Montag, 10. Dezember 2018

Mouhanad Khorchide: Koran-Auslegung im Licht der Barmherzigkeit Gottes


Mouhanad Khorchide:
Gottes Offenbarung
in Menschenwort.
Der Koran im Licht der Barmherzigkeit.

Herders theologischer Koran-Kommentar 1.
Freiburg u.a.: Herder 208. 350 S.
--- ISBN: 978-3-451-37902-4 ---
  • English summary at the end of the review
  • Résumé français au bout du compte rendu

Im Jahre 1987 veröffentlichte der christliche Islamwissenschaftler Adel Theodor Khoury (in Zusammenarbeit mit Muhammad Salim Abdullah) eine sorgfältige Koranübersetzung. Auf dieser Grundlage erschien von 1990–2001 ein zwölfbändiger wissenschaftlicher Kommentar (mit Übersetzung auf der Basis der Standardkoranausgabe, Kairo 1923). 

Nun spielt bekanntermaßen gerade in der Textinterpretation das jeweilige Vorverständnis eine nicht zu unterschätzende Rolle. Darauf hat bereits der evangelische Exeget Rudolf Bultmann aufmerksam gemacht. Von daher kündigt sich mit dem 1. Band des Koran-Kommentars (von insgesamt 17 geplanten Bänden) des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide aus Münster ein spannendes Wissenschaftsprojekt gerade im Gegenüber von christlicher und islamischer Theologie an.
Der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster hat sich bereits mit seinen systematischen Beiträgen zum generellen Verständnis zentraler islamischer Glaubenskonzeptionen einen Namen gemacht. Er wird allerdings von konservativen islamischen Theologen immer wieder für seine Position angegriffen, besonders im Zusammenhang seines Buches „Islam ist Barmherzigkeit“.
Mehr zu Mouhanad Khorchide und zum „Koran-Projekt“:
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2013/01/islam-ist-barmherzigkeit.html
Nun sind international gesehen, bereits viele Koran-Kommentare auf dem Markt. Was unterscheidet die Intentionen Khorchides von anderen? Sein unbestreitbares Verdienst scheint zu sein, dass er sachkompetent traditionelle Interpretationsmuster und notwendige Aktualisierungen nicht gegeneinander ausspielt, sondern moderne „westliche“ wissenschaftliche Exegese mit den vielfältigen islamischen Auslegungstraditionen verbindet. Damit überwindet er zugleich dogmatische Einseitigkeiten mit dem Ziel – literaturwissenschaftlich und exegetisch begründet – Kommentierungen „im Licht der Barmherzigkeit Gottes“ zu leisten. Dies wirkt wie ein hermeneutischer Schlüsselbegriff für das gesamte Projekt. Zur Präzisierung setzt er sieben Orientierungspunkte (S. 11–14):

1.
  Der Koran als Selbstmitteilung Gottes
2.  Es gilt, das neuzeitliche Freiheitsdenken zusammen mit der islamischen Offenbarung
     wirksam werden zu lassen.
3.  Die Einbeziehung eines transzendental-logischen Zugangs zu Gottes Selbstoffenbarung
     (im Sinne des katholischen Fundamentaltheologen Thomas Pröpper)
4.  Die Betonung der spirituellen Dimension des Korans
5.  Das „Wesenswort“ Gottes ist nicht mit dem arabischen Koran abgeschlossen.
     Gottes Gegenwart ist mehr als ein Buch. Darum kann es keine endgültige Koran-Auslegung geben!
6.  Der Koran ist zugleich ein ästhetisches Werk, das von der „Schönheit Gottes“ erzählt.
     Darum ist Gottes Offenbarung mehr als eine bloße Instruktion.
7.  Bei der Auslegung des Korans wird sich zeigen, dass gerade durch die historisch-kritische Methode
     Zugänge eröffnet werden, und zwar als
     „Geschichte der Entfaltung der liebenden Barmherzigkeit Gottes“.
Nach diesen Klärungen erfolgt in Kapitel 2 (S. 16–77) ein geschichtlicher Überblick über die variantenreiche Geschichte der Koranauslegung von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Den Überblick über die westliche Koranforschung leistet dazu Dirk Hartwig (Universität Münster). Spannend in diesem Zusammenhang ist, dass Khorchide bei der Koranforschung im 19./20. Jahrhundert auch die Wissenschaft des Judentums, im Zusammenhang des Reformjudentums einbezieht und besonders Abraham Geiger hervorhebt. Das Kapitel gipfelt in der Bedeutung der von Angelika Neuwirth weitergeführten wissenschaftlich neutralen Koran-Betrachtung.
Vgl. Die Vielfalt der Koranübersetzungen und Kommentare:
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2012/04/der-koran-vielfalt-der-ubersetzungen.html
Die Kapitel 3 und 4 (S. 78–212) nehmen die hermeneutischen Fragen zum Koranverständnis systematisierend auf. Khorchide wagt einen anthropologischen Zugang zur Offenbarung Gottes im Islam. Vom Menschen her denkend und zugleich die göttliche Selbstmitteilung als Glaubenshorizont festhaltend, wird der Koran zum Wortgeschehen: Es ereignet sich Gottes liebende Barmherzigkeit. Sie wird zum hermeneutischen Schlüssel, der den Koran in seiner außerordentlichen Schönheit und damit in seiner Unnachahmlichkeit aufleuchten lässt. Dass Khorchide Friedrich Schillers Ästhetik-Verständnis hier als hermeneutische Unterstützung gewinnt, macht die Lektüre dieser Passagen besonders reizvoll.
Hier gibt es also ein Zusammenspiel literaturwissenschaftlicher Erkenntnisse und ästhetischer Zugangsweisen zu einem Offenbarungstext. Damit wird aber zugleich deutlich, dass ein solches sprachmächtiges Ereignis wie der Koran nicht einfach in juristische Nomenklaturen eingezwängt werden kann, vielmehr wird hier die „bleibende Offenheit des Korans“ in seiner Bedeutungsvielfalt signalisiert: Kapitel 5 (S. 213–230). Das bedeutet jedoch keineswegs hermeneutische Willkür, weil der Schlüssel (= Kriterium) der Barmherzigkeit Gottes Begegnung ermöglicht, die sich als liebende Erfahrung realisiert (S. 229), wie dies übrigens im Neuen Testament gleichermaßen der 1. Johannesbrief bezeugt.
Aber eine wesentliche Hürde ist noch zu nehmen: Die in der Bibelwissenschaft seit der Aufklärung ins Spiel kommende und höchst ausgefeilte historisch-kritische Methode muss auch auf den Koran anwendbar sein: Kapitel 6 (S. 231–316). Wenn es nämlich richtig ist, dass auch der Koran wie jeder literarische Text unter historisch-kritischen Gesichtspunkten zu analysieren ist, muss sich ein umfassendes Verstehen auch damit auseinandersetzen. Hier geschieht etwas Ähnliches wie in der Bibelforschung, besonders im Verständnis der Bibel als Gottes Wort. Die historisch-kritische Theologie musste lange gegen viele Widerstände ankämpfen. Khorchide führt hier aus, wie intensiv er sich mit der christlichen Theologie in ihren liberalen und konservativen Ausprägungen (von Joseph Ratzinger bis Gerhard Ebeling) an dieser Stelle befasst hat. An einigen Koran-Texten – zuweilen  im Vergleich mit dem biblischen Text – zeigt er, wie er die Ergebnisse historisch-kritischer Methode auf den Koran anwendet. Das beginnt bei der Übersetzung des Arabischen für nicht-arabische Leser/innen, nötigt zu genauer Textanalyse und fordert dazu heraus, die Koransuren literaturkritisch zu untersuchen. Dass dabei Überlieferung- bzw. Traditionsgeschichte (ich möchte hinzufügen: auch in sozialgeschichtlichen Zusammenhängen), sowie redaktionelle Bearbeitungen der Texte und Formkritik eine wesentliche Rolle spielen, steht auch für den muslimischen Islamwissenschaftler außer Frage.
Keineswegs überträgt Khorchide Erkenntnisse der Bibelwissenschaft einfach auf eine dialogoffene Koranhermeneutik, Er nutzt aber z.B. die Formgeschichte als methodologisches Werkzeug für weitere Schritte. Der Weg führt darum vom methodischen Erkenntnisgewinn zum Verstehen. Es gibt keinen neutralen Standpunkt, Gottes Selbstoffenbarung entzieht sich jeder Objektivierbarkeit. Der Theologe betont im Ausblick des Buches, dem Kapitel 7 (S. 317-325), dass sich Erfahrung nur im unmittelbaren Kontext menschlicher Geschichte zur Sprache bringen lässt. Das heißt konkret, wie und wo Gott sich jeweils wieder gegenwärtig liebend und barmherzig erweist, lässt sich nicht objektivierend festlegen, sondern bleibt Geheimnis. (S. 320–322).

Bilanz: In der Spannung von Offenbarung und Vernunft 
Mouhanad Khorchide leistet mit dieser Konzeption eines islamischen Korankommentars einen erstaunlichen Brückenschlag, den es in dieser Weise bisher nicht gibt. Die traditionelle islamische Koranwissenshaft zeigt sich dabei keineswegs so einheitlich, wie das oberflächlich und fundamentalistisch oft behauptet wird. Es gibt sogar eine Reihe erstaunlicher „Übergänge“ in die europäische Geschichts- und Literaturwissenshaft und Annäherungen an die historisch-kritische Forschung. Der Koran als geoffenbartes Gotteswort ist zwar ein historischer Text aus dem 7. Jahrhundert, aber er wird zum Wortgeschehen im Sinne des darin hörbar werdenden liebenden Anspruchs Gottes. Der scheinbare Widerspruch „westlicher“ und östlicher Interpretationsmethoden erweist sich keineswegs als grundsätzlich.

Natürlich bleiben wichtige Fragen, die sich besonders aus der Geschichte der historisch-kritischen Bibel-Exegese nun auch für die gegenwärtige Koran-Auslegung stellen. Aber auch in der christlichen Theologie wird ja die Begrenztheit der historisch-kritischen Forschung gesehen, weil die Begegnung mit der Bibel als eines unbedingten (göttlichen) Anspruchs eine Hermeneutik im Sinne eines heute (noch und wieder) geschehenden Wortes erfordert. So ist der Diskurs über die Vernunft bezogene und spirituell-dialogische Kraft der Auslegung von „Gottes Wort der Barmherzigkeit und der Liebe“ eröffnet!

Man darf gespannt sein, wie Khorchides grundsätzliche Analysen und Erkenntnisse bei der Auslegung seines Koran-Kommentars vom Damals zum Heute umgesetzt werden. Es ist bereits abzusehen, dass dies kein Korankommentar wird, in dem Sure für Sure abgehandelt wird, sondern bestimmte Themenbereiche im koranischen Zusammenhang interpretiert werden, z.B. die Bedeutung der  Schöpfung, der Propheten, die Ethik und Scharia oder die Gender-Problematik und das Verhältnis zu den Nicht-Muslimen.

English Summary: Qur’an interpretation in the light of God's mercy
The Islam scholar Mouhanad Khorchide (University of Münster), who became known through his open-minded Islamic theology, sees himself confronted with the debates about the "true" understanding of the Koran. Therefore he seems to be in the same boat as Christian theologians with regard to the Bible. The sacred texts, in addition to their claim of revelation, are at the same time literary works. They show often a considerable poetic power. It seems that Khorchide’s undeniable merit is that he does not play off the traditional traditions of interpretation against necessary updates for the sake of today’s understanding. Rather, he connects them to "Western" scientific exegesis in their literary and historical-critical focus. But there can be seen also discrepancies in using interpretative methods for the Qur'an and for the Bible. But they are in no way fundamental differences. So Khorchide’s systematizing hermeneutics become an art of understanding. He sees his planned comprehensive commentary on the Qur’an in the horizon of the self-communication of God, hermeneutically pointed out "in the light of his mercy". He can also point to the fact that Christian theology also refers to the limitations of historical-critical research. We remember: the encounter with the Bible as Word of God also means that an absolute claim becomes audible. An art of understanding therefore requires not staying in the historical, but challenges a counterpart to the biblical texts in an updated manner. The text becomes an event of language! You feel it very clearly: Here, on the basis of the Qur’an, the discourse on a spiritual-dialogical interpretation of "God's Word of Mercy and Love" has been opened!

Résumé français: Interprétation coranique à la lumière de la miséricorde de Dieu
Le spécialiste de l'islam Mouhanad Khorchide (Université de Münster), qui s'est fait connaître par sa théologie islamique avec l'esprit ouvert, se voit confronté aux débats sur la "véritable" compréhension du Coran.
Il semble, qu’il se trouve dans le même bateau que les théologiens chrétiens concernant la Bible. Car les textes sacrés, outre leur prétention de la révélation, sont à la fois des œuvres littéraires – souvent avec un pouvoir poétique du parole.
Il me semble que Khorchide ait un mérite indéniable: Il ne se sert pas des traditions d'interprétation traditionnelles contre les mises à jour qui sont nécessaires pour la compréhension aujourd'hui. Au contraire, il associe les textes coraniques à l'exégèse scientifique "occidentale" dans son contexte littéraire et historico-critique. Cependant, les méthodes d'interprétation du Coran et de la Bible sont parfois très différentes, mais elles ne sont pas fondamentales.
Sa herméneutique systématisante se dévéloppe d’une doctrine artistique de la compréhension. Il voit son commentaire projeté sur le Coran dans l’horizon de la manière comme Dieu se révèle. On le peut formuler "à la lumière de sa miséricorde" - comme pourissment herméneutique". Il peut se référer au fait que la théologie chrétienne se réfère également aux limites de la recherche historico-critique. Car la rencontre avec la Bible signifie aussi qu'une revendication absolue devient audible. Une doctrine de compréhension nécessite donc de ne pas se tenir dans l'historique. Nous nous souvenons: la rencontre avec la Bible comme parole de Dieu provoque une correspondance sous les conditions d’aujourd’hui. Le texte devient une parole d’événement! On le sent très clairement: ici, sur la base du Coran, le discours est ouvert sur une interprétation spirituelle et dialogique de la "Parole de miséricorde et d'amour de Dieu"!
Reinhard Kirste
Rz-Khorchide-Koran-10.12.2018




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