetzer selbst sprechen lassen. Die vorliegenden Beiträge bieten allerdings keine koranische Regionalgeschichte, sondern sie zeigen vielmehr, wie die Rezeption des Korans in unterschiedlichen regionalen und kulturellen Kontexten eine eigene Dynamik entwickelt. Das wird durch den Untertitel bereits deutlich.
So wird nach einleitenden Überlegungen natürlich ein fränkischer Schwerpunkt gesetzt, um von dort weitere Kontexte zu berücksichtigen und Übersetzungen, z.B. das Türkische oder das Swahili einzubeziehen.
Damit man aber die Bedeutung Frankens für Koranübersetzungen seit dem Ende des Mittelalters wirklich wahrnimmt, stellt der Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin unter dem Titel: Der Koran in Franken [deutsche] Übersetzungen des arabischen Originals vor. Er erläutert dazu die historischen Hintergründe und auch eine gewisse Offenheit der lutherischen Theologie gegenüber dem Koran. Letztere hängt mit der Wirkung von Georg Calixt (1586–1656) zusammen. Er war von Melanchthons Theologie und dem Humanismus gleichermaßen beeinflusst. Er lehrte an der damals bedeutenden Universität Helmstedt.
Die vollständige erste deutsche Koran-Ausgabe erschien 1616 in Nürnberg von Salomon Halbmeier, 1623 ebenfalls in Nürnberg von Salomon Schweigger; eine Latein-Übersetzung 1543 in Basel von Johannes Oporinus. Eine Überarbeitung der Schweiggerschen Ausgabe erfolgte 1559 wieder in Nürnberg. Im 18. Jahrhundert fällt zuerst die Übersetzung der englischen Ausgabe des Schotten Alexander Ross „The Alcoran of Mahomet“ (1649) ins Gewicht. Sie benutzte der aus Nürnberg stammende lutherische Theologe David Nerreter (1703) für seine Verdeutschung und Widerlegung. Der Schweinfurter Sprachgelehrte Friedrich Rückert wird dann intensiv gewürdigt: Seine „Koranübersetzung ist vor allem deshalb so einzigartig, weil sie sich in Stil, Rhythmus und Sprachklang engstens an das Original anlehnt und ihm meisterhaft nachempfunden ist“ (S. 33). So sieht man sehr klar, dass Franken für die Übertragungen des Korans ins Deutsche eine wesentliche Bedeutung gewonnen hat.
Gewissermaßen einen kleinen Praxistest dazu unternimmt der Bochumer Islamwissenschaftler Dara Alani: Eine sprachliche Untersuchung der vielschichtigen Erzählung über das Abraham-Opfer (Genesis 22, Sure 37). Als ein im Koran geoffenbarter Text wird die Notwendigkeit deutlich, zum Verstehen alle zur Verfügung stehenden sprachanalytischen und hermeneutischen Methoden zu nutzen.
Was haben der „Koran in Franken“ sowohl mit der modernen arabischen Literatur wie dem religiösen Erbe gemeinsam? fragt die Berliner Islamwissenschaftlerin Susanne Enderwitz.  Sie erinnert an die allegorische Deutung koranischer Mythologie im 20.Jh. Zur Konkretion zieht sie literarische Beispiele aus Ägypten heran: Nagib Mahfus, Taha Husain und ´Ala al-Aswani. Sie stehen alle auf der Seite eines aufgeklärten und sufisch gefärbten Islam und geraten dadurch in Gegensatz zu den herrschenden (diktatorischen) Machteliten. Zu hoffen bleibt, dass die arabische Literatur stark genug ist, die Rückschläge nach dem arabischen Frühling zu verkraften und weiterhin Impulse für die Zukunft zu setzen.
Der Spezialist für das orientalische Christentum, Martin Tamcke (Universität Göttingen), unterzieht den Koran einer transkulturellen hermeneutischen Prüfung aus christlicher Sicht. Hier gilt zuerst die Verschiedenheit von Christentum und Islam festzuhalten. Der Autor hinterfragt die gängige Meinung des Christentums als Buchreligion. Vergleiche zwischen Bibel und Koran sind auch deshalb schwierig, weil der Koran den Anspruch hat, unmittelbar Gottes Wort zu sein. Eine interreligiöse Zwiesprache im Sinn von Martin Buber erscheint als die angemessenste Möglichkeit (S. 76). Das Ziel wäre also ein gemeinsames Lernen am Koran, „das der Verschiedenheit Rechnung trägt und doch geprägt ist von der Suche nach dem Gemeinsamen“ – im Sinne gemeinsamer religiöser Basis (S. 77).
Das 19. Jahrhundert brachte für die Kunst(lehre) des Übersetzens einen wichtigen Schub. Hans-Peter Pökel (Freie Universität Berlin) geht in seinem Beitrag Lost Translation – Der fremde Koran im neunzehnten Jahrhundert von Friedrich Schleiermachers hermeneutischem Konzept aus. Die Schwierigkeiten des Übersetzens als Übertragen in die Gegenwart wirken sich natürlich entsprechend auf das Verständnis des Korans aus. Das haben auch der französisch-israelische Schriftsteller André Chouraqui und der Philosoph Walter Benjamin betont. Denn welcher Bedeutungsgehalt soll vermittelt werden? Die Koran-Editionen des 19. Jh.s zeigen zwar immer wieder ins Spiel kommender negativer Vorverständnisse, aber es gibt auch ein positives Bemühen: Man will den Koran innerhalb der drei monotheistischen Glaubensdokumente sachgemäß verorten und anerkennt damit die geistige Nähe der drei Religionen.
Ausführlich bearbeitet Thomas Würtz (Katholische Akademie und FU Berlin) Chancen und Schwierigkeiten deutscher Koranübersetzungen an Sure 21,107. Hier steht der Gedanke der Barmherzigkeit jeweils im Mittelpunkt. Der Autor macht sich die Mühe, die Übersetzungen von 1616 (Salomon Schwaigger) bis 2009/2010 (Milad Karimi, Hartmut Bobzin) nachzuverfolgen. Er wirft dann noch einen Blick auf Koranübersetzungen in Englisch, Französisch, Türkisch und Persisch. Weil das Übersetzungsgeschehen mehr sein muss als bloße Mitteilung, müsste im Grunde  der Koran in der neuen Sprache auch neu klingen (S. 153).
Unter türkischen Vorzeichen zeigt Hüseyin  Ağuiçenoğlu (PH Weingarten) wie das absolute Koranverständnis als geoffenbartes Wort Gottes im Osmanischen Reich Übersetzungen des Heiligen Buches lange verhinderte. Erst 1841 erschien eine türkische Ausgabe. Die Entstehung des (säkularen) Nationalstaates verdrängte das Arabische. Der arabische Originaltext des Korans wurde dadurch zur Ritualsprache. Mit dem Ende des republikanischen Deutungsmonopols erfuhr die Koranexegese in der Türkei eine beachtliche Viefalt. Das sich in letzter Zeit wieder verschärfende Problem ist jedoch, dass neben dem kemalistisch-laizistischen Islam die traditionell-islamistische Korandeutung zunehmend an Boden gewinnt. Die Auffassungen der Diyanet-Behörde haben hier jeweils Deutungshoheit. Im Jahre 2011 verweist der Autor allerdings noch zurückhaltend auf zunehmende Absolutheitsansprüche.
Ähnlich stellt sich auch die Situation der Swahili-Übersetzungen dar, wie John Chesworth (Universität Birmingham) beschreibt: The Quran in Swahili Translations, Tensions and Teachings. Seine Beispiele stammen aus der Küstenregion Ostafrikas und aus Sansibar. Die religiösen Lehrer in Lamu, Mombasa und Sansibar misstrauten Swahili-Übersetzungen des Korans aus ähnlichen Überlegungen, wie sie auch Hüseyin  Ağuiçenoğlu benannt hat. Interessanterweise erschienen die ersten Übersetzungen auf Seiten des Christentums und der als nicht orthodox angesehenen Ahmadiyya: 1923 in England (!). dann 1953 und 1969 in Nairobi: Weitere Übersetzungen erschienen in Dubai 1995 und 2003 in Daressalam, die 2. Aufl. 2008 in Qom, Iran (also aus schiitischer Perspektive). Immerhin, die Muslime an der Küste Ostafrikas konnten nun den Koran in ihrer Sprache leichter verstehen. Dies bedeutete zugleich auch eine bessere Verständigung für die Begegnung von Christen und Muslimen unter Heranziehung ihrer Glaubensurkunden in der Volkssprache.
Eine interessante Tendenz erwähnt der vom Autor nicht herangezogene Religionswissenschaftler Klaus Hock (Universität Rostock). Er hatte schon 1987 (Köln u.a.: Böhlau) in seiner Studie „Gott und Magie im Swahili-Islam“ die flexible Haltung dieser ostafrikanischen Variante des Islam betont: „Der Islam hat es nicht nötig, neue religiöse Ausdruckformen aus sich selbst heraus zu setzen, da ihm viele Formen traditioneller Religiosität in Regionen außerhalb des islamischen Zentrum kompatibel sind.“ (aaO S. 153). Vgl. Rezension des Buches in "Ein-Sichten"

Bilanz
Das Buch macht insgesamt deutlich, dass die Begegnung mit dem Koran in deutscher Sprache die grundsätzlichen Fragen einer sich ändernden Koranrezeption aufwirft. Die verschiedenen kulturellen Bedingungen und Geschichtsentwicklungen dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden.
Der Weg vom arabischen Original in die Volks- und Landessprachen hat auch eine Veränderung islamischer Vorstellungen zur Folge. Darin zeigt sich nicht nur die Flexibilität des Islam als „Volksreligion“, sondern auch die Anpassungsfähigkeit und Transfer-Notwendigkeit, um den Glauben authentisch, überzeugend und aktualisierend unter den jeweiligen Zeitbedingungen zu leben. Das sei allen Fundamentalisten ins Stammbuch geschrieben !

Aktuell:
Politischer Islam in Ostafrika (Länderbericht KAS, 21.07.2017) 
Reinhard Kirste

Rz-Mauder-Koran in Franken, 31.03.2017





Freitag, 21. Juli 2017

Kurz vorgestellt: Gewalt in den Weltreligionen



Cover for 

Violence and the Worlds Religious Traditions

Violence and the World's Religious Traditions

An Introduction

Edited by Mark Juergensmeyer, Edited by Margo Kitts, and Edited by Michael Jerryson

Oxford University Press 2017, 256 pp.
ISBN: 9780190649661
  • Dieses Buch bietet eine gute Einführung, um die Gewalttendenzen innerhalb der jeweiligen religiösen Tradition besser zu verstehen. Zugleich zeigen die Texte Argumentationslinien "across multiple faiths".
  • Die Autoren sind anerkannte Forscher in diesem Feld.
  •                                               

Mittwoch, 12. Juli 2017

Wieder im Blick: Indien und die Kastenproblematik

Miriam Nandi: M/Other India/s. 
Zur literarischen Verarbeitung von Armuts- und Kastenproblematik 

in ausgewählten Texten der indisch-englischen und muttersprachlichen indischen Literatur seit 1935. Anglistische Forschungen Bd. 377.

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007, 298 S.
(gleichzeitig Diss. Universität Freiburg/Br.)
ISBN 978-3-8253-5285-1

Der Titel verrät bereits die Spannung, in die hinein dieses Buch geschrieben ist. Die Zeit des Kolonialismus ist vorbei, und postkoloniale Theorien über Indien und besonders angesichts der Reizworte Kasten Armut, Orient zeigen eine Mischung aus Sehnsucht und Arroganz auf. Aber gerade die inner-indische Kritik nimmt im Spannungsfeld des anglisierten, intellektuellen städtischen Indien und der bitterarmen Landbevölkerung des „anderen Indien“ zu. Mit eigenem indisch-biografischen Hintergrund recherchiert und analysiert die 1974 geborene Verfasserin postkoloniale Literaturtheorien.

In ihrer klar gegliederten Dissertation, in die sie prägnant ausgewählte Literaturbeispiele (nur Prosa) eingefügt hat, arbeitet sie ein Stück weit die postkoloniale Ambivalenz auf, die Indien prägt. Sowohl in der englischsprachigen wie in der muttersprachlichen indischen Literatur des 20. Jahrhunderts (im Übergang von der Britischen Kolonie zur Unabhängigkeit und danach) zeigt sich diese Problematik, die damit zusammenhängt, dass zum einen die Mittelschicht in einem Lebenshorizont zu Hause ist, der immer noch durch die teilweise seltsame Hochachtung vor dem ehemaligen Kolonialherrn geprägt wird und zum anderen die Kastenlosen und damit auch die Dalit-Literatur außer acht lässt. Hier schlägt Miriam Nandi eine Schneise. Das Übrigbleiben des „Vaters“ und der Verlust von Mutter Indien hängt offensichtlich mit der hegemonialen Kolonial-Kultur und dem Problem der Subalternität zusammen Nandi stützt sich dabei . auf die Post-Kolonialismustheorien von Jacques Lacan und Homi Bhabas und deren Verständnis des Anderen – mit Rückbezug auf J. Derrida. Unbestritten, aber oft recht zwiespältig taucht das „andere Indien“ (M-other India) zwischen Unterdrückung und Widerstand auf – u.a. beispielhaft an den Dalit-Bewegungen und der Konversion Bhimao Ambedkars auch in der Auseinandersetzung mit Gandhi (S. 98ff) dargestellt.
Die Autorin zieht dann eine Reihe von Beispielen aus der indischen Literatur heran, SchriftstellerInnen, die auch in Europa teilweise sehr bekannt wurden und für ein westliches Publikum offensichtlich auch durch die Mischung aus Exotik und Sozialkritik hohe Attraktivität gewannen und gewinnen, wie die Indien-Veranstaltungen beispielsweise rund um die Frankfurter Buchmesse 2006 zeigten. Es sind Prosatexte indischer Autoren, die entweder englisch schreiben oder deren Muttersprache eine der indischen Hauptsprachen ist. Es kann hier nicht auf die einzelnen Literaturbeispiele eingegangen werden, es seien nur einige Namen und Titel genannt, auf die Nandi ausführlich eingeht: Mulk Raj Anand (Untouchable), U.R. Ananatha Murthy (Samskara), Mahasveti Devi (Draupadi), Arundathi Roy (The God of Small Things) und Shasi Deshpandi (The Binding Vine). Aber sie berücksichtigt auch Vikram Seth (A Suitable Boy), Vikram Chandra (Shakti), Salman Rushdie (Midnigh’s Children) sowie Amitav Gosh (The Hungry Tide).
Als Ergebnis sieht Miriam Nandi angesichts der vielfältigen Umbrüche auf dem indischen Subkontinent, dass die Theorie der “postkolonialen Ambivalenz“ geradezu ein hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis anderer postkolonialer Literatur (nicht nur in Indien) sein kann. Für Indien aber gilt, dass das Andere Indien „aus dem Diskurs des Postkolonialismus nur scheinbar verschwunden“ ist – „als phantasmatische(s) M/Other India, als Objekt der Sehnsucht und der Angst, sucht es die indische Literatur immer wieder auf unheimliche Weise heim. Das ‚wirkliche’ Andere Indien bleibt damit freilich unerreichbar.“ (S. 278). Solange also die soziale Kluft und die weiter bestehenden Kastenideologien die literarischen Diskurse prägen, schwankt das Indienbild zwischen dem „kolonialen Vater“ und den „vorkolonialen Mutter“, und beides will nicht zusammenkommen (vgl. bereits S. 21). Die Problematik scheint sich weiter zu verschärfen, wenn der kritische Intellektuelle zum Fürsprecher des subalternen Anderen werden will (S. 22).
Nun geht es Nandi Miriam weder um das Hochloben subversiver literarischer Kritik noch um die Auseinandersetzung mit nationalistischen Fantasien. „Aus der Sicht der Theorie der postkolonialen Ambivalenz ist auch engagierte Literatur letztlich Teil eines postkolonialen Identitätsdiskurses, in dem es einerseits um Abgrenzung von den kolonialen Patriarchen, andererseits jedoch um das brüchige Verhältnis zwischen anglisierten Intellektuellen und ihrem ‚subalternen’ Anderen geht (vgl. S. 274f). Sie hat ebenfalls deutlich gemacht, wie problematisch Projektionen des „Anderen“ sind: So positiv das „andere Indien“ hervorgehoben wird, so schnell macht sich auch die dunkle Seite dieses Anderen breit. Als ein vermutlich „typisch“ westlicher Leser bleibt der Rezensent ausgesprochen nachdenklich zurück, und in die Faszination der Extreme mischen sich die Fragen, welchen Weg Indien wohl in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen und wie das „Real India“ wohl aussehen wird.
Reinhard Kirste

 Rz-Nandi, 26.12.07 

Mittwoch, 5. Juli 2017

Wieder im Blick: Frauen im Buddhismus

Agnes Pollner: Die weibliche Seite des Buddha.
Ein Lesebuch.

Stuttgart: Theseus 2008, 440 S.
--- ISBN 978-3-7831-9535-4 ---
Die Autorin, buddhistische Meditationslehrerin der Vajrayana-Richtung (Diamant-Fahrzeug) hat sich nach 12 Jahren als Theaterschauspielerin entschieden, selbst kreative Prozesse unterschied­licher Art anzuleiten. Sie gehört zum Netzwerk „Tara Libre“ um Sylvia Wetzel und hat selbst den Verein „Frauen im Aufbruch“ gegründet, der das Element des Weiblichen in buddhistische Praxis einbringt. Im Vorwort weist Sylvia Wetzel, ehemaliges Vorstandmitglied in der DeutschenBuddhi­stischen Union (DBU) und bekannte Meditationslehrerin, warum dies ein besonderes Buch ist:
„Frauen gehörten zwar nie zum Mainstream des Buddhismus, aber sie befassten sich in allen Jahrhunderten und Kulturen mit den Lehren des Buddha und seiner Nachfolger und Nachfolgerinnen. Sie übten diese Lehren selbst, und sie versorgten Mönche und Nonnen, Einsiedlerinnen und Einsiedler mit Essen und Kleidung. In den Zeiten und Regionen, wo Frauen Zugang zu Besitz und Bildung hatten, förderten sie Nonnen und Mönche im großen Stil durch den Bau von Klöstern und durch großzügige Geld-, Nahrungs- und Kleiderspenden … Zu allen Zeiten gehörten Frauen auch zu der kleinen Gruppe derer, die die Lehren des Buddha mit Leib und Seele übten … Eine Zen-Lehrerin in Los Angeles war es Ende des 20. Jahrhunderts leid, immer nur die Namen der männlichen Ahnen zu rezitieren, und so stellte Wendy Egyoku Nakao Sensei … eine Liste buddhistischer Frauen … für eine Liturgie zusammen. Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, werden im Zen Center von Los Angeles die männliche und die weibliche Linie im Wechsel angerufen, und dieses Beispiel macht Schule“ (S. 13f).
Dies ist faktisch der Hintergrund für die Entstehung des Buches, besonders weil Agnes Pollner, bevor sie an die Niederschrift ging, einen Teil der hier versammelten Frauen-Geschichten erzählend in Meditationskurse einbrachte. Dies allein würde jedoch zum Verständnis nicht ausreichen, darum unternimmt es die Autorin, diese Geschichten von weisen Frauen, Heldinnen, Yoginis (Yoga Übende), Dakinis („Engel“), „Heiligen der besonderen Art“ (insgesamt eine Auswahl von 70 Frauen) vorzustellen. Sie ordnet diese den einzelnen buddhistischen Traditionslinien zu – dem frühen Buddhismus (überwiegend Theravada-Geschichten im 1. Teil), dem Mahayana mit den Schwerpunkten Indien, China und Japan im 2. Teil und schließlich dem tantrischen Buddhismus, also dem in Tibet und den umliegenden Regionen beheimateten Vajrayana-Buddhismus, im 3. Teil. Hier kommen auch drei Frauen in besonders ausführlicher Weise zur Sprache, deren Bedeutung Agnes Pollner unter den Gesichtspunkten der Körperlichkeit besonders hervorhebt:
  • Machig Labdrön (wahrscheinlich 11./12. Jh., die Dämonenbezähmerin und die „Erfinderin“ des Chöd, einer speziellen Übung des „Durchschneidens“ eines falsch verstandenen Ichs (S. 342 ff).
  • Mandarava (8. Jh.), die schon als Inkarnation des heiligen Flusses Ganges zu Lebzeiten des historischen Buddhas erschienen war.
  • Yeshe Tsogal (wahrscheinlich 757–817), ebenfalls schon früher reinkarniert und eine der eifrigsten Yoga-Übenden (Yoginis) und tibetische Wanderpredigerin.
Historische Unsicherheiten sowie legendarische Übermalung und Erweiterung gehen dabei eine nicht ohne Weiteres aufzulösende Verbindung ein. Wichtiger jedoch als die historische Klärung sind ihre Geschichten in der der buddhistischen-spirituellen Wirkungsgeschichte. Obwohl ihr Herz wohl etwas stärker in Richtung Tantrismus schlägt, geht es der Autorin wohl nicht nur um die berühmten Frauen: „Die tantrischen Schriften weisen immer wieder daraufhin, dass … besonders jene Frauen gemeint sind, denen man im Alltag begegnet, nicht nur weibliche Lichtgestalten, denen man in der Abgeschiedenheit der Meditation huldigt. Diese Anweisungen richten sich an ein männliches Publikum, das eine antrainierte Abneigung gegen weibliche Körperlichkeit aus dem monastischen Umfeld mitbringt“ (S. 261).
Es ist natürlich nicht möglich, hier auf alle Frauengeschichten und die Vielfalt der buddhistischen Veränderungspraxis einzugehen. Offensichtlich haben Frauen hier etwas in Bewegung gebracht, weil sie bewusst oder unbewusst aufgrund der männlichen Dominanz bisher nicht genügend berücksichtigt wurden. Diese Geschichten, eingebettet in knappe, meist präzise Hintergrundinformationen machen aber durchweg deutlich, dass – wie offensichtlich in vielen Religionen – das weibliche Element aus patriarchalem gesellschaftlichen Interesse vernachlässigt bis unterdrückt wird. Auch der historische Buddha brauchte erst kräftige Hinweise, um überhaupt Nonnenorden zuzulassen.
Wie „Erwachen“ geschieht, zeigen viele Beispielgeschichten, so wie jene der Zen-Meisterin Mugai Nyodai (aus Japan), die Sutras rezitiert, den Klosterhof fegt, schweigt und Wasser im Bambus-Eimer aus dem Brunnen holt. Einmal beim Wasserholen zerbricht der Eimer: „Auf die eine oder andere Weise versuchte ich immer den Eimer zusammenzuhalten, hoffte, der schwache Bambus würde niemals nachgeben. Plötzlich fiel der Boden heraus: Kein Wasser mehr, kein Mond im Wasser mehr. Und Leerheit in meiner Hand“ (S. 200).
Der Zugang zu diesem flüssig und anregend geschriebenen Buch kann auf zweierlei Weise geschehen. Zum einen durch „Schmökern“, wie die Autorin sagt, es ist bewusst als „Lese-Buch“ konzipiert. Aber zum anderen lohnt sich auch der systematische Zugang, gerade wenn man die verschiedenen buddhistischen Richtungen etwas besser in ihrer Frauen-Geschichte und der weiblichen Erleuchtungskraft kennen lernen will.

Weitere Titel zum Thema:

  • Ellison Banks Findly (ed.): Women's Buddhism, Buddhism's Women. Tradition, Revision, Renewal.
    Boston (USA): Wisdom Publ. 2000, 498 pp., index
  • June Campbell: Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen. Weibliche Identität im tibetischen Tantra. Aus dem Englischen von Theo Kierdorf und Hildegard Höhr. Berlin: Theseus 1997, 320 S.
  • Bimala Churn Law: Women in Buddhist Literature [1927].
    Varanasi (India): Indological Book House 1981, 128 pp. + index: VII pp.
  • Rita M. Gross / Rosemary Radford Ruether: Religious Feminism and the Future of the Planet. A Buddhist-Christian Conversation. London / New York: Continuum 2001, 229 pp.
  • Karma Lekshe Tsomo (Hg.): Töchter des Buddha. Leben und Alltag spiritueller Frauen im Buddhismus heute. Aus dem Englischen vom Sakyadhita-Übersetzerinnenteam.
    München: Diederichs 1991, 326 S., Glossar
  • Ayya Khema / Pema Chödrön: Offenes Herz - mutiger Geist. Oy-Mittelberg: Jhana Verlag 2004, 368 S. 
  • Susan Murcott: Bouddha et les femmes. Les premières femmes bouddhistes d'après le Therigatha. Traduit de l'anglais par Bénédicte Niogret. Paris: Albin Michel 1997, 267 pp.
  • Carola Roloff (Jampa Tsedroen): Publikationen zum Buddhismus, auch Thema: Nonnen
  • Rozett, Ella: Himmelsläuferinnen - Die Engel des tibetischen Buddhismus?
    In: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): Engel - Elemente - Energien. Religionen im Gespräch, Bd. 2 (RIG 2). Balve: Zimmermann 1992, S. 350-360
  • Judith Simmer-Brown: Dakin's Warm Breath: The Feminine Principle in Tibetan Buddhism.
    Boston (USA): Shambhala Publ. / Random House 2001, XXV, 404 pp.
  • Kathryn Ann Tsai (Translation): Lives of the Nuns. Biographies of Chinese Buddhist Nuns from the Fouth to Sixth Centuries. Honolulu (USA): Univ. of Hawaii Press 1994, XI, 188 pp., index
  • Masatoshi Ueki: Gender, Equality in Buddhism.
    Asian Thought and Culture, Vol. 46. New York a.o. 2001, XV, 215 pp.
Reinhard Kirste 
Rz-Pollner (bearb). 23.02.2017 

Samstag, 1. Juli 2017

Maimonides: Versöhnung von Glaube und Vernunft - Sehnsucht nach der Weisheit

Géraldine Roux: Maïmonide ou la nostalgie de la sagesse.  
Maimonides oder das Heimweh / die Sehnsucht nach der Weisheit
Coll. Points Sagesses 310.
Paris: Éditions Points (Seuil) 2017, 208 pp
 --- ISBN 978-2-7578-1630-1 --- 
Die Philosophieprofessorin Géraldine Roux ist zugleich Direktorin des Raschi-Instituts in Troyes. Der Name des berühmten Rabbiners und Talmud-Gelehrten Raschi von Troyes (1040–1105) steht für bahnbrechende hermeneutische Leistungen zum Bibel- und Talmud-Verständnis – mit großem Einfluss sogar auf christliche Exegeten.

Géraldine Roux hat sich als Kennerin mittelalterlicher Philosophie und besonders der Werke des Moses Maimonides (1135/1138–1204) schon länger einen Namen gemacht. Ihre Veröffentlichungen zu diesem Thema kreisen immer wieder um die Fragen von Glaube und Vernunft, Wissen und Weisheit.       Das hat sie besonders in ihrem Buch über den Horizont des Wissens bei Maimonides verdeutlicht: Vom Propheten zum Weisen - Du prophète au savant. L’horizon du savoir chez Maïmonide. Paris, Cerf, 2010, 359 pp. --- Vgl. dazu die Rezension von Anna Caiozzoin : Médiévales 64 / printemps 2013: Temporalités de l'Égypte: https://medievales.revues.org/7032 

--- Mehr zur Person von Géraldine Roux: hier


Das vorliegende Taschenbuch komprimiert nun in präziser Weise Leben und Werk des großen jüdischen Philosophen. Die Lesenden brauchen keine speziellen Sachkenntnisse. Sie können sich gut in die biografische und geistige Entwicklung dieses Brückenbauers zwischen Bibel, Talmud und griechischer Philosophie hineindenken. Wichtige Texte werden kommentierend zitiert. In einem persönlich eingefärbten Vorwort schreibt die Autorin von der eigenen Faszination, die Maimonides bei ihr auslöste: Wege des Verstehens zu eröffnen, ohne fertige Lösungen bei der Hand zu haben. Denn diesem Weisen gelang es, eine gemeinsame Sprache zu finden, die es Philosophie und Religion erlaubte, miteinander zu kommunizieren (S. 11).


In der EinleitungEin vorwärts treibendes Heimweh“ („Une nostalgie propulsive“) geht die Autorin zuerst den Legenden zur Biografie des Maimonides im Kontext der Kreuzfahrerzeit nach. Es sind Spannungen und Widersprüche, die sich zum Teil aus seinen Tora- und Talmud-Interpretationen ergeben. Sie beschreibt weiterhin im Rahmen seines Lebens die Entwicklung seiner theologisch-philosophischen Konzepte, aber auch seine konkreten religiösen und politischen Empfehlungen, basierend auf einem komplexen Verständnis jüdischen Glaubens. Die Zielrichtung des Buches liegt in der ausführlichen Darstellung des „Führers der Unschlüssigen“ bis hin zu der bleibenden Frage, wie weit eine Intellektualisierung des Glaubens gehen kann bzw. muss.

Géraldine Roux geht im 1. AbschnittJahre des Umherrirrens („Les années d’errance: de Fostat au Maroc“) – auf die Diskriminierungs- und Verfolgungssituation der spanischen Juden im 12. Jahrhundert ein, die durch die almohadische Eroberung ausgelöst wurde. Maimonides plädiert: Wer in solcher Bedrohungssituation seine Glauben verbirgt oder gar abfällt, sollte jedoch milde behandelt werden.
Im 2. Abschnitt – Neubegründung der Wissenschaft vom Gesetz, die Ankunft in Ägypten („Refonder la science de la Loi, l’arrivée en Égypte“) – zeigt die Autorin, wie Maimonides ein Politik-Projekt für die jüdischen Gemeinschaften entwickelt. In der reformierenden Restaurierung des von Gott gegebenen Gesetzes und im Erfinden einer gemeinsamen Sprache für Philosophie und Religion setzt er neue Möglichkeiten dialogischer Begegnung frei. Das geschieht angesichts messianischer Versuchungen und apokalyptisch zunehmender Hoffnungen. Mit den drei Kronen Keter Torah – Krone des Gesetzes,  – Keter Kehuna – Krone der priesterlichen Weihe und Keter Malkhut – Krone des Königtums ( = die des Davidssohnes und Messias) stellt er eine Entwicklung dar, deren Ende noch nicht gekommen ist. Der Messias als König, Prophet, Lehrender ist eine orientierende Symbolfigur, die allen Völkern gilt. Die Tora-Auslegung selbst eröffnet universale Weite.
Im 3. Abschnitt – Ratlosigkeit und Revolte („Perplexité et révolte“) ist der Ausgangspunkt die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit und der eigenen Konditionierung. Letztlich kann nur der Geist allein die Notwendigkeiten des Körpers regeln, und zwar durch ein mentales Training, das durch philosophische Meditation und ein asketisches Leben ermöglicht wird. Aber wenn die Harmonie von Körper und Seele das zu erreichende Lebensziel sind, warum sprechen dann schmerzvolle Fakten und das Leiden dagegen? Zur Präzisierung dieser Probleme beschäftigt sich Maimonides mit der Physik des Aristoteles. Hier werden nämlich grundlegende Begriffe definiert, die zum Verstehen im Leben gebraucht werden, nämlich Raum, Zeit und Ursache. An der Geschichte des biblischen Hiob ergeben sich u.a. zwei Fragen: Was ist das für eine göttliche Vorsehung, wenn der Gerechte leidet? Was spielt sich vor dem himmlischen Gerichtshof im Blick auf Hiob ab (Kap. 2), als der Teufel sich dorthin einlädt? (vgl S. 99ff und S. 95–98, als Textauszug: hier)

Für Maimonides wirken die weisen Talmudlehrer selbst ratlos. Rabbinische Dispute verhindern eine legitime Orientierung und ein angemessenes Konzept zum Verstehen. So geht Maimonides in seinen Kommentaren zu Mischna und Tora und im berühmten Führer der Unschlüssigen, der Ratlosen bzw. Verwirrten eigenständig dn aufbrechenden Problemen nach. Géraldine Roux fasst diese nicht auf eine Linie zu bringenden Grenzerfahrungen so zusammen: Die Perplexität, die Ratlosigkeit wird zum Instrument, die Begrenztheit des Verstandes anzuerkennen und die Unfähigkeit der Vernunft zu akzeptieren. Zugespitzt: „Die dogmatische Vernunft verdammt die Tür zur Metaphysik und mit derselben Geste, die aus ihr hervorgegangenen Wissenschaften“ (S. 119).
Die Ratlosigkeit kommt nicht aus der Annahme eines verzweifelten Gewissens angesichts der Beschränktheiten des Verstandes (intelligence). Denn diese Begrenzungen sind objektiv, „der Fehler liegt in dem schlechten Gebrauch des Verstandes“ (aaO).
So ist die Unschlüssigkeit/die Ratlosigkeit nicht sinnlos, sie ist vielmehr eine Durchgangsstation, eine Vorbereitung, um die Sinnlosigkeit zu überwinden. Die Schleier, die über den Geheimnissen des Lebens lagen, werden ansatzweise gehoben. der Weg durch die (symbolische) Wüste nach dem inneren Zusammenhalt von Immanenz und Transzendenz wird zum initiatischen Weg, zum Weg der Weisheit, der in die Gotteserkenntnis mündet.
Im 4. Abschnitt – Der Weg der Weisheit („Le chemin de la sagesse“)kommen die vergessenen Lebenswurzeln des Judentums, nämlich die Geheimnisse der Tora zur Sprache. Wie kann man jüdische Weisheit wiederfinden, wenn man das Lernen und den Unterricht vergessen hat? Es muss also ein Weg eröffnet werden, um den Talmud mit den philosophischen Ideen zu versöhnen – noch umfassender: Wie kann man Glaube und Vernunft in Harmonie bringen? Darum ist eine „innere“ Führung notwendig, die mit äußeren quasi lexigrafischen Beschreibungen des Lebens beginnt und metaphorisch und allegorisch weiterschreitet und so wieder Licht zum Verstehen der Tora bringt. Es ist zugleich ein Weg der Negation. Er offenbart die Trennlinie zwischen Gott und Mensch. Das bedeutet, Gott kann man nicht irgendwelche positiven Attribute zuordnen, diese signalisieren ja fehlende Vollkommenheit. Nur durch Negation kann man sich den verborgenen Wahrheiten annähern. Dies ist eine Methode bewusster Beschränkung menschlichen Verstehenwollens. Konkret: die Offenbarung des Gottesnamens an Mose (Exodus 3) ist für Maimonides „die Offenbarung einer auf sich selbst bezogenen Identität, welcher der ontologische Beweis seiner Existenz ist“ (S. 158), also kein begrifflicher Name, sondern eine Umschreibung: „Ich bin, der ich bin, ich werde sein, der ich sein werde.“(Ex 3,14). Auf diesem Wege gelangt der „unschlüssige/perplexe Weise“ über mehrere Glaubens-Stationen (dégrés de croyances, S. 176) von der naiven Anbetung zu einem wahrhaften Kult („culte suprème“, S. 166). Gesetz und Tora sind hier Ausdruck einer universalen Vernunft unter Einbeziehung der menschlichen Vernunft mit ihren äußeren, auch religiösen Begrenztheiten. Auch die anderen Religionen haben Defizite, aber sie werden zu Weggenossen im Blick auf den Monotheismus und die fundamentale Rationalität des Gesetzes (S. 171).             
Das Ziel ist also nicht die Wiederherstellung eines äußeren (in der Vergangenheit zerstörten Tempels in Jerusalem), sondern die Liebe Gottes im Sinne eines Tempels in einem selbst. Praktisch geschieht das durch die stufenweise Annäherung an das göttliche Gesetz, wodurch sich die eigene Ignoranz in Erkenntnis verwandelt.
Als Schlussfolgerung bedenkt die Autorin die Nachwirkungen des Maimonides („La postérité de Maïmonide“) in der Geschichte der Philosophie, besonders was Baruch de Spinoza (1632–1677) und Moses Mendelssohn (1729–1786) betrifft. Maimonides, der Vater des philosophischen jüdischen Rationalismus, hat viele weitere mehr rationalistische Richtungen und verinnerlichte Frömmigkeitsformen angestoßen. Die Dualität in seinem „Führer der Unschlüssigen“ jedoch ist nur oberflächlich. Denn es geht um eine verinnerlichte Praxis des Gesetzes. Maimonides hat ermöglicht, sich auf die sufische Tradition einzulassen, die zugleich in eine jüdische Praxis integriert ist. Und die von ihm geprägte Haskalah, die jüdische rationale Bildung, brachte in der Folgezeit eine Annäherung an eine besondere jüdische Aufklärung hervor, die in der Tiefe die moderne deutsche Philosophie beeinflusste.
Bilanz:
In präziser Weise und gut nachvollziehbar zeichnet Géraldine Roux für jede/n an der Geistesgeschichte Europas Interessierte/n die bahnrechende Leistung dieses Meisters nach. Maimonides gelang es, die metaphysischen Probleme damaliger Wissenschaft so in eine philosophische Aufklärung zu bringen, dass die Religion darin einen glaubwürdigen Platz finden konnte – beeindruckende Etappen auf dem Weg von Glauben und Wissen zur Weisheit. Es wäre schön, wenn dieses Buch auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen könnte.
Mehr zu Leben und Werk von Maimonides  (mit Textbeispielen):      
https://textmaterial.blogspot.de/2017/03/moses-maimonides-die-versohnung-von.html
Reinhard Kirste
Rz-Roux-Maimonide, 24.03.17   
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