François
Déroche:
Le Coran, une histoire plurielle.
Essai sur la formation du texte
coranique
Paris: Seuil 2019, 297 pp.,
illustr., bibliographie., glossaire
--- ISBN 978-2-02-141252-9 ---
--- Der Koran, eine vielfältige Geschichte.
Essay über die Entstehung des Korantextes ---
Die Debatten um ein
sachgemäßes Verständnis des Korans in der Gegenwart beschäftigen in letzter
Zeit intensiv Islamwissenschaftler und Philologen weltweit sowohl auf
christlicher wie auf islamischer Seite. Der renommierte Koranforscher,
François Déroche (geb. 1952) ist nicht nur Professor am Collège de France,
sondern auch Leiter des Forschungsprojekts [Laboratoire] „Histoire du Coran. Texte et Transmission“. In das vorliegende Buch
fließen darum bisherige Forschungsergebnisse mit ein, die seit 2015 jährlich
veröffentlicht wurden:
2016-2017 --- La canonisation du texte
coranique -Version PDF
2015-2016 --- Le manuscrit coranique sous la
dynastie omeyyade
Version PDF - Publication numérique
(OpenEdition)
2014-2015 --- La voix et le calame. Les chemins de la canonisation du Coran Version PDF - Publication numérique (OpenEdition)
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Als Wissenschaftler geht
Déroche davon aus, dass alle religiösen Traditionen mit ihrem
Offenbarungsanspruch als göttliches Wort eine mehr oder minder längere Phase
der mündlichen Weitergabe erlebt haben. Davon kann der Koran nicht ausgenommen
werden. Verstärkend kommt hinzu, dass nach der Tradition das Original des
Korans im Himmel aufbewahrt wird, was natürlich ein relativierendes Licht auf
die irdischen Kopien wirft, die diese eigentlich sehr genau widerspiegeln
müssten. Déroche vergleicht nun die ältesten, noch vorhandenen koranischen
Manuskripte miteinander,
um besonders die Varianten und Versionen von den mündlichen Traditionsanfängen
bis ins 8. Jahrhundert zu untersuchen.
um besonders die Varianten und Versionen von den mündlichen Traditionsanfängen
bis ins 8. Jahrhundert zu untersuchen.
Der Autor geht nun
in 5 Schritten vor, um das im Vorwort bereits mehr thesenhaft Vorgestellte
zu belegen. Dies wird zu einem spannenden Gang durch die verschiedenen Koranversionen
unter Berücksichtigung oraler Überlieferungen.
In der Einleitung spricht Déroche die Bewertungsschwierigkeit mit
den verschiedenen Textvarianten des Korans an, die teilweise nur durch die
Hadithe belegt sind. Er nennt u.a. das bekannte Beispiel der Steinigung von
Ehebrechern, das nicht im Koran steht; aber der Hadith hat Spuren von Versen
aufbewahrt, die dem koranischen Corpus verloren gegangen sein könnten oder
bewusst nicht in den koranischen Kanon aufgenommen wurden (S. 31f).
1. Kapitel: Entstehung des Korans
und die Ursprünge der Variationen
Auch
der Koran ist als ein antiker Text zu verstehen und entsprechend zu
untersuchen. Er beschreibt jedoch göttliche Offenbarungen an den Propheten
Mohammed zu verschiedenen Zeiten. Diese sind weder historisch noch
chronologisch eindeutig zuzuordnen. Außerdem muss man festhalten, dass der Bestand
der Offenbarungen mit dem Jahren erheblich anwuchs, aber es verschwanden auch Worte.
So sind die ersten Niederschriften der göttlichen Worte unterschiedlich, zumal sich
die arabische Schrift erst entwickelte und die Punktation der einzelnen Worte
Varianten zuließ. Darum muss man nicht nur die einzelnen individuellen Suren
berücksichtigen, sondern den Corpus der Offenbarungen insgesamt.
Bereits hier spricht Déroche an, was er im Kapitel 5 ausführlich behandelt, nämlich die Verfestigung der mündlichen Überlieferung durch ihre Verschriftlichung und die Beschränkung auf sieben Offenbarungsvarianten (Hadith der 7 Ahruf). Es sollte schließlich ein einheitlicher Koran-Text geschaffen werden (S. 71f).
Bereits hier spricht Déroche an, was er im Kapitel 5 ausführlich behandelt, nämlich die Verfestigung der mündlichen Überlieferung durch ihre Verschriftlichung und die Beschränkung auf sieben Offenbarungsvarianten (Hadith der 7 Ahruf). Es sollte schließlich ein einheitlicher Koran-Text geschaffen werden (S. 71f).
2. Eine
genauere Beachtung erfordert nun, wie
bei der Entstehung des schriftlichen Korans die mündliche Überlieferung
eingeflossen ist (2. Kapitel).
Ehe die Offenbarungen des Propheten in der Zeit in Mekka und Medina aufgeschrieben wurden, war das Gedächtnis seiner auswendig gelernten Worte durch seine Gefährten der entscheidende Übertragungsfaktor. Sie gaben die Botschaft auch an andere weiter. Es entstehen Übertragungsketten (isâd). Hier liegt bereits eine Reihe von Unterschieden in der Weitergabe begründet. Daraus folgt, dass auch die ersten schriftlichen Fixierungen dieser Worte verschiedene Lesarten hervorbrachten, die mit der Rezitation der jeweiligen Abschnitte, der Suren, zu tun haben. Déroche vergleicht dazu einzelne Suren der verschiedenen Manuskripte. miteinander. Die Benutzung eines Wortes mit unterschiedlicher Bedeutung bzw. die Ersetzung durch ein anderes Wort, Die unterschiedliche Punktation bestimmter Wörter signalisiert eine beachtliche Variationsbreíte, die der Autor an mit Fotos dokumentiert, so etwa Sure 36,35 (S. 85ff), 10,22 und 23,112-114 (S. 99-105). In der Tradition werden 14 solcher Varianten akzeptiert, die scheinbar/anscheinend niemals inhaltsverändernd waren.
Ehe die Offenbarungen des Propheten in der Zeit in Mekka und Medina aufgeschrieben wurden, war das Gedächtnis seiner auswendig gelernten Worte durch seine Gefährten der entscheidende Übertragungsfaktor. Sie gaben die Botschaft auch an andere weiter. Es entstehen Übertragungsketten (isâd). Hier liegt bereits eine Reihe von Unterschieden in der Weitergabe begründet. Daraus folgt, dass auch die ersten schriftlichen Fixierungen dieser Worte verschiedene Lesarten hervorbrachten, die mit der Rezitation der jeweiligen Abschnitte, der Suren, zu tun haben. Déroche vergleicht dazu einzelne Suren der verschiedenen Manuskripte. miteinander. Die Benutzung eines Wortes mit unterschiedlicher Bedeutung bzw. die Ersetzung durch ein anderes Wort, Die unterschiedliche Punktation bestimmter Wörter signalisiert eine beachtliche Variationsbreíte, die der Autor an mit Fotos dokumentiert, so etwa Sure 36,35 (S. 85ff), 10,22 und 23,112-114 (S. 99-105). In der Tradition werden 14 solcher Varianten akzeptiert, die scheinbar/anscheinend niemals inhaltsverändernd waren.
3. Die islamische Tradition der Anfänge
bei der schriftlichen Überlieferung des Korans
bei der schriftlichen Überlieferung des Korans
Die Problematik
mündlicher Überlieferung ist jedoch, dass irgendwann doch Wichtiges verloren
geht, besonders weil durch kriegerische Ereignisse in der Nachfolge des
Propheten einige der ersten Zeugen starben. Darum ließ der Kalif Abu Bakr, ein
Gefährte des Propheten, die bisher bekannte Überlieferung schriftlich fixieren.
Déroche erläutert
detailliert, wie einzelne Schreiber die Offenbarungsworte festhielten, so dass
diese dann dem Nachfolger von Abu Bakr, dem Kalifen Umar ibn al-Khattâb
(634-644) präsentiert werden konnten. Sie stellen die erste vollständige
Überarbeitung des Koran-Textes dar. Aber es waren natürlich noch weitere
schriftliche Aufzeichnungen im Umlauf. Von besonderer Wichtigkeit sind dabei
die Hadith-Sammlungen, etwa die frühen von Al-Buchari und al-Zuhri, die die
Authentizität der Mohammed-Tradition zu sichern suchten, aber auch die weiteren
Hadith-Sammlungen, die nicht alle als sichere Quelle angesehen werden können.
Vgl. die Liste der vielen Hadith-Sammlungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Hadith-Sammlungen
Vgl. die Liste der vielen Hadith-Sammlungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Hadith-Sammlungen
So
wird verständlich, dass der sich entwickelnde islamische Staat das Bedürfnis
nach einer authentischen Fassung des Korans verstärkte, wie sich im Kalifat von
Uthmân ibn Affân (644-656), dem dritten Nachfolger Muhammads zeigte. Da man
auch in kriegerischen Ereignissen die von Mohammed eingeführten Rituale
pflegte, machten natürlich verschiedene Fassungen der Koranrezitation
Schwierigkeiten, insbesondere, da auch viele nicht arabische Männer im Heer des
Kalifen dienten. Uthman setzte also eine Kommission ein, die einen Vergleich
der verschiedenen Fassungen vornahm und eine allgemeingültige Version erstellte.
Déroche nennt sie im Vergleich zur Entwicklung der Bibelausgaben die
„Uthmannsche Vulgata“.
4. Von
den Manuskript-Lesarten zur Konstitution einer "Uthmanischen
Vulgata".
Die staatspolitisch
gewollte Überprüfung und Absicherung einer authentischen Korantextes führte
dazu, dass in der „Uthmanschen Vulgata“ die unverfälschten Worte Gottes stehen
und die muslimische Orthodoxie faktisch an Boden gewann. Denn nun lag ein
gültiges umfassenden Glaubensbekenntnis des Islam vor, während bisherige
Abweichungen nicht mehr akzeptabel waren. Dies geschah also bereits 25 Jahre
nach dem Tode des Propheten. Mit der Anfertigung solcher Kopien sollten dann
auch auf Befehl des Kalifen die früher entstandenen Manuskripte vernichtet
werden. Angesichts der weiteren Expansion des Islam in nicht-islamische Gebiete
Nordafrikas und des Mittleren Ostens hatte man nun ein für alle Muslime
gültiges Leitbild. Die rivalisierenden Kopien verschwanden jedoch nicht völlig.
Sie sind teilweise heute noch vorhanden. Déroche hat sie aufs Sorgfältigste
verglichen. Er erwähnt unter anderem die auffälligen Varianten von Ubaiy ibn
Ka'b, einem „Sekretär“ des Propheten (gest. um 650), der anscheinend 116 statt
der 114 in der „Vulgata“ zugelassenen Suren gezählt hat und Abdallah Ibn
Mas'ûd, einen der wichtigsten Gefährten des Propheten, der 111 Suren aufführte
(da er weder Sure 1 noch Sure 113-114 akzeptierte). Unter den Abbasiden im
10./11. Jahrhundert wurden dann offensichtlich noch einige weitere konkurrierende
Koranversionen vernichtet.
5. Die
Einschränkungen (Klauseln) im Blick auf den "Hadith der
7 Ahruf".
Hier geht es um eine
Überlieferung, den Hadith, der sich auf sieben beschränkte geoffenbarte Varianten
des Korans bezieht. Genauer gesagt: Es geht um sieben Rezitationsarten, die
jedoch auch zu inhaltlichen Veränderungen führten. Die hier erfolgten
Einschränkungen beziehen sich also nicht auf mögliche textuelle
Rezitationsvarianten im Koran (qira’at),
die bei der Lektüre des Korans individuell vorgenommen werden;
die 7 Ahruf sind grundsätzlichere
Klauseln. Déroche zieht hier ausführlich den Codex Parisino Petrolitanus heran,
eines der ältesten Koranmanuskripte noch aus dem 7. Jahrhundert sowie ein
jemenitisches Palimpsest aus der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts, Dar al-Makhtutat. Am
Schluss seiner Untersuchungen kommt er zu dem Ergebnis: Diese „Klauseln“ zeigen
im Verlauf der Tradition die sich durchhaltende Erinnerung an frühere Praktiken
zur Kanonisierung des Korantexts, und zwar sogar schriftlich! (S. 258).
In der Schlussfolgerung des Autors wird
durch den Bezug auf die sog. Klauseln
und dem Hadith
der 7 Ahruf brennpunktartig deutlich, dass
erst die islamische
Orthodoxie in der weiteren Entwicklung der Koranauslegung von der mündlichen
Überlieferung bis zur Kanonisierung eines schriftlichen Textes („Uthmanische
Vulgata“). Hier entwickelt sich ein absolutes Wortverständnis, ein Literalismus,
der an die Entstehung der biblischen Verbalinspiration in der altprotestantischen
Orthodoxie erinnert Nun waren bei den Koranversen keinerlei Rückfragen mehr
erlaubt. So wurde versucht, die Konkurrenzversionen des Korans zu unterdrücken.
Eine solche Art, theologische Probleme zu lösen, lässt sich schon deshalb nicht
rechtfertigen, weil der Prophet Mohammed offensichtlich stärker an der
Verbreitung der göttlichen Botschaft interessiert war, als an einer
eingrenzenden wörtlichen Weitergabe auf mündlichem oder schriftlichem Wege.
Darum hält Déroche am Schluss fest: „Vom Ende des 7. Jahrhunderts und im Verlauf
des gesamten 8. und 9. Jahrhunderts zielte die Einführung von Schreibstilen
darauf ab, dem Koranexemplar (masahif) eine
starke visuelle Identität zu geben. Eine solche ist für Kopien des Korans in
einem bestimmten Format oder sogar für bestimmte Bucheinbände spezifisch. Damit
wurde das >Buch Gottes< (kitab
Allah) sakralisiert und aus der täglichen Schreibpraxis herausgenommen“ (S.
273 f).
Resümee: Von den Offenbarungen an den Propheten Mohammed
bis zur Erstellung einer
verbindlichen Koranversion
Die Forschungsarbeit des französischen
Islamwissenschaftlers François Déroche beweist ausführlich, dass sowohl die
mündlichen wie die schriftlichen Tradition des Korans keine ursprüngliche Einheit
und Uniformität widerspiegeln. Erst die islamische Orthodoxie versuchte, einen
absoluten Wortsinn des Korans durchzusetzen, eine Art der Verbalinspiration. Déroche
betont dagegen, dass es offensichtlich dem Propheten Mohammad darum ging, die
Bedeutung der göttlichen Botschaft weiterzutragen und nicht einzelne Worte zu
transportieren.
Beim Überblick über das gesamte Forschungsprojekt,
dessen Ergebnisse Déroche auf dem Hintergrund des Laboratoire dans le Collège de France. Histoire du Coran.
Texte et Transmission hier zusammenfasst, kommen auch die
Forschungen der deutschen Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth in den Blick. In Verbindung mit dem Corpus Coranicum gab es übrigens eine direkte
Zusammenarbeit. Vgl. https://corpuscoranicum.de/about/index
Gerade von daher wäre
eine Übersetzung des Buches von Déroche ins Deutsche zu wünschen, um angesichts
der ähnlichen Zielsetzungen noch mehr die immense Bedeutung der verschiedenen
Lesarten und Rezitationsvarianten des Korans für ein heutiges Verständnis
herauszuarbeiten. Durch diese wegweisenden Forschungen eröffnen sich weitere
hermeneutische Beurteilungsmuster. Dem kommt auch für ein heutiges islamisches
Selbstverständnis große Bedeutung zu. Zugleich ist hier im Zusammenhang von
christlicher und islamischer Theologie eine solide wissenschaftliche Basis für
ein besseres Verstehen von Christentum und Islam gelegt.
Reinhard Kirste
Rz-Déroche-Coran, 01.02.2020
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