Freitag, 24. Januar 2020

Mulla Sadra: Auf dem Weg zur Vollendung im Horizont göttlicher Weisheit

Sadr ad-Din Schirazi  [Mulla Sadra]: 
Das Buch vom Thron Gottes

von Sadr ad-Din Schirazi –
bekannt als Mulla Sadra

Bremen: Eslamica 2019, 177 S.
--- ISBN
 978-3-946179-16-0 ---
Übersetzung aus dem Arabischen, Einleitung und Herausgeber: Prof. Roland Pietsch,
Religionswissenschaftler
(Ukrainische Freie Universität München)

Bericht von Susanne Lettenbauer:
Freies Denken ermöglichen

(Deutschlandfunk, 17.02.2015)
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Mullā Ṣadrā (1571/72-1640), iranischer Theologe der Zwölfer Schia und Sufi-Philosoph, Zeitgenosse von René Descartes (1596-1650), gehört zu den wichtigsten Reformdenkern in der islamischen Welt. Er wurde 1571/72 n.Chr. im iranischen Shiraz geboren. Auch die berühmten Dichter Saadi (um 1210 – um 1292), und Hafis (um 1315 – um 1390) stammen von dort.  Mulla Sadra erhielt in Qazvin und Isfahan eine klassische Ausbildung in Philosophie und (schiitischer) Theologie, verbunden mit Schwerpunkten koranischer Hermeneutik. Das bedeutete, dass die Philosophien des Avicenna (Ibn Sina, ca. 980 - 1037) und Averroes (Ibn Rushd, 1126-1198),
Al-Ghazali (1058-1111) sowie Suhrawardi (1153-1191) mit der Illuminationisten-Schule zu den wesentlichen Orientierungsmarken gehörten.

In der Geistesmetropole Isfahan schloss Mulla Sadra nicht nur seine Studien ab, sondern erforschte auch die heterodoxen Traditionen des Islam. Das brachte ihm die Verurteilung und Bannung von Vertretern der offiziellen schiitisch-dogmatischen Theologie  ein.
So zog er sich in die Nähe von Qom zurück, wo er Forschungen zur Erkenntnistheorie betrieb und auch die mystischen Traditionen sowie das Fortwirken des Neuplatonismus in der islamischen Theologie untersuchte. 1612 wurde er allerdings aus seiner "Klausur" herausgerufen. Der Provinzgouverneur der Region Fars mit der Hauptstadt Shiraz, 
Allāhwirdī Ḵhān, bat ihn, eine neu zu gründende theologisch-philosophische Schule zu leiten. Das führte den Wissenschaftler zu weiteren Bearbeitungen islamischer Denkschulen. Mulla Sadra starb 1640 im  südirakischen Basra unmittelbar im Anschluss an eine Pilgerfahrt nach Mekka (Hajj). 

Das Werk dieses islamischen Denkers umfasst mehr als 45 Veröffentlichungen.
Als sein Hauptwerk gilt Asfar al-Arba‘a (= Die vier spirituellen Reisen). Hier verarbeitet er sein Konzept von Essentialismus und Existentialismus in Verbindung mit der (göttlichen) Kosmologie.
Mulla Sadra ist für die Philosophie- und Theologiegeschichte gerade zwischen Orient und Okzident deshalb so wichtig, weil er sowohl in philosophischen wie mystischen Zusammenhängen dem Sein vor dem Seienden den Vorrang gibt. Diese Position zeichnet neben bedeutenden jüdischen, christlichen und "heidnischen" Philosophen bereits den Mystiker-Dichter Mevlana Rumi (1207-1273) sowie die Mystiker-Philosophen Suhrawardi (1153-1193) und Ibn Arabi aus. Vgl.: Orientierung zum Sufismus >>>
Hier wirkt das Erbe der griechischen Philosophie nach.
Viele westliche Denker sind angesichts dieser Frage nach den grundlegenden Wissensquellen für den Menschen andere Wege gegangen. Im Mittelalter spielte allerdings, besonders bei den neuplatonisch und mystisch geprägten Philosophen und Theologen die Vernunft und die Illumination sowie die intuitive Sinneserfahrung auf der Suche nach wahrhafter Erkenntnis noch eine wichtige Rolle.
Auch Heinrich Seuse (1295-1366) und Meister Eckhart (1260-1327/28) sprechen von der Vervollkommnung der menschlichen Seele, damit göttliches Licht diese in einen verbesserten Zustand erhebt und erhellt. Nur so werden dann in der spirituellen Schau Annäherungen an den Allerhöchsten/die allerhöchste Wesenheit möglich. Diese Tendenz änderte sich allerdings in der Renaissance zugunsten eines fast ausschließlichen Bezugs auf die Vernunft und Sinneserfahrung.
Mulla Sadras Buch Arshiyyah, auch unter dem Titel  al-Hikmat al-‘arshiyyah sind als metaphysische Durchdringungen von Sein und Seienden, von Wiklichkeit im "Hier und Dort" zu verstehen. Roland Pietsch hat in seiner Übersetzung  den Titel mit Das Buch vom Thron Gottes wiedergegeben. Im arabischen Original bedeutet dies auch Weisheit bzw.die Philosophie des Thrones oder auch Die Weisheit/die Philosophie vom Thron Gottes
 Vgl. dazu - 
James Winston Morris: The wisdom of the throne. An introduction to the philosophy of Mulla Sadra. Princeton University Press 1981, XIV, 276  pp., index ------- Einführung und vollständige englische Übersetzung - Download >>>

Insgesamt liegt hier die Systematisierung von Mulla Sadras Philosophie vor, die vom Illuminationskonzept mitgeprägt ist. Sie bezieht sich auf die drei Erkenntnisweisen und auf die Bestätigung des Wahrheitsanspruchs von Offenbarung, intellektueller Intuition (Gnosis) und vernünftigem Diskurs. Wie in al-Mazahir (die göttlichen Manifestationen) beschreibt Mulla Sadra in Arshiyyah existential und transzendental-philosophisch seine Metaphysik im Blick auf die Wirklichkeit und die Wesenheit des Seins im Horizont von Anfang und Ende und noch jenseits davon. So kommen hier das Sein Gottes und das Sein seiner Geschöpfe, die Beziehung von Seele und Körper, die verschiedenen Ebenen der Seele, der noch nicht gelüftete Schleier der Wahrheit, der Tag der Auferstehung sowie die Eigenschaften von Himmel und Hölle zur Sprache. 
Baustein der irdischen Realität ist das Dasein, das Seiende, während das Sein, überhaupt jede Form von Wesenheit nicht in der Immanenz zu finden sind.
Mulla Sadras Methode zum Umgang mit den genannten drei Erkenntnisquellen Offenbarung, Intuition und Vernunft ermöglicht eine neue Verstehens-Annäherung an die irdische Wirklichkeit und an die Transzendenz. Denn man kann keinen Zugriff auf die Wirklichkeit des Seins haben. Nur sprachliche Versuche und (symbolische) Deutungen sind möglich. Dahinter steht ein Verständnis von Wahrheit, das sich bewusst begrenzt, nämlich dass sich Wahrheit auf irdisch Seiendes bezieht. Aber darüber hinaus öffnet sich im Horizont intellektueller Intuition eine Wahrheitsebene, die das Wesentliche ahnen lässt.

Im vorliegenden Buch gibt Roland Pietsch zuerst eine Orientierung zum Verständnis der Metaphysik von Mulla Sadra in Bezug auf den Vorrang der Wirklichkeit des Seins (mit seinen Abstufungen) und den Unterschieden zwischen Sein und Seiendem.
Der Text gliedert sich in zwei Orte der Erleuchtung und in drei Erleuchtungsstadien:
  1. Erster Ort der Erleuchtung: Ableitungen von den Grundlagen des Seins zu den Quellen der Erleuchtung in Korrelation zur Entstehung der Welt und dem Zusammenhang von Seele und Körper.
  2. Zweiter Ort der Erleuchtung:
    = Erste Erleuchtung: Erkenntnis der wahren Natur der Sinnesempfindungen (Intuition) und die Substanzialität der irdischen Welt im Zusammenhang mit der Seele und dem Geist des Menschen im Hinblick auf die Transzendenz.
    = Zweite Erleuchtung: Abstreifen des Erkenntnisschleiers in Hinsicht auf die Auferstehung, die wahre Natur der anderen Seelenwelt, des körperlichen Daseins in dieser und jener Welt und Wieder-Auferstehung.
    = Dritte Erleuchtung: Erkenntnis, dass der Tod gerecht ist, dass es eine große und kleine Auferstehung gibt, dass die Wahrheit de Pfad zum ewigen Leben ist, dass aber am Tag der Aufestehung Prüfungen stattfinden, die zum Paradies oder in die Hölle führen.
Mulla Sadra resümiert: "Der von uns aufgestellte Weg eines intuitiven Beweises (burhan hadtiyy) fürhrt zu einer Unterscheidung. Jedes Lebewesen, das oberhalb der sinnlichen (hassasa) Seele eine imganinative (mutahyyila) und eine sich erinnernde (mutadakkira) Seele hat, verbleibt nach dem Tod, versammelt sich bei einem der Übergänge, ohne die Belohnung einzubüßen, weil die göttliche Vorsehung keine Geringschätzung von dem zulässt, was zur Vollkommenheit strebt. Aber die Versammlung der sinnlichen, imaginativen und sich erinnernden Seelen strebt, ähnlich der Versammlung der seelischen Kräfte zu ihrem Anfang und Herrn ihrer Arten, wie der Lehrer der Philosophen (... gemeint ist eigentlich Plotin] in seinem Buch >Über die Erkenntnis der Herrschaft< (... ) ausführt. Und die Sache mit der Versammlung der vegetativen Seelen verhält sich zum Beispiel so wie mit den Bäumen, die umgehauen werden oder verdorren, was einer von den Wissenden [= Plotin] erwähnt hat" (S. 166f).
Und als orientierende Empfehlung gibt er weiter: 
"Du musst dein Herz ... in geistiger Zurückgezogenheit der inneren Vereinigung mit der Wahrheit hingeb
en ... Dann [werden] die Schleier (von deinem Herzen) aufgehoben werden, [wenn] du in der Gegenwart des Herren der Herrn sein wirst, wie du es schon in deinem innersten Herzen bist" (S. 170f).

Resümee: Wahrheit und Wirkungsweisen der göttlichen Weisheit
In Mulla Sadras Grundlagentext al-Hikmat al-'arshiyyah (Thron der göttlichen Weisheit) geht es um Offenbarung, intuitive Erkenntnis (Gnosis) und diskursiv argumentierende Vernunft, deren Wahrheitsansprüche zu bestimmen sind. Der "Religionsphilosoph" will  diese unterschiedlichen Faktoren im Sinne einer Synthese zusammenbringen. Mulla Sadra sieht hier die Möglichkeit sprachlicher Annäherungen, so dass die drei Wissensquellen Offenbarung, intellektuelle Intuition und diskursive Argumentation tatsächlich eine Synthese bilden.
Die weitere Überprüfung an den "Orten der Erleuchtung" im Horizont von Sein und Seiendem zeigt die Ebenen der Seele als Schlüsselelemente für ein weiterführendes Verständnis. Mulla Sadra sieht darin auch eine Übereinstimmung mit den klassischen islamischen Lehren.

Dank der deutschen Übersetzung dieses Textes können interessierte Leser nun die große Bedeutung der antiken griechischen Philosophie und ihre verschiedenen Entwicklungen in der östlichen und westlichen Religions- und Philosophiegeschichte besser verstehen.
Reinhard Kirste
Lizenz: CC Rz-Mulla-Sadra, 24-01-2020

    

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