Montag, 22. Mai 2023

Alfred Schlicht: Ostafrikanische Einblicke zu Geschichte, Kultur, Religion und Politik (aktualisiert)

Alfred Schlicht:
Das Horn von Afrika.
Äthiopien, Dschibuti, Eritrea und Somalia:
Geschichte und Politik

Stuttgart: Kohlhammer 2021, 212 S., Abb.,
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ISBN (Print): 978-3-17-036965-8 ---
auch als E-Book erhältlich

Lange Zeit hörte man wenig in den Medien über das Horn von Afrika und Äthiopien. Das hat sich in jüngster Zeit wieder geändert, denn die Region im weiteren Umkreis der Nilquellen bis zum Indischen Ozean ist alles andere als ein Hort der Stabilität. So ist der jüngste blutige Konflikt im Blick auf die äthiopische Provinz Tigray ein alarmierendes Zeichen (Der Standard, 09.04.2021).
Aber was dort im östlichen Afrika geschieht, erhält oft nur zu kurzer Aufmerksamkeit nördlich des Mittelmeers. So sind darum Informationen und historische Erinnerungen wichtig, besonders wenn sie von Kennern der Region in die Öffentlichkeit getragen werden.
Zu diesen gehört in jeder Hinsicht Alfred Schlicht (geb. 1955). Er war nicht nur Diplomat,  der viele Jahre im Nahen Osten verbrachte, sondern hat auch mit den Augen des Orientalisten die Geschichte des Nahen Ostens, des Maghreb und eben auch Ostafrikas kritisch beobachtet.

Im Blick auf das Horn von Afrika ist mit seinem neuesten Werk über Äthiopien, Dschibuti, Eritrea und Somalia fast ein Handbuch entstanden, das durch seine Gliederungsstruktur und die recht knappen Kapitel-Beträge schnellen, konzentrierten und soliden Zugang zur Entwicklungsgeschichte dieser Region und den politischen Zusammenhängen erlaubt.
In 10 Schritten begleitet er die Lesenden von den Vormenschen mit der berühmten "Lucy" bis in die Krisen geschüttelte Gegenwart.

Karte - map: researchgate.net

Kapitel 1 (S. 13-29) wirkt wie eine einleitende Übersicht, in der die ersten Staatenbildungen, die Entstehung des Christentums am Horn von Afrika im 4. Jahrhundert, die islamischen Machtergreifungen seit dem 7. Jh. und der lukrative Sklavenhandel, besonders im Zusammenhang der abessinischen Nadschahiden zur Sprache kommen. Dabei verweist der Autor auf die politischen Einflussnahmen sowie auf die semitischen  Einwanderungen und Handelsbeziehungen aus dem ägyptisch-sudanesischen und südarabischen Raum. Die Zeit des 1. bis 10 Jahrhunderts mit dem äthiopischen Reich Aksum, seinem Untergang und dem Entstehen neuer Staaten im Horizont multikultureller Bevölkerungsschichten werden kurz gestreift.

Im kurzen Kapitel 2 (S. 29-31) legt Schlicht den Fokus auf die "Zwischenzeit" der Zagwe-Dynastie, die sich als "Brücke zwischen der aksumitischen >antiken< Epoche und dem langen salomonischen Zeitalter" vom Hochmittelalter bis fast in die Gegenwart darstellt und mit Kaiser Lalibela und dem Bau der berühmten Felsenkirchen quasi zum "afrikanischen Jerusalem" aufsteigt. 

Mit Kapitel 3 (S. 32-48), der salomonischen Dynastie  im 13. Jahrhundert, beginnt eine Zeit "zwischen christlichem Nationalmythos und imperialer Kontinuität", die erst 1974 endet!  Der Autor führt darum den Lesenden die erhebliche Ausdehnung des äthiopischen Reiches vor Augen sowie die amharische Vorherrschaft im 14. Jh. mit der Unterwerfung muslimischer Sultanate.
Religiös fand in der Mitte des 15. Jahrhunderts eine 
Erneuerung der äthiopisch-orthodoxen Kirche unter dem Herrscher Zar'a Ya'kob statt, der damit dem wachsenden Einfluss des Islam entgegensteuerte.
Es entsteht das Bild gefährlicher Krisen im Verlauf der arabisch-islamischen Offensiven und deren imperialen Gelüsten, die letztlich durch die Ausdehnung des Osmanischen Reiches bis zum Indischen Ozean und die Vorstöße der Portugiesen die geopolitische Lage veränderten. So entwickelte sich (erstmals mit einer festen Hauptstadt - Gondar ) im Rahmen des salomonischen Königtums 
ab 1636 eine erstaunliche Blüte. Dem folgte dann ab 1750 der Zerfall des äthiopischen Reiches in regionale Fürstentümer.
Erst in der Mitte des 19. Jahrhundert mit der Wiedervereinigung der Zerstrittenen - besonders unter Einbeziehung der Oromo in das abessinische System (S. 47) - gewinnt Äthiopien neuen strategischen Einfluss - auch im Zusammenhang der Eröffnung des Suezkanals 1869.

Mit dem längeren 4. Kapitel (S. 49-86) kommt Europa "an der Schwelle zur Neuzeit" als "Player" in das ostafrikanische Spiel. Dazu blickt Schlicht erst einmal zurück:
Im 4. Jahrhundert wird der Norden (später Abessinien genannt) christlich-orthodox.
Im 16. Jahrhundert werden der Osten, Süden und Südwesten des heutigen Äthiopiens zum großen Teil islamisch. Bezugnehmend auf die Chronik des Otto von Freisung (1112-1158) verweist Schlicht auf den Priesterkönig, "der von einem der Heiligen Drei Könige abstammen soll" 
(S. 49). Damit erhält dieses antiislamisch orientierte Narrativ seine geografische Präzision am Horn von Afrika.
Im 16. Jahrhundert schließlich erscheint Portugals Einfluss Macht gewinnend auf der Bildfläche. Ein kurzer Abschnitt ist der Aufhellung um das Beta Israel gewidmet. Gemeint sind die sog. Juden in Ostafrika -  eine christliche-strenge Reformrichtung, die sich auf den Gründungsmythos Äthiopiens bezieht.

Mit dem Kapitel 5 (S. 87-105) gibt Schlicht den Blick frei für die Entwicklung des modernen Äthiopiens und seiner Nachbarstaaten am Horn von Afrika.
Auf diesem quasi 2. Teil des Buches bis Kapitel 10 (S. 87-185) liegt das Schwergewicht seiner politisch orientierten Ausführungen. So ist es für ihn wichtig, auf weitere regionale Besonderheiten - und zwar besonders im Horizont des sich dort etablierenden kolonialen Imperialismus - einzugehen: Eritrea, Tigray, Schewa, Begemdir (Gonder), Oromo-Region, Somalia und Dschibuti (Kapitel 10, S. 175-185 sowie Kapitel 6, S. 106-124 und
Kapitel 8, S. 145-153).  Neben diesen Einblicken in die Region, kommt auch ein Dauerthema  zur Sprache: Sklaverei (bereits S. 84-86) Erst Kaiser Menelik II. beendete den Sklavenhandel. Er war auch derjenige, der nach der Unabhängigkeit Äthiopiens 1897 (nun "Abessinien") von 
1889-1913 eine neue Ära einleitete - mit der Gründung von Addis Abeba („neue Blume“) als Hauptstadt.
In der Folge wüteten die von starken Widerständen geprägte Eroberungszüge der Oromo-Gebiete und die Region mit den südlichen Minoritäten der Afar und der Somali (Ogaden).

Alfred Schlicht schildert sehr anschaulich die Kämpfe um die nationale Unabhängigkeit Eritreas sowie die Zeit des Kaisers („Negus Negesti“) Haile Selassie I. (1892-1975), seinen Sturz 1974 und die marxistische Phase Äthiopiens mit den sich einmischenden Mächten, der Sowjetunion und Kubas. Besonders intensiv zeigt sich inzwischen der wachsende Einfluss Chinas (Kapitel 9, S. 154-170).
Ein sorgsames Augenmerk legt Schlicht auf die endlich erfolgte Unabhängigkeit Eritreas 1993. Aber das Horn von Afrika bleibt ein Unruheherd - von den furchtbaren Hungerkatastrophen (die letzte 2002) abgesehen. 

So  sieht Schlicht im Zusammenhang "einer umfassenden Offensive Chinas" (S. 170) die weiter steigenden Schulden Äthiopiens sehr kritisch. Hinzu kommt die für Äthiopien hohe, belastende Zahl von Flüchtlingen: "Hunderttausende aus den Nachbarländern halten sich hier auf, aus Somalia, ebenso wie aus Eritrea und dem (Süd-)Sudan" (S. 170). Nach 27 Jahren TPLF-Herrschaft  besteht seit 2018 angesichts des neuen Ministerpräsidenten Äthiopiens, Abiy Ahmed Ali, der der Ethnie der Oromo angehört,  ein etwas kräftigerer Hauch der Hoffnung auf demokratische Stabilisierung.
Vgl.  Zur TPLF, der 
Volksbefreiungsfront von Tigray:  
Eskalation in Äthiopiens Tigray-Region (Deutschlandfunk, 15.01.2021)

Mit den Fragezeichen im Kapitel 10: Somalia und Dschibuti - Wege in die Unabhängigkeit ... oder ins Chaos? (S. 175-185) lässt der Autor angesichts des von Krisen geschüttelten und von islamistischem Terror heimgesuchten Somalia wenig Hoffnung durchblicken. Aber es gibt immerhin etwas Ermutigung  im Blick auf Dschibuti.
So schließt das Buch von Alfred Schlicht: Das kleine "Dschibuti hat langfristig, so scheint es, besonders gute Perspektiven unter den Staaten am Horn von Afrika - scheint doch so gegensätzlichen Großmächten wie China und den USA an dem Land deshalb an einer  störungsfreien Entwicklung gelegen zu sein" (S. 171).

Resümee
Man merkt es bei der Lektüre: Bei dieser spannenden und nie von gefährlichen Krisen erlösten Region geht es dem Autor um mehr als nur darum,  eine Art Übersichts-Geschichte der Staaten am Horn von Afrika zu schreiben. Ihm liegt daran, dass auf dem Hintergrund historischer, kultureller und religiöser Besonderheiten gerade im Horizont des christlichen Äthiopien und der weithin islamisch dominierten Nachbarländer den Lesenden langfristig wirkende politische Zusammenhänge und sogar mögliche auf Zukunft hin orientierte Konstellationen deutlich werden. Denn die Region am Horn von Afrika hat - beginnend mit der Antike - weiterhin auf Grund ihrer strategische Lage für die "Global Players" eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.


English Summary: History, Culture, Religion, Politics - East African Insights
You notice it while reading: The author is concerned with more than just writing a kind of overview history of the states at the Horn of Africa. It is an exciting region that has never been released from dangerous crises. It is important to him that, against the background of historical, cultural and religious peculiarities, especially in the horizon of Christian Ethiopia and the largely Islamic-dominated neighbouring countries, long-term political contexts and even possible future-oriented constellations become clear to the reader. For the region on the Horn of Africa has had an importance for the "global players" - beginng from ancient times -  and will continue to do so in the future due to its strategic location.

Ergänzende Informationen auch auf der Seite:
Maghreb, Arabische Welt, Ost-Afrika, Türkei, Mittelost bis Ost-Asien: Geschichte, Minderheiten, Länderauswahl A-Z  >>> 

Weitere (rezensierte) Titel von Alfred Schlicht: 

Ergänzungen und akuelle Einblicke von Alfred Schlicht:

KAMPF UMS ROTE MEER im 16. Jh.: 
Wie gerade einmal 400 Portugiesen Äthiopien vor dem Islam retteten
(WELT+, 22.05.2022)
Vgl. dazu: 
Cristóvão da Gama (wikipedia.en)

Am Horn von Afrika droht das Chaos.  
Tigray-Konflikt neu aufgeflackert.  

(Tagespost, 02.09.2022)  -

Foto: 
Armoured vehicle destroyed by fighting in Hawzen (wikipedia.en: Tigray War)




Im Blick auf Äthiopien gestern und heute lohnt es, sich mit den Veröffentlichungen zu beschäftigen:
Prince Asfa Wossen Asserate, PhD. --- (Homepage ) vgl. besonders: Infos auf wikipedia.en 

Einen guten Einblick in die Kulturgeschichte Äthiopien
bieten diese Bücher:

  • Klaus Dornisch: Sagenhaftes Äthiopien. Archäologie – Geschichte – Religion.
    Mit einem Vorwort von S. K. H. Dr. Prinz Asfa-Wossen Asserate.
    Darmstadt: Philipp von Zabern (WBG)
    2015, 192 S., zahlreiche Abb., Glossar - 
    Rezension >>>
  • Siegbert Uhlig / David L. Appleyard / Alessandro Bausi / Wolfgang Hahn / Steven Kaplan (Hg.):Äthiopien. Geschichte, Kultur, Herausforderungen.
    Wiesbaden: Harrassowitz 2018,XII, 396 S.,
    zahlreiche erläuternde Fotos., Karten, Glossar, Register

    Rezension >>>

Aktuelle Zeitungsbeiträge zur Geschichte Ostafrikas
von Alfred Schlicht

Eine afrikanische Lösung
Erschienen in Tagespost, 10.11.2022 - Mit frdl. Genehmigung des Autors


Erschienen in: Tagespost, 27.05.2022. mit frdl. Genehmigung des Autors


Erschienen in: Tagespost, 17.03.2022. mit frdl. Genehmigung des Autors


Lizenz: CC


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