Donnerstag, 21. Februar 2013

Spiele, Rituale und virtuelle Welten



Philippe Bornet / Maya Burger (eds.): Religions in Play.
Games, Rituals, and Virtual Worlds.

CULTuREL 2. Zürich: Pano (TVZ) 2012, 351 S., Abb., Register
--- ISBN 978-3-290-22010-5 ---
Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1842-1945) hat 1938 mit seinem berühmten Buch Homo Ludens einen bis heute gültigen Markstein gesetzt. Aber in der theologischen Diskussion der Gegenwart gibt es nur wenige Auseinandersetzungen mit dem „Spiel“ im Allgemeinen und mit den digitalen Welten im Besonderen. Offensichtlich aber haben Spiele generell sehr viel mit Religion zu tun. Das gilt für die Spiele in der Erziehung, im Sport und mit dem Computer, ja in allen Medien überhaupt. Zwei Wissenschaftler der Universität Lausanne, der Literaturwissenschaftler Philippe Bornet und die Indologin und Religionsgeschichtlerin Maya Burger, haben Referate und Ergebnisse eines Symposiums aus dem Jahre 2010 in Lausanne über „Homo Ludens: Play, Culture, and Religion“ systematisierend zusammengestellt und öffentlich zugänglich gemacht. Sie decken damit zugleich Elemente und Sichtweisen auf, die auf spannende Verhaltensmuster verweisen, wie sie sich u.a. auch in religiös geprägten Alltags- und Festritualen zeigen.

Im Vorwort schlagen die beiden Herausgeber einen Bogen von der Kritik christlich-antiker Autoren an den verschiedensten Spielen „heidnischer“ Art bis in die heutigen digitalen Welten. Ist also unsere Kultur von Anfang an durch „Spielermanier“ geprägt, wie dies die These Huizingas von den „playful origins of culture“ ausdrückt? (S. 22). In ihren Einleitungen zu den vier Teilen des Buches markieren die BeiträgerInnen darum, wie und wie intensiv Religion und Religiosität Einfluss auf die unterschiedlichen Spieltypen mit ihren Spielregeln genommen haben, und zwar in der Bandbreite von Rätsel, Glückssuche und Gewinnhoffnung.
Der 1. Teil widmet sich den Zusammenhängen von Spielpraktiken und Religion vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Bereits im Mittelalter gibt es trotz moralischer Verurteilung und Blasphemie-Androhungen durch die Kirche eine Spielwelt nach Casino-Manier mit Glücksgenerator und Ritterkampf-Mentalität. Das führt Ulrich Schädler (Direktor des Spielemuseums in La Tour-de-Peilz, Schweiz) an der Beschreibung des „Book of Games“ des Königs Alonso X. von Spanien vor (13. Jh.). Dessen einschränkende Rechtsvorgaben erlaubten dennoch „Spielhäuser“. Valérie Cangemi zusammen mit Alain Corbellari (beide Fachleute für französische Literaturgeschichte, Universität Lausanne) knüpfen dort an und erzählen von der Beliebtheit mittelalterlicher Ritterspiele, die in den weit verbreiteten Ritterromanen ihren Niederschlag fanden und in der Gegenwart eine fröhliche Auferstehung erleben „While in the Middle Ages, immobility was idealized and we today prefer moving forward faster and faster, both societies are linked by their ludic spirit“ (S. 59). Natürlich müssen in einem solchen Buch auch Brettspiele und besonders Schach ausführlicher bedacht werden. Das tut der Herausgeber Philippe Bornet, indem er den indischen bzw. chinesischen Ursprüngen des Schachspiels nachgeht und seine zunehmende Akzeptanz in Europa beschreibt. Im 18./19. Jh. idealisieren Orientalisten wie William Jones das Schachspiel wegen seiner (strategischen) Rationalität, während die Nützlichkeitsdenker Gesellschaften mit Brettspielvorlieben als inferior klassifizieren. Das hat seinen Grund darin, dass diese Kritiker keine adäquate Bedingung für „anständige“ Arbeit in solchen (nutzlosen) Beschäftigungen sehen können, sind sie letztlich doch in die Rubrik der Würfel- und Glücksspiele einzuordnen. Gymnastische Spiele haben dagegen einen gesellschaftlich stärkenden Charakter. Kulturelle Differenzen treten also gerade im Verständnis von „Spiel“ besonders deutlich hervor und erlauben fast eine ähnliche Klassifizierung wie die von Religion und Religionen unter den Bedingungen der jeweiligen Kultur.
Der 2. Teil nimmt diese Relationen unter den Stichworten von Chance, Spiel und Religion systematisierend als Mini-Experimente des Lebens auf. Buddhistische Spielpraxen werden in ihrer Lebensorientierung dabei besonders herausgehoben. Jens Schlieter (Religionswissenschaftler, Universität Bern), geht auf das tibetisch-buddhistische, die Erlösung simulierende(?) Brettspiel ein: „Ascending the [Spiritual] Levels“, das man als Weg in die Freiheit bezeichnen könnte. Dass zum Verständnis Erfahrungen der heutigen Cyberwelt, aber auch „Schlangen- und (Stufen-)Leiterspiele“ aus der deutschsprachigen Schweiz herangezogen werden können, macht die Sache besonders aktuell und spannend. Maya Burger sieht sich die beliebten Tarot- und Orakel-Karten genauer an, weil hier das Bedürfnis des Menschen zum Ausdruck kommt, im Kartenspiel über die Zukunft Genaueres und auch mögliche Orientierung zu erfahren. Das in vielen Spielen benutzte Karma-Verständnis macht dabei die religiösen Konnotationen und Korrelationen offenkundig. – Das Wort „Bingo“ ist inzwischen in den alltäglichen Wortschatz eingegangen. Thierry Wendling (Schweizer Anthropologe am CNRS-Institut in Paris), nimmt das dem Lotto verwandte Zahlenspiel gewissermaßen als „Steilvorlage“, um für eine Schweizer Region zu zeigen, wie dessen Rituale in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen (Spielhallen, Cafés usw.) quasi wie eine Litanei einen mentalen Raum schaffen, der einer Nachmittags-Trance nahe kommt (S: 151).
Der 3. Teil nimmt die schon mehrfach angesprochene Korrelation von Spiel und Ritual auf. Nach der Einleitung durch Kathryn McClymond (Religionswissenschaftlerin, Georgia Staats-Universität, USA), stellt der Sanskrit-Experte Johannes Bronkhorst (Universität Lausanne) die Frage, ob es Spiel im Ritual gibt. Angesichts unterschiedlicher Beurteilungen hauptsächlich von Claude Lévi-Strauss und J.C. Heesterman, konzentriert er sich auf vedische (und aztekische) Opfervorstellungen, indische Traditionen und zum Schluss auf das berühmte Epos Mahabharata. In Opferzeremonien wird das Ritual oft bis zum bitteren Ende des zu Opfernden ausgeführt, und der Opfernde erreicht dadurch sein Versöhnungsziel. Allerdings gibt es auch in manchen Kulturen Situationen, in denen dieses konsequente Ritual durchbrochen wird und das Opfer (nur noch) zu einer Formalität wird (S. 171f). Auch Ute Hüsken (Indologin, Universität Oslo) beschäftigt sich mit brahmanischen Traditionen, hier aus Südindien. Ritual und Spiel gelangen beim Tempelfest und durch Arrangements in der eigenen Familie in das Erfahrungsfeld unmittelbaren menschlichen Erlebens: „Both ritual and play are equally media of cultural expression, and, most importantly, they are not mutually exclusive“ (S. 194).
Eine Besonderheit nimmt Florence Pasche Guignard (Religionswissenschaftlerin, Universität Lausanne) auf, nämlich die Bedeutung von „religiösen“ Spielzeugen und Puppen in der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und Wertvorstellungen. Kindliche Entwicklung, offenbar besonders in Richtung „Weiblich“, soll über diese Varianten in verschiedenen Religionen mit Hilfe üblicher Spielzeuge und Puppen Gender spezifisch gelenkt werden, und zwar durch Imitation, Erziehung und Adaption. Die Autorin belegt diese Tendenz durch eine Reihe auffälliger Beispiele aus dem Hinduismus, Judentum, Islam und Christentum. Hintergrund des Beitrags von Michael J. Zogry (Religionswissenschaftler, Universität Kansas, USA) ist ein Ballspiel der Tscherokesen (Cherokees). Hier wird die Verbindung mit Sport und Ritual besonders wichtig, die von mehreren Autoren wie MacAloon, Huizinga und Lévi-Strauss u.a. intensiv diskutiert wurde bzw. wird. Zogry sieht Fußball, Basketball usw., aber auch die Olympischen Spiele im Kontext von sozialen Realitäten, irgendwo angesiedelt zwischen Ritual und Religion und letztlich dem indianischen Ballspiel innerlich verwandt. Es ist nicht leicht (trotz klärender Versuche von Paul Tilich) die Grenze zwischen „göttlich“ und „abgöttisch“ genau zu markieren – oder wie der Autor sagt, gute Nachbarn im Spannungsfeld von Spiel, Sport, Ritual und Spielekonzept zu finden.
Besonders neugierig macht der 4. Teil: Virtuelle Welten und Spiele. Dieser wendet sich besonders den virtuellen Spielen zu. Darauf macht Oliver Steffen (Religionswissenschaftler, Universität Bern) in der Einleitung aufmerksam und verweist auf die entsprechenden Vor-Studien von Johan Huizinga und den französischen Soziologen Roger Callois (1913-1978). Von daher lässt sich die Klassifikation des an strenge Regeln gebundenen und des freien kreativen Spiels ableiten, dem jeweils vier Kategorien zuzuordnen sind: Wettstreit, Glück, Mimicry/Simulation und Täuschung (S. 251). Dies lässt sich auf virtuelle Spiele und deren religiösen Implikationen, aber auch auf den Umgang bestimmter religiöser Gruppen mit den Computerspielen, übertragen. In seinem zweiten Beitrag bezieht sich der Autor auf die auffällige Einbindung historischer Religionselemente in die imaginäre Welt digitaler Spiele. In der Fallstudie zu dem Fantasy-Rollenspiel „Risen“ mit dessen Konzept der „hit points“ als Orte für „Lebensenergie“ ist ein religiöses „Achtergewicht“ unverkennbar. Dies wird noch deutlicher, wenn man das religionsphänomenologische Konzept von Gerard van der Leeuw (1890-1950) als Erklärungsmuster heranzieht („göttliche Präsenz im gewöhnlichen Leben“). Ein zweites Fantasy-Spiel bespricht Fabian Perlini-Pfister (Lehrer für Religionskunde in Zug): Dungeons & Dragons („Verliese und Drachen“). Es gehört zu einem Typus von Computerspielen, der in seiner ersten Fassung als „fantastic medieval wargame“ 1974 in den USA herauskam und höchst umstritten von sich reden machte – zur selben Zeit, als Tolkiens Fantasie-Novellen höchst populär waren. Die kosmologischen Hintergründe dieses Spiels sind mit der virtuellen Realität von Monstern und Drachen eingefärbt, um so das Böse und das Gute sichtbar werden zu lassen. Dazu bedienen sich die Macher auch in weiteren Neufassungen des Spiels kräftig aus dem religiösen Repertoire mit Magie, Hobbits und Göttern. Noch ein weiterer Punkt des Spiels muss herausgehoben werden. Huizinga hat es den „magischen Kreis“ genannt, der die Spielenden von der realen Welt abschottet und ins Reich der imaginären Welten eintauchen lässt. Julian Kücklich (Berlin) zeigt, wie dieser magische Zirkel in den Videospielen durch Verführung und Betrug durchbrochen wird. Den Spielern wird zugestanden, außerhalb moralischer Vorstellungen in Aktion gegen die anderen Spieler zu handeln. Hier entwickelt sich mehr und mehr einer kulturelle Praxis. Der Autor zeigt dies an Video-Online-Spielen mit mehreren Spielern wie Warcraft, Diablo, Everquest, World of Warcraft, Deus Ex. Hier entwickeln sich (Online-)Cyber-Systeme mit einer Reihe von Subsystemen – ökonomisch, politisch, sozial usw. (S. 303).  
             
Zum Schluss des Buches diskutiert Daria Pezzoli-Olgiati (Religionswissenschaftlerin, Universität Zürich), wie und wo Spiele im Film und der Film selbst als Spiel eingesetzt werden. Sie beginnt mit Das Siebente Siegel von Ingmar Bergmann (Schweden 1956), um von da aus auch zu eXistenZ (Kanada, UK 1998), zu Nirvana (Ítalien 1996), zu den Matrix-Filmen (USA 1999-2003) und Avatar (USA 2009) zu kommen. Die Autorin  bringt es auf den Punkt, was nicht nur für eXistenZ gilt: „The religious elements are fully integrated into the film narration“ (S. 317). M.a.W., das Kino selbst wird zum kommunikativen Spielplatz, auf dem die Grenzen von Immanenz zur Transzendenz überschritten und Erfahrungen virtueller Welten im Erzählstrang unter bestimmten Ritualisierungen und religiösen Mustern dank technologischer Hilfsmittel möglich werden.
Bilanz: Das Buch eröffnet auf dem Weg über die Korrelationen von Spiel, Ritual, Elementen des Religiösen und virtueller Welt wichtige Einblicke in die kulturellen und geschichtlichen Grundlagen von Spiel überhaupt. Zugleich haben die technologischen Möglichkeiten besonders mit dem Film und dem Computer neue Welten erschaffen, deren Versatzstücke jedoch aus den klassischen Religionen und den esoterischen Bewegungen aller Kulturen und aller Zeiten oft zu einem spannenden Ganzen umgebaut werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Spielenden sich dabei oft genug fragen (lassen), „in welchem Film“ sie nun „real“ sind. Zu bedenken bleibt: Das in der Konferenzsprache Englisch geführte Symposium hat nun auch eine englische Buchausgabe zur Folge. Dadurch wird es im deutschsprachigen Raum vielleicht nicht genügend in seiner soliden wissenschaftlichen und zugleich aktuellen Vorreiterfunktion erkannt. Die angesprochenen Themenfelder beleuchten alte und sich ändernde (religiöse) Weltsichten und Kulturspezifika von Spiel und Ritual. Das geht nicht nur TheologInnen, ReligionswissenschaftlerInnen und AnthropologInnen an, sondern im Computerzeitalter ganz direkt jede/n religiös und gesellschaftlich Interessierte/n.
Über den Zusammenhang von Gott, Religion und Spiel im Film
vgl. dazu auch die Rezensionen und Beiträge:
 

                                                                                                                                                           Reinhard Kirste
                                                                                                                                                          Rz-Bornet-Spiel, 21.02.13

Freitag, 15. Februar 2013

Lieder der Gottesliebe - die Gitagovinda



Jayadeva: Gitagovinda. Lieder zum Lob Govindas.
Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Erwin Steinbach.
Frankfurt/M. und Leipzig: Verlag der Weltreligionen (im Insel-verlag) 2008, 194 S., Glossar,
Kommentar und Register --- ISBN 978-3-458-70012-8 ---
 Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung 
Es gibt zwar eine Faszination für indische Kulturen, dennoch bleiben wichtige literarische Werke aus dem indischen Subkontinent einem relativ kleinen Leserkreis in Deutschland vorbehalten. Darum erscheint es wichtig, auf poetisch geprägte heilige Texte aufmerksam zu machen, die durchaus der berühmten Bhagavad Gita nahekommen. Allerdings haben die hier vorzustellende Schrift eine andere Qualität, weil die Liebesmystik und Hingabe in all ihren Formen im Mittelpunkt steht. Vor uns liegt gewissermaßen ein indisches „Hoheslied“, das Sinnlichkeit und mystische Gottesschau gleichermaßen verbindet. Kein Wunder also, dass die Gitagovinda sowohl im privaten Bereich wie im Tempelkult eine Rolle spielt, kein Wunder aber auch, dass bereits Goethe die dichterisch-kreative Kraft dieses Lieder-Epos entdeckte und schätzte.


Der Autor der Gita Govinda ist Jayadeva. Er lebte im 12. Jahrhundert in Orissa bzw. West-Bengalen und gehörte zu den Anhängen des Gottes Vishnu (andere Namen des Gottes sind z.B. Madhava und Hari). Dies ist die eine große indische Traditionsgruppe, die zweite verehrt den Gott Shiva. Jayadevas asketisches Leben, verbunden mit grenzenloser Liebe und Hingabe (Bhakti), seine Poesie und seine Qualitäten als Guru machen ihn bis heute in Indien zu einer spirituellen Berühmtheit.
Die von dem Indologen und Sanskrit-Spezialisten Erwin Steinbach (Wien) übersetzten und herausgegebenen Lieder zum Lob Govindas, so der Beiname Krishnas, sind die erste Übersetzung nach der von Friedrich Rückert.
Gita bedeutet ja Lied im Sanskrit, und der Name Govinda lässt sich etwa als „Bester der Kuhhirten“ oder derjenige, „der Kühe findet bzw. gewinnt“ übersetzen. Es handelt sich vermutlich um den Namen einer „Hirtengottheit aus der Gegend um Mathura“ etwa 150 km südlich von Delhi, Geburtstort Krishnas entfernt, „die man später mit Vishnu identifizierte“ (S. 171)
Steinbach klassifiziert die Gitagovinda als „Kunstepos“ mit gereimten Liedstrophen (S. 95f). Diese Form füllt Jayadeva mit inhaltlicher Tiefe, indem er eine von Eifersucht, Leid, Schmerz und Sehnsucht erfüllte Liebesgeschichte von Krishna, dem inkarnierten Vishnu, und der Hirtin Radha erzählt. Dies ist ein anderer Krishna als der in der Bhagavad Gita in der Auseinandersetzung mit dem Helden Arjuna. Die in der Gitagovinda mit geradezu liebestollen Worten zum Ausdruck gebrachte Gottessehnsucht ist darum zugleich ein spiritueller Weg zur Einswerdung mit dem Göttlichen und damit Erfahrung von einer Wirklichkeit, die die irdische Liebe überschreitet:
Ihn (= Krishna), dem der Anblick von Radhas Antlitz ließ vielfachen Fühlens sich entfalten,
gleichwie das Meer, wenn bei Mondrunds Erscheinung wild aufgewühlt die Wellen wallten,
Hari [= Krishna], der ihrer nur harrend schon lang nach Wonnespiel glühte,
schaute sie schauderbezwungenen Mundes den leiblosen Gott im Gemüte.
22. Tanzlied, Vers 24, S. 63 (Fettdruck vom Rezensenten)
Um die für den „normalen“ Leser vielfältigen Facetten zu verstehen, empfiehlt es sich, zuerst den einführenden Kommentar zu lesen (S. 75–111). Der Autor erläutert übersichtlich die variantenreichen Legenden des irdischen Krishna und seine unterschiedlichen Typisierungen – auch Überlegungen zu historischen Persönlichkeiten, die in diese Legenden eingeflossen sind. Sie spielen überwiegend im Horizont des Hirtenmilieus in Nord(ost)-Indien und in der Gegend um Mumbai (Bombay). Zum besseren Verstehen ist auch die poetische Struktur dieser Lieder wichtig, die der Autor mit seiner Übersetzung ins Deutsche nachempfunden hat.
Um die Feinheiten in der poetischen Erzählung auf sich wirken zu lassen, braucht man immer wieder den Stellenkommentar (S. 112–168). Sehr angenehm ist dabei, dass den einzelnen Kapiteln dort eine kurze inhaltliche Zusammenfassung vorangeschickt wird, so dass die Lesenden sich den Gang der Geschichte klar machen können, ehe sie sich auf die poetischen Liebesbilder einlassen.
Für den nicht indologisch kundigen Leser ist es nicht ganz leicht, diese Krishna-Lieder in sich aufzunehmen, zumal uns Heutigen die Sprache oft extrem blumig und damit fremd vorkommt. Und dennoch eröffnet sich in dem Überschwang solch mystisch-poetischen Erzählens ein Geheimnis, das die Menschlichkeit des Göttlichen zum Ausdruck zu bringen versucht und damit spirituell-interreligiöse und nicht nur religionswissenschaftliche oder literarische Beachtung verdient. Denn trotz der anders kulturell eingefärbten Bilder scheint eine Nähe zu den Mystikern der Nachbarreligionen Islam und Christentum durch. Manche Textpassagen erinnern an Worte berühmter Sufi-Poeten wie Attar, Rumi und Ibn Arabi oder schlagen gar die Brücke zur christlichen Mystik in Europa (des Mittelalters) mit ihren Themen von Liebe, Leiden und Gottversenkung. Der relativ kurze Text der Gita Govinda wird damit zu einer poetisch-ästhetischen Erweiterung eigenen spirituellen Selbstverständnisses.
Reinhard Kirste
Rz-Gitagovinda, 15.02.13

Mittwoch, 13. Februar 2013

Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde - Zwischenbilanz 2005

Werner Haußmann, Johannes Lähnemann (Hg.): Dein Glaube – mein Glaube. Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 1. Aufl., 200 S.
--- ISBN 3-525-61556-6 ---
Buchempfehlung aus rpi-virtuell
von Manfred Spieß, Universität Bremen

Die religionspädagogische Wirklichkeit an Deutschlands Schulen wird zunehmend differenzierter. Auch der konfessionell orientierte RU beteiligt sich stärker an der Auseinandersetzung in der religiösen Vielfalt.  „Interreligiöses Lernen“ ist aus der religionsdidaktischen Diskussion und vor allem aus der Praxis nicht mehr wegzudenken. Nachdem in den vergangenen Jahren/Jahrzehnten zahlreiche Bücher zur Religionskunde der Weltreligionen erschienen sind, wendet sich die Diskussion nun mehr der praktischen Dialogarbeit zu. Die Herausgeber und Autoren sind keine Neulinge bei diesen Themen, sie können auf einschlägige Erfahrungen mit Tagungen, Dialogveranstaltungen und Vereinigungen vor Ort zurückgreifen.

 Grundregeln
Mit seinem einführenden Beitrag „Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht“ stellt Johannes Lähnemann die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer die dialogische Begegnung stattfindet. Wichtige Grundregeln sind: den anderen ernst nehmen, seine Lebenskontexte wahrnehmen, gemeinsame Fragen und Aufgaben anerkennen. So können durch Offenheit und Klarheit – ohne Missionsbestrebungen! – neue Wege entdeckt und gegangen werden.
Religiöse Artefakte
Genau für den letztgenannten Aspekt bietet das Buch viel Interessantes. Werner Haußmann stellt das „Lernen mit religiösen Artefakten“ vor (25-49).
 Mag der Begriff auch noch etwas sperrig klingen – die Sache ist hochinteressant und pädagogisch verheißungsvoll. Es geht dabei um den religionspädagogischen Umgang mit „Dingen“ und Erfahrungen, die im religiösen Erfahrungsbereich der Menschen eine starke Bedeutung haben. Haussmann greift zur Umschreibung auf das Prinzip der „originalen Begegnung“ (Roth) zurück und verbindet die Lernmöglichkeiten mit dem symboldidaktischen Ansatz (Halbfas). „Lernen mit religiösen Artefakten“ ist auch vom lebendigen „Zeug-nis“ (Karlo Meyer) geprägt. In dieser Zusammengehörigkeit kann sich diese Lernform in ihrer religiösen und interreligiösen Wirksamkeit entfalten. Im angelsächsischen Raum ist diese Lernmöglichkeit u.a. von John Hull geprägt worden. Einfach ist die praktische Verwirklichung jedoch nicht! Haussmann ist zuzustimmen: „Es stellt stets eine religionspädagogische Gratwanderung dar, wenn Schülerinnen und Schüler unter Verwendung eines religiösen Artefaktes einen ‚Ritus’ imitieren“ (31). Er warnt vor der Gefahr einer „religiösen sight-seeing-tour“. Deshalb stehen am Anfang der Materialien grundlegende Hinweise für den Umgang mit religiösen Artefakten, die in den Lerngruppen beachtet werden sollen. Hilfreich sind auch die vielseitigen Impulse, die der Erschließung dienen (M2). Die weiteren Materialien führen zu Begegnungen mit dem Islam, mit dem Judentum und mit dem Buddhismus.
Islam
Johannes Lähnemann ermuntert in einem Beitrag Lehrkräfte und Schüler zu einer konkreten Begegnung mit dem Islam. Welche Mindestinformationen sollten nichtislamische Besucher haben bzw. erfragen („Fragen an einen Imam“)? Die „Exemplarischen Bausteine“ geben hilfreiche Hinweise zur fachlichen Vorbereitung eines Moscheebesuchs. Informations- und Lückentexte mit Wissensüberprüfungen machen diese erfahrungsgesättigten Bericht zu einer guten Hilfe für die Arbeit in den Klasse 5 – 7 und 8 – 10.
Judentum
Der Beitrag von Heidemarie Glöckner ist der Begegnung mit dem Judentum gewidmet: „Die Synagoge erkunden –Dem Judentum begegnen“ (71 – 94). Die Autorin beschreibt zunächst die komplexen Ausgangssituationen, die das Gespräch zwischen Nichtjuden und Juden in Deutschland schwierig machen. Dialogsuchende wissen um diese Probleme und beziehen sie ein. Ein guter Anknüpfungspunkt kann die geschichtliche Ebene sein, auf der die Geschichte der Synagogen in Deutschland und speziell vor Ort erforscht wird. Hier werden hilfreiche Ansätze geboten. Besonders  weist Heidemarie Glöckner auf die Bedeutung des Alltäglichen im interreligiösen Gespräch hin: „Die gesunde Neugier von Kindern und Jugendlichen ist zuerst auf das Naheliegende gerichtet. Sie interessieren sich für das Kleinmaschige der alltäglichen Lebensvollzüge, durch die ja erst deutlich wird, wodurch sich Menschen verschiedener Religionszugehhörigkeit unterscheiden“ (75). In den „Exemplarischen Bausteinen“ werden Informationskarten für den Synagogenbesuch, Fragekarten für Quiz und weitere erfahrungsorientierte Lernformen vorgestellt.
Schöpfung
Um den Schöpfungsglauben in den abrahamitischen Religionen geht es in dem gemeinsamen Beitrag von Marcus Schalom Schroll, Johannes Lähnemann, Rabeya Müller. Bedeutsam ist hier, dass das Verhältnis zur Naturwissenschaft thematisiert wird und auch die Weltbildbezogenheit religiöser Schöpfungstexte. Im Vordergrund stehen in dieser interreligiösen Betrachtung die Geschöpflichkeit des Menschen und seine Verantwortung für die Schöpfung. An einigen Stellen wünscht man sich mehr Konkretion und stärkere Ausführlichkeit. Man spürt, dass dies ein erster, tastender Versuch ist, religionspädagogische Arbeit gemeinsam zu planen. Ist es dieser Unsicherheit zu verdanken, dass man an dieser Stelle den Klassiker von Jörg Zink „Die letzten sieben Tage der Erde“ erneut abgedruckt findet (108)?
Hinduismus
Schülerinnen im Übergang von Sekundarstufe I zu Sekundarstufe II sollen besonders mit dem Thema „Hinduismus, Gandhi und die Christen“ angesprochen werden ( 111 – 148). Hier werden zahlreiche religionskundliche Basisinformationen geboten, die unterrichtlich gut eingesetzt werden können. Die Erfahrungs- und Reiseberichte von Klaus und Susanne Wild, Werner Haußmann und Johannes Lähnemann geben dem Thema eine persönliche Würze. Der religionsübergreifende Ansatz vergleicht Gandhis Ethik mit Worten Jesu. Zu ergänzen wäre der Hinweis:wo die lokalen Verhältnisse es zulassen, sollten auch Begegnungen mit indischen Gläubigen organisiert werden. 
 Buddhismus
 Reizvoll und anspruchsvoll zugleich sind die Unterrichtsideen zum Buddhismus, die Christiane Lähnemann vorlegt: „Buddha und Jesus“ (149 – 180). Sachkundig werden hier auch zahlreiche Literatur- und Unterrichtshilfen vorgestellt. Weitere Schwerpunkte: Meditation, Richtungen des Buddhismus, Leben und Worte von Buddha im Vergleich mit Jesus, Mönchtum. Es fehlt auch nicht der Hinweis auf zentrale Internetangebote zum Buddhismus und die Anregung, den nächstgelegenen buddhistischen Treffpunkt zu besuchen. Wenn die Schulmöglichkeiten auch nur teilweise eine Verwirklichung dieser Anregungen zulassen, so können die Schülerinnen und Schüler doch tief in die fremde Materie eindringen.
Weltethos
Das Projekt Weltethos ist den meisten Religionspädagogen bekannt. Es gibt ausführliches Film- und Internetmaterial dazu. Günther Gebhardt und Stefanie Schnebel verweisen auf die vorliegenden Unterrichtsmodelle und stellen kurz eigene Entwürfe dar. Diese können schulische Projektarbeit anregen und fächerübergreifendes Lernen anregen. Mit diesem ethischen Beitrag schließt sich der Kreis der Unterrichtsanregungen dieses empfehlenswerten Buches.
Fazit
Der Religionsunterricht der Zukunft wird sich intensiver mit interreligiösen Fragestellungen beschäftigen als es bisher der Fall war. Daher ist es sehr zu wünschen, dass diese Anregungen in der Ausbildung von Religionslehrkräften und in der täglichen Schulpraxis eine kreative Umsetzung erfahren können. Die Synthese von vertiefender Fachinformation und anregenden Unterrichtsmaterialien ist gut gelungen.


Samstag, 9. Februar 2013

Kultur besser verstehen - das Handbuch Kulturphilosophie





Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie.
Stuttgart / Weimar: Metzler 2012, 468 S., mehrere ausführliche Register
--- ISBN 978-3-476-022369-8 ---
Kurzrezension: hier

Ausführliche Beschreibung
Konersmann gehört zu den Vorreitern einer Disziplin, die Zusammenhänge der „von Menschen gemachten Welt“ durchdenkt und damit Kultur und Philosophie ständig miteinander ins Spiel bringt. Auf seiner Universitäts-Homepage beschreibt der Kieler Philosophieprofessor, was ihn vorantreibt. „Die Arbeit des Lehrstuhls ist von der übergeordneten Frage bestimmt, wie Denken und Wissen das Selbstverständnis von Kulturen pragmatisch bestimmen. Das heißt für die Kulturphilosophie, daß sie klären muß, was es bedeutet, die Wirklichkeiten, in denen wir leben, in der Summe als Ausdrucksgestalten menschlicher Kultur zu erfassen. Das heißt für die Fachdidaktik, daß sie die sichtbare Seite der Philosophie, ihre Beispielhaftigkeit und ihren kulturellen Anspruch verdeutlichen muß“. Als Lehr und Forschungsschwerpunkte ergeben sich darum für ihn:
  • Ausdrucksformen der Philosophie (Text/Bild)
  • Bildungsansprüche und Bildungskonzepte
  • Geschichte und Systematik der Kulturphilosophie 
  • Aktualität der Kulturkritik
  • Metaphern und philosophische Metaphorologie

2003 hatte er bereits eine Einführung zur Kulturphilosophie geschrieben (Hamburg: Junius-Verlag). Dort legt er dar, warum diese notwendig wurde, auf welchen Grundbegriffen sie aufbaut und welches ihre wichtigsten Vertreter sind. Das von ihm nun herausgegebene „Handbuch Kulturphilosophie“ bietet eine bisher so nicht vorhandene Basis, die die Schwerpunkte und Übergänge benennt, Begriffe und Geschichtsentwicklungen mit Hilfe einzelner Artikel vorstellt. Die einzelnen Beiträge haben kompetente Fachleute verfasst, die in der Lage sind, die in diesem Bereich sich überschneidenden Themenfelder genauer zu beleuchten. Dies ist allerdings nicht leicht zu bewerkstelligen, weil sich eben nicht „eingrenzen“, „definieren“ lässt, was „Kultur“ wirklich ist. Kulturphilosophie taucht darum in vielen Disziplinen auf. Und so fokussiert das Handbuch die Antwort vorläufig so: „Kultur ist die Welt des freigestellten Menschen“ (S. VII). Was dies bedeutet, müssen die thematischen Schwerpunkte (Kap. II), die Systematik der Übergänge (Kap. IV) und eine Begriffsauswahl (Kap. V) näher erläutern. Als Definitionsstützen dienen dabei auch die Metaphern für Kultur (Kap. VI). All dies sichern die AutorInnen an „Leitfiguren“ einigermaßen ab, indem sie der Vorgeschichte der Kulturphilosophie (bis 1900), diejenigen der entscheidenden Gründungsphase (1900-1945) und schließlich ihren Aktualisierungen bis in die Gegenwart nachgehen (Kap. III). Für die einzelnen Phasen gibt es eine bewusste Auswahl von Protagonisten:
  •  III.1.  Vorgeschichte: Vico Giambattista, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Gottfried Herder, Friedrich Schiller, G.W.F. Hegel, Friedrich Nietzsche.
  •  III.2.  Gründungsphase: Georg Simmel, John Dewey, Ernst Cassirer und seine Wirkungsgeschichte, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Antonio Gramsci und Walter Benjamin,
  • III.3.  2. Hälfte des 20. Jahrhunderts u.a.: Max Scheler, Marx Horkheimer, Ludwig Marcuse, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal, Oskar Negt, Alexander Kluge, Max Horkheimer, Jürgen Habermas, Claude Lévi-Strauss, Hans Blumenberg, Michel Foucault und Richard Rorty.
 Angesichts der oft divergierenden Vielfalt sei auf entscheidende Schnittpunkte verwiesen, die sich gut an den Unterschieden zwischen Georg Simmel (1858-1918) und seinen Schüler Ernst Cassirer (1874-1945) festmachen lassen: Anders als Simmel sieht Cassirer keine Notwendigkeit, eine heile Kultur wiederzugewinnen; für ihn besteht die Kultur als Spielraum von Variationen. Dahinter entdecken die Artikel-Verfasser Willfried Geßner, Ursula Renz, Isabella Woldt und Cornelia Richter eine ganz neue Vorstellung des kulturellen Werkes: Es ist konstitutiver Teil eines Kommunikationsgeschehens zwischen Subjekten, die als Schöpfer des Werkes ebenso wie als Interpret dem Werk überhaupt erst Bedeutsamkeit verleihen. Damit ist die Rezeption eines Werkes keine rein passive Angelegenheit, und es wird der Druck genommen, einen im Werk verborgenen Sinn einholen zu müssen. Auch teilt sich die Kultur nicht mehr auf in eine höhere Ebene des Schaffens und eine untergeordnete des Verstehens oder Interpretierens; denn beide Seiten treffen sich aktiv und schöpferisch im Werk.
 Nach den stärker an Personen orientierten Darstellungen werden nun Beziehungsfelder angesprochen, die sich – den eigenen Bereich übergreifend – als Übergänge (Kap. IV) manifestieren, und zwar in der Architektur, im Design, in der Geschichte, der Gesellschaft, der Kunst, der Moral, der Natur, der Politik, der Religion, der Rhetorik, der Sprache, der Technik, der Wirtschaft und Wissenschaft. Diese „Querverbindungen“ stecken zugleich einen ausgesprochen weitläufigen Rahmen ab, durch den die Vielfalt von gesellschaftlicher Vergangenheit und Gegenwart als Lebenswirklichkeit präsent wird. Es ist in einer solchen Rezension nicht möglich, diese Vielfalt angemessen beschreibend zu berücksichtigen.
Den Rezensenten macht es aus einer interreligiösen und interkulturellen Perspektive neugierig, welche Rolle Religion in einem solchen Kontext spielt. So werden Zusammenhänge besonders deutlich durch die Überlegungen zu philosophisch geprägter Interkulturalität von Rolf Elberfeld (in Kap. II, S. 39-45). Birgit Recki stellt variierende Verständnisse von Moral dar. Diesen lassen sich dann Aspekte von Religion zuordnen, wie das Michael Moxter, systematischer Theologe an der Universität Hamburg ausführt. „Identität“ (Jürgen Straub), „Fremdheit“ (Kurt Röttgers) und „Gastlichkeit“ (Harald Liebsch) entwickeln sich dabei zu hermeneutischen Brücken. So passt es gut, dass  Moxter auf der Basis von Sinndeutung Religion untersucht. Die Gesichtspunkte von Projektion, Institutionalisierung und Mythos erhalten dabei eine Leitfunktion für unterschiedliche Religionsverständnisse. Darum braucht er Paul Tillichs Religionsbegriff als „Substanz von Kultur.“ Dieser wird für ihn zum Ausgangspunkt einer knappen systematisierenden Beschreibung verschiedener Religionstheorien wie denjenigen von Rudolf Otto, Hermann Lübbe, Jacques Waardenburg und Niklas Luhmann. Besondere Beachtung widmet der Autor dem Zusammenhang von Religion und Kunst, den er philosophie- und theologiegeschichtlich anspricht. Zum Schluss des Artikels gibt es dann noch eine ausführliche historisch angelegte Umschreibung von „religio“ und den dahinter stehenden Deutungshorizonten.
Wie unterschiedlich die jeweiligen Zugänge und Definitionsvoraussetzungen von Kulturphilosophen auch sein mögen, dieses Buch schafft es, in der Auseinandersetzung mit einer Fülle von Kulturverständnissen Kultur als einen lebendigen Prozess zu sehen, der nie zu Ende ist. Man kann es als eine Art systematisierendes Lexikon bezeichnen, das neben einem ordnenden geschichtlichen Rückblick und einer thematischen Aufbereitung für eine Zukunftsoffenheit von Kultur plädiert. Darum sind keine abschließenden Urteile möglich, geschweige denn Verurteilungen. Die einzelnen Autoren machen zwar deutlich, dass bestimmte Entwicklungen in der Kultur kritisch zu betrachten sind, Kulturpessimismus ist insgesamt jedoch nicht angebracht. Es bleibt darum  höchst zweifelhaft, mit Adorno vom Misslingen der Kultur (S. 173f) zu sprechen, weil er mit einem Kulturbegriff arbeitet, der die Humanität nicht von vornherein einschließt. So dürfte Habermas generell weiterführend sein, der „für eine Kultur der intersubjektiven Verständigung und der wechselseitigen sozialen Anerkennung“ plädiert (S. 176).  

Im Sinne des Letzteren werden die Leser dieses weit ausholende Werk dankbar annehmen, auch wenn natürlich nicht die vielen verwandten Strömungen im Horizont einer „crosscultural“ Philosophie besprochen werden konnten. So haben angesichts gegenwärtiger Trends und Moden z.B. die Freizeit und der Tourismus keinen eigenen Bearbeitungsschwerpunkt bekommen. Das ändert aber nichts daran, dass hier ein Standardwerk nicht nur zur Kulturphilosophie, sondern zum Kulturverständnis überhaupt entstanden ist, auf das man nicht mehr verzichten sollte. Wie sorgfältig die Beiträge in das lexikalische Gesamtkonzept eingearbeitet worden sind, lässt sich übrigens daran erkennen, wenn man die Ausdifferenzierung der Begriffe von Anthropologie, Geschichte, Kultur und Welt allein im Register näher betrachtet und von dort auf die einzelnen Artikel zugreift.
Reinhard Kirste
                                                                                                Rz-Konersmann, kulturphil, 08.02.13