Dienstag, 22. Januar 2019

Wieder im Blickfeld: Khalid Al-Maaly - Umbrüche in der Arabischen Welt

Khalid Al-Maaly (Hg.):
Die Arabische Welt.
Zwischen Tradition und Moderne. 

Mit Beiträgen von:
Adonis, Assia Djebar, Rafik Schami, Abbas Seydoun,
Edward W. Said, Fatima Mernissi, Mahmoud Darwisch, Nasr Hamid Abu Zaid, Mohammed Arkoun, Abdelwahab Meddeb, Sadik Jalal al-Azm, Abdallah Laroui, Elias Khoury u.a.

Heidelberg. Palmyra 2004, 259 S.

19 arabische Intellektuelle, Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller beschreiben die aktuelle Situation in den arabisch-islamischen Ländern rund ums Mittelmeer: die geschichtliche Entwicklung und die innenpolitischen Verhältnisse: die Machtstrukturen der Herrschenden und ihr Machterhalt, die Opposition, das Volk und die Intellektuellen im Schatten der Regime. Gegenstand der meisten Ausführungen ist ebenso die Rolle Europas und der USA gegenüber diesen Ländern und in der Palästinafrage Die Autoren artikulieren ihre Erwartungen an die Verantwortung Europas und der USA.
Die interne Situation in den arabisch-islamischen Ländern wird in mehreren Beiträgen ausführlich beschrieben:
die Clan-Herrschaft, die Unterdrückung jeder politischen Opposition, der Stimme der Intellektuellen; die damit zusammenhängende Mythologisierung der Vergangenheit, die Verfälschung historischer Fakten, die Flucht in Verschwörungstheorien, die Vortäuschung von Stärke oder die Verschleierung der Machtlosigkeit, die Ausnutzung der Resignation, Perspektivlosigkeit und Verzweiflung bis hin zur Aktivierung von fundamentalistischen Reaktionen mittels religiöser Interpretation sozialer und politischer Konflikte und die Übernahme fundamentalistischer Begründungen durch die Medien.
Weiten Raum nimmt die Kritik an der Politik der europäischen Länder ein: dass sie nichts oder wenig unternehmen, damit Demokratie, Säkularisierung und Menschenrecht in diesen Ländern eine Chance bekommen. Das Verhalten der europäischen Länder und des gesamten Westens erscheint aus der Sicht mehrerer Beiträge als von der Absicht gesteuert, diese Länder in den internen Konflikten und in traditionellen Strukturen zu belassen, sie nicht als Gleichberechtigte und Partner im kulturellen Austausch anzuerkennen und ihre Leistungen in den Grundlagen der europäischen Kulturen zu übergehen. Sie beklagen die europäische Allianz zu den USA, weil sie es dieser Großmacht ermöglicht, die arabisch-islamischen Länder in militärischer, wirtschaftlicher und politischer Überlegenheit zu demütigen. Mitunter wird der innere Zerfall in den Ländern einseitig als Auswirkung der erlittenen westlichen Gewalt dargestellt. Mehrfach wird nachdrücklich darauf verwiesen, dass es im Verhältnis des Westens zu den arabisch-islamischen Ländern nicht um einen Kampf der Kulturen und Wertesysteme/Religionen geht, sondern dass es sich um einen Konflikt mit wirtschaftlichen, politischen und medialen Mitteln handelt. Freiheit und Demokratie erscheinen im Banne politischer und wirtschaftlicher Interessen des Westens; Dogmatismus, Absolutheitsansprüche, die Angst vor Kritik allgemein und vor historischer Kritik im Besonderen bestärken den Westen in seinem Misstrauen, gegenüber einer mögliche Koexistenz von Demokratie und Islam.
Der abschließende Beitrag des Schriftstellers Rafik Schami beschönigt in keiner Weise die Lage in den arabisch-islamischen Ländern und die Verantwortung Europas und der USA, wie sie in den anderen Beiträgen beschrieben wurde. Er konkretisiert in Ansätzen – indem er über die pauschalierenden Forderungen in anderen Beiträgen hinausgeht und auch die inzwischen verfahrene Lage in den Ländern berücksichtigt – mögliche Alternativen: in welcher Weise Europa und die USA eine Wende zu Demokratie und Frieden herbeiführen könnten. Er fordert von Europa eine kritische Annäherung an die arabisch-islamischen Länder (ähnlich der, wie sie es gegenüber den vom kommunistischen Regime beherrschten osteuropäischen Ländern praktiziert haben) in Form eines humanistischen Angebots zur Zusammenarbeit.
Das kann geschehen durch:
·      Unterstützung und Befähigung der demokratischen Opposition, nicht der herrschenden Clans
·      ein eigenständigeres Verhalten Europas zu den USA (als Freund nicht als Sklave).
Durch die kritische Annäherung Europas in Form der Unterstützung der demokratischen Opposition würde es den Herrscherclans in diesen Ländern  nicht mehr genügen, sich der schützenden Obhut der USA zu bedienen.
Zudem wäre Europa in einer derartigen aktiven Rolle nicht mehr in der hergebrachten Form den Allianzzwängen ausgeliefert.

Alois Weidacher, Unterschleißheim
Zuerst erschienen in.
Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): Europa im Orient - Der Orient in Europa.
Religionen im Gespräch, Bd. 9 (RIG 9). Balve: Zimmermann 2006, S. 492-493






Montag, 21. Januar 2019

Georges Corm: Mittelmeer und Mittlerer Osten ---------- Versuche, eine Region zu verstehen !

Aus "Les Cahiers de l'islam" (16.07.2017)
"Le monde arabe est dans un chaos mental absolu".
Die arabische Welt ist ein einem absoluten mentalen Chaos.
Der libanesische Historiker, Ökonom und Politiker Georges Corm 
(geb. 15.06.1940 in Alexandria) studierte  von 1958 bis 1961 am Institut für politische Studien in Paris und promovierte 1969 über öffentliches Recht an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät von Paris.

1962 kehrte er in den öffentlichen Dienst im Libanon zurück und war von 1998 bis 2000 libanesischer Finanzminister. 
In Vorträgen, Seminaren und Konferenzen versucht er konsequent, die Mentalitäten und Umbrüche der arabischen Welt und für den Westen verstehbar zu machen.
Er lehrte von 1969 bis 1985 an mehreren libanesischen Universitäten und ist seit 2001 Professor an der Saint Joseph Universität in Beirut.
Seine zahlreichen Bücher über die Geschichte des Nahen Ostens und zu gegenwärtigen Konflikten im Mittelmeerraum gehören zu den wichtigsten Analysen zum Verstehen der arabischen Welt.


 La nouvelle question d'Orient.
Paris: La Découverte 2017, 319 pp.

--- Verlagsinformation,
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: hier

--- Gesamte Rezension in
 "liens socio - lectures" 2017: hier 

In dieser Besprechung in "liens socio - lecture 2017 betont Émilien Légendre u.a.:
"Das Chaos der Gewalt im Nahen Osten beruht auf einem "mentalen Chaos", das sich aus dem Ende der Konfrontation der beiden Blöcke während des Kalten Krieges ergibt. Nach 1990 nahm nämlich die Hybris der westlichen Welt einer einzigen Weltordnung ihren Lauf, als gäbe es nur eine einzige Weltordnung. Damit wurde ein neuer Typus des Imperialismus ausgeübt, ein >humanitärer Imperialismus<. Dieser sieht sich im Recht auf Einmischung in der mittelöstlichen Region. Hier liegt eine sehr kritische Reflexion vor, denn der Autor macht die Vereinigten Staaten und überhaupt die NATO-Mitglieder weitgehend für die Gewalt verantwortlich, die die arabische Welt erschüttert. In diesem Buch schlägt Corm darum eine konzeptionelle Arbeitsveränderung für eine verbessertes Verstehen des Nahen Ostens vor. Damit soll die Rationalität wieder in eine öffentliche Debatte eingebracht werden, die scheinbar von emotionalen Reaktionen [auch im Westen] dominiert wird."

--- Gesamte Rezension (französisch): hier


Pensée et politique
dans le monde arabe     
Contextes historiques
et problématiques XIX-XXIe siècle.
Paris: La Découverte 2015, 346 pp.

In dieser Arbeit stellt der Autor die vielfältigen Facetten des politischen Denkens in der arabischen Welt seit dem 19. Jahrhundert dar. Hier zeigen sich neben dem der von vielen Kulturen geprägten Geschichte auch die Kontroversen dieses Denkens in seiner großen Vitalität prägen. Das alles muss zugleich im Horizont der historischen Umbrüche gesehen werden, die die arabische Welt wesentlich veränderten. Vorherrschaften wie die des Osmanischen Reiches zusammen. Der 1. Weltkrieg und die damit zusammenhängenden weiteren Konflikte veränderten die die geopolitischen und sozioökonomischen Strukturen des gesamten Mittleren Ostens.  Die von außen einwirkenden Mächte drängten eigenständige arabische Denkkonzepte an den Rand, weil nun politisch, militärisch und akademisch beeinflusst auch bestimmte arabische Regime sich von ihren westlichen Beschützern instrumentalisieren ließen. Dem Autor gelingt es durch diese umfssende Analyse zum einen hervorzuheben, wie wichtig es ist sich mit der Komplexität arabischen Denkens auseiandnerzusetzen.
Zum anderen sollte die dynamik Kraft duieses denekns nichht untershätzt werden sowohl in ihrer kritishen und profanen Wirkung, gerade weil sie dem Klischee einer politisch-religiösen Brüchigkeit in keine r Weise entspricht. 

Pour une lecture profane des conflits.         
Sur le «retour du religieux» dans les conflits contemporains
du Moyen-Orient.

Collection "Cahiers libres", Paris: La Découverte 2015,
280 pp.

Der Leser wird hier intensiv herangeführt, sich mit der Logik des Krieges zu befassen. Nur so lässt sich ansatzweise verstehen, wie und warum immer wieder neue Konflikte aufbrechen. Das gilt besonders für den Nahen und Mittleren Osten. Seit dem Ende des Kalten Krieges werden die verschiedenen Gruppierungen und Regionen auseinandergerissen. Die These vom "Kampf der Kulturen" und der Auseinandersetzung mit dem islamistischen "transnationalen" Terrorismus verdeckt die hintergründig wirkenden Mechanismen zu immer neuen Gewaltausbrüchen. Die Verteidigung sog. westlicher Werte in den Krisengebieten (z.B. Afghanistan und Irak) wurden seit den 1990er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit sog. gerechtfertigten Kriegen begründet. So wurde (und wird) Gedächtnis und Geschichte manipuliert, um geopolitische Interessen der „global players“ durchzusetzen, jedoch mit dem Anspruch, in der internationalen Ordnung zugleich religiöse Werte zu verteidigen, statt eine gezielte Anwendung des Völkerrechts in Konfliktsituationen durchzusetzen.
Der Schwerpunkt der Argumentation von Georges Corm liegt auf der Notwendigkeit einer säkularen Konfliktanalyse angesichts dieses „zivilisatorischen Fanatismus". Dieser kann aber keine Antwort auf eine Gewaltpolitik sein, die ihr antiwestliches Auftreten religiös mit „dem Islam“ legitimiert. Politisch-religiös motivierte Konflikte brauchen eine säkulare Deutung im Horizont der Laizität, der demokratischen Freiheiten, und zwar durchaus in der republikanischen Version „à la française“.
Vgl. dazu bereits seinen Beitrag: "Da la Palestine à l'iran.
Révoltes et refus au nom de l'islam"

= Von Palästina bis zum Iran. Revolten und Verweigerung im Namen des Islam
Le Monde Diplomatique. Mars 2006

Weitere Literatur 1989 - 2010 
  • L'Europe et l'Orient : de la balkanisation à la libanisation: histoire d'une modernité inaccomplie.
    Paris: La Découverte [1989, 2001] 2003
    --- Verlagsinformation: hier
    --- Rezension in Persée:  Yves Gonzales-Quijano 1990: hier
  • Conflits et identités au Moyen-Orient (1919-1991). Paris: Arcantère 1992
  • Le Nouveau Désordre économique mondial.
    Paris: La Découverte 1993
  • Le Moyen-Orient. Collection "Dominos"
    Paris: Flammarion 1993  
  • Histoire du pluralisme religieux
     dans le bassin méditerranéen.
    Paris: Geuthner 1998
  • La Méditerranée, espace de conflit, espace de rêve.
    Paris: Harmattan 2001 --- Verlagsinformation: hier
  • Le Liban contemporain : histoire et société.
    Paris: La Découverte [2003, 2005] 2012
  • Orient-Occident, la fracture imaginaire
    Paris: La Découverte [2002] 2004

    Deutsch: Missverständnis Orient.
     Die islamische Kultur und Europa.
    Zürich: Rotpunkt 2004, 180 pp.
    --- Rezension in Deutschlandfunk, 20.09.2004: hier
  • La Question religieuse au xxie siècle. Géopolitique et crise de la post-modernité. Paris: La Découverte 2006
  • Le Proche-Orient éclaté
    (1956–2012). Paris: Gallimard [2002] 2007
  • Histoire du Moyen-Orient de l'Antiquité à nos jours
    Paris: La Découverte 2007
  • L'Europe et le mythe de l'Occident.
    La construction
    d'une histoire. 
    Paris: La Découverte 
    --- Verlagsinformation, Inhaltsverzeichnis,
    weitere Titel von G. Corm: hier
     






Le Nouveau Gouvernement du monde.
Idéologies, structures, contre-pouvoirs
Essais no. 390. Paris: La Découverte 2013
--- Verlagsinformation / Inhaltsverzeichnis: hier
Dieses Buch ist ein Handbuch, um sich über die Probleme und die Veränderungen zu informieren, die durch die Globalisierung entstanden sind. Zugleich eröffnet es Perspektiven für die Zukunft.
Es versteht sich bewusst als Zusammenfassung verschiedener Themenfelder im Horizont von Ökonomie, Gesellschaftswissenschaften und Politik. Corm beschreibt diese unvermeidlichen Veränderungen, die aber nicht dogmatisch verengt geführt werden dürfen, vielmehr zu Wirtschaftsreformen ermöglichen müssen. 

Dazu gehört eine Sensibilisierung im Blick auf Korruption und ein konsequentes Umdenken angesichts der Verschwendung von Ressourcen. Dies kann nur unter Berücksichtigung größerer räumlicher Zusammenhänge geschehen. 
Rezension (französisch) - "liens socio - lectures" 2010: hier
Vgl. Stefan Weidner:
Liberalismus. Unsere Freiheit von außen gesehen.
Deutschlandfunk, 20.01.2019
         
 


                                                                       

                         

Sonntag, 20. Januar 2019

Daisaku Ikeda / Ernst Ulrich von Weizsäcker ------- Ethische Verantwortung für die Zukunft der einen Welt

Ernst Ulrich von Weizsäcker / Daisaku Ikeda:
Was sind wir uns wert?
Gespräche über Energie und Nachhaltigkeit
Aus dem Englischen übersetzt von Judith Elze und Katrin Harlaß
Freiburg u.a.: Herder 2016, 184 S. ---- ISBN: 978-3-451-34964-5 ---

Ernst Ulrich von Weizsäcker (geb. 1939) hat sich sowohl als Naturwissenschaftler wie als Politiker einen Namen gemacht. Neben vielen Wissenschaftseinrichtungen, denen er vorstand bzw. noch vorsteht, ist er seit 2012 auch Co-Präsident des Club of Rome. Sein philosophischer Gesprächspartner in diesem Buch ist Daisaku Ikeda (geb. 1928), Präsident der buddhistischen Laienorganisation Soka Gakkai, die ihren Ursprung in Japan hat. Er erhielt für sein Engagement im Blick auf Menschenwürde und Menschenrechte 1983 den Friedenspreis der Vereinten Nationen. 


Weiteres zu Soka Gakkai: hier

Diese beiden weltweit engagierten Persönlichkeiten haben acht ausführliche Gespräche über die Weltverantwortung in ihren unterschiedlichen ökologischen, wirtschaftlichen und friedenspolitischen Dimensionen geführt. Diese in manchem visionär wirkende Gesprächsreihe erschien zuerst im japanischen Literaturmagazin Ushio zwischen Dezember 2011 und Mai 2014 und auch in der japanischen Ausgabe des Journal of Oriental Studies.

Um es vorweg zu sagen: Die Geschichte von Deutschland und Japan besonders im 20. Jahrhundert zeigt viele Berührungspunkte – allerdings nicht nur angenehmer Art, was Kriege und Katastrophen betrifft. Man denke nur an die faschistische „Achse“ Berlin Tokio während im 2. Weltkrieg, die Entwicklung und den Abwurf der ersten Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sowie die Erdbeben und Reaktorunfälle in Japan bis in die jüngste Gegenwart. Solche Erfahrungen nötigen über regionale und nationale Sichtweisen hinauszukommen und die Welt als eine Welt für alle Menschen wahrzunehmen. Wie schon der Reformpädagoge und Gründer von Soka Gakkai Makiguchi Tsunesaburo (1871 - 1944) einforderte, gehören Erziehung und Bildung zu den Kernaufgaben für die Verbesserung der Weltzustände im Sinne einer umfassenden Friedenspädagogik (vgl. S. 21).
Das erfordert nicht nur international sorgfältige analytische Arbeit sondern auch eine ethische Verantwortung, wie sie ebenso Hans Küng in seinem „Projekt Weltethos“ zum Ausdruck gebracht hat.

Die beiden Autoren – gewissermaßen gleichzeitig Wissenschaftler, Philosophen und Zukunftsforscher – diskutierten dieses weite Themenfeld in mehreren „Anläufen“:
1. Im Gespräch Hoffnung und Gesundung geht um die Erkenntnis und Konsequenzen aus den Grenzen des Wachstums angesichts eines ethisch hemmungslosen Kapitalismus.
2. Der Abschnitt Eine Welt ohne Krieg bezieht sich erinnernd auf das Anti-Atomwaffen-Manifest Göttinger Kernwaffenforscher 1957. Das Gespräch bedenkt aber auch die Konsequenzen aus dem Fall der Berliner Mauer 1989, das Ende des Kalten Krieges und japanische Abrüstungsinitiativen.
3. Beim dritten Gesprächsthema Grünes Wachstum geht es um Energie und Klima, das Weizsäcker unter den Titel Faktor Vier: Doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch anspricht und als Faktor Fünf zukunftsorientiert analysiert: Nachhaltiges Wachstum und Ressourcenschonung, besonders auch durch Reformen von unten. Angesprochen wird dabei die Planung von DESERTEC, nämlich den Energiebedarf Europas über Solarstrom aus der Sahara abzudecken.
4. Entscheidend sind jedoch geänderte Verhaltensweisen: Genügsamkeit widerspricht keineswegs einem erfüllten Leben. Einfach ist nicht ärmlich! Allerdings ist es unumgänglich, ethische Verantwortung zu praktizieren, und zwar mit dem Verzicht auf ungebremsten Konsum und ausbeuterisches Wachstum um einer gesunden Umwelt willen.

5. In die langfristige Perspektive haben sich seit langem schon verantwortliche Gruppierungen eingeschaltet wie der Club of Rome, der 1972 schon die „Grenzen des Wachstums“ einforderte. Daraus entwickelte sich die Orientierung für ein „nachhaltiges Wachstum“. 
6. Das immer wieder durchklingende Thema ist ein notwendiges Umweltbewusstsein, das sich global entwickeln muss. Es fängt oft mit kleinen Schritten an vielen Orten an – gerade auch in den Schulen. Umwelterziehung ist darum das Gebot der Stunde im Sinne eines neuen Zeitalters der Aufklärung. Ökonomie und Ökologie müssen in eine umweltbewusste harmonische Balance gebracht werden.
7. Hier schließt sich fast nahtlos das nächste Gespräch an: Soziale und ökologische Gerechtigkeit, das im sog. TLC-Faktor gipfelt: Tender Loving Care = liebevolle Fürsorge (S. 116f). Das bedeutet Rückkehr zum menschlichen Maß und Beendigung des „Marktfundamentalismus“ (S. 122ff) hin zu toleranten und versöhnlichen Gesellschaften und Staaten. Nur so können alle die Grundrechte des Lebens wahrnehmen: Ausreichende Nahrung und sauberes Wasser, Arbeit und Wohnung. Bhutan mit seinem Indikator „Bruttonationalglück“ tritt hier besonders in den Fokus. Hier kommen die im 3. Gespräch schon erwähnten Faktoren Vier und Fünf ins Spiel.
8. Für unsere nachhaltige Zukunft bedeutet dies die Klimaveränderungen nicht nur ernst nehmen, sondern an sinnvollen Verbesserungen arbeiten. Dazu gehört als erstes eine Haltung der Genügsamkeit, die die Gier nach Ressourcen ausbremst, Energien sorgsam einsetzt und Ressourcen wiederverwertet, denn in dieser Welt ist für alle genug da, allerdings nicht für jedermanns Gier (Gandhi, vgl. S. 161).

Zur Bedeutung von Religion        
Noch stärker als Weizsäcker bezieht sich Ikeda immer wieder auf die religiöse Motivation seines Handelns. Das wird z.B. mit einem Buddha-Zitat deutlich, in dem Mitgefühl und Umweltbewusstsein zusammenklingen (S. 95). Der Gedanke des Philosophen Nichiren Daishonin (1222–1282) zu umfassender Gerechtigkeit gewinnt erstaunliche Aktualität: „Die lebenden Wesen und ihre Umgebung sind nicht zwei Dinge, und ein Mensch und das Land, das er bewohnt, sind nicht zwei Dinge“ (S. 117). 
Zum Schluss fasst der japanische Philosoph darum die Hoffnung auf eine glückvolle und friedliche Welt so zusammen: „Ich bin überzeugt, dass es zu den Kernaufgaben und -verantwortlichkeiten von Religion gehört, Perspektiven anzubieten, die uns in den Herausforderungen des Zeitenwandels eine verlässliche Richtschnur und feste Stütze sein können“ (S. 162). Diese Aufforderung, die Frieden stiftenden Kräfte der Religionen intensiver in politische Zusammenhänge einzubringen, müsste im Blick für die Zukunft noch viel deutlicher werden.
Reinhard Kirste
Vgl. das in mancher Hinsicht thematisch verwandte Buch:
·        Michael Gorbatschow / Daisaku Ikeda: Triumph der moralischen Revolution. 
Freiburg u.a.: Herder 2015, 266 S., Personenregister
Verlagsankündigung mit Leseprobe: hier


  Rz-Ikeda-Weizsäcker-Zukunft, 29.10.16   

Freitag, 18. Januar 2019

Abdoldjavad Falaturi: Griechische Philosophie und koranisches Denken - Streit um die Wirklichkeit


Abdoldjavad Falaturi: Die Umdeutung
der griechischen Philosophie
durch das islamische Denken.

Herausgeber:
Mahdi Esfahani, Hamid Reza Yousefi, Parvis Falaturi 

Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, 203 S.
--- ISBN 978-3-8260-5974-2 ---


Buch des Monats Mai 2018 der InterReligiösen Bibliothek (IRB)

English summary at the end of the review !
Abdoldjavad Falaturi (1926–1996) gehört nicht nur zu den bedeutendsten Islamwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts, sondern auch zu den Brückenbauern zwischen den Denkkonzepten von Orient und Okzident, von griechischer und islamischer Philosophie. 
Das kam bereits in seiner Dissertation an der Universität Bonn von 1965 zum Ausdruck: 
Zur Interpretation der kantischen Ethik im Lichte der Achtung. Mit einem Anhang.
Vorarbeit zu Studien zu einem allgemeinen Kantwörterbuch.
 


In seiner Habilitation „Die Umdeutung der griechischen Philosophie durch die islamische Denkweise …“  von 1973 hob der Theologe und Philosoph die unterschiedlichen Denkkonzepte im Kontext der Orient-Okzident-Begegnungen besonders heraus.
Durch die Aufarbeitung des nicht leicht zu lesenden Manuskripts mit späteren Einträgen und Ergänzungen wird diese entscheidende Forschungsarbeit nun zum ersten Mal öffentlich zugänglich.
Die Bearbeiter schreiben darum im Vorwort: „Ihm [Falaturi] gelingt es, die griechisch-islamische Denkgeschichte interkulturell wie interreligiös neu zu durchdenken. In dieser … Schrift führt er … den Beweis, dass die sogenannte Islamische Philosophie nicht, wie oft insinuiert, eine Nachahmung der griechischen Philosophie ist noch eine islamisierte Form griechischen Denkens darstellt“ (S. 11). Im Einzelnen führt er aus, wie sich die griechischen Inhalte in der Bearbeitung durch islamische Philosophen verändern und dabei zugleich umgestaltet werden. So entsteht auf der Basis griechischer Philosophie ein facettenreiches islamisch geprägtes Denkgebäude von eigenständiger Kraft. Dieses erweist sich zugleich als Brücke für den Umgang mit den unterschiedlichen östlichen und westlichen Denkkonzepten.
Die Arbeit Falaturis hat also das griechische und koranische Zeit- und Wirklichkeitsverständnis gleichermaßen im Blick, um aus dieser Zusammenschau erkenntnis-theoretische Konsequenzen zu ziehen.
Der Einleitungsabschnitt und das 1. Kapitel gehen darauf besonders ein. Die Methodologie des Verfassers ermöglicht es dabei, kontinuierlich und konsequent die griechischen Denkstrukturen am Leitfaden von ἀρχή (Anfang/Prinzip, Ursprung), κίνησις (Bewegung), γένεσις (Entstehung, Schöpfung) und είμαι (Sein) zu durchleuchten. Dadurch können die jeweiligen unterschiedlichen Zeit- und Wirklichkeitsvorstellungen sowie die ontologischen Erkenntniszugänge im Blick auf Koran und griechische Philosophie hervorgehoben werden. Dies führt im weiteren Verlauf der Darstellung jedoch nicht dazu, dass es keinerlei Verbindungsbrücken zwischen griechischem und islamischem Wirklichkeitsverständnis gibt.
Im 1. Kapitel benennt Falaturi (noch thesenhaft) zwei wichtige Erkenntnisse, die die weiteren  zwischen griechischer Philosophie und koranischer Ansicht steuern. Es müssen erstens die arabischen Übersetzungen mit griechischen Originalen verglichen und die mittelalterliche Philosophie-Rezeption erst einmal ausgeblendet werden. Es kann nämlich nicht von Übereinstimmungen ausgegangen werden, weil in Wahrheit eine Abweichung vorliegt (S. 28). Das zeigt sich sehr deutlich an Texten von Avicenna, al-Ghazali, al-Farabi und Averroes. Zweitens kommt für „die Darstellung der rein islamischen Denkweise … nur der Koran als höchster Maßstab infrage. Es versteht sich aber von selbst, dass dieser nicht als kanonische Quellen einer religiösen Systematik, sondern als ein geistig überaus wichtiges Buch in Betracht kommt, dessen Vorstellungs- und Denkweise … den islamischen Geist am reinsten und am entschiedensten bestimmt hat“ (S. 31).
Bevor Falaturi jedoch die koranische Zeitauffassung näher erläutert, betont er: Der Kontrast zum koranischen Vorstellungsschema zeigt sich am griechischen Leitbegriff der ἀρχή. Das führt zu den Ausdifferenzierungen von χρόνος und καιρός. Aristoteles, Zenon und Plotin werden dabei zu hermeneutischen Schlüsselfiguren. Also leitet der regulierende Charakter der Zeit alle Erkenntniszugänge, m.a.W.: die griechischen Philosophenschulen stehen auf dem Boden dieses regulierenden Zeitverständnisses (S. 59). Diese Basis bzw. Denkstruktur fehlt im Koran.
Das 2. Kapitel liest sich nun deshalb recht spannend, weil Falaturi am Leitfaden des arabischen Wortes waqt und seinen Ableitungen nachweist, wie sich durch den islamischen Transfer die griechischen Begriffe χρόνος und καιρός verändern. So deutet alles darauf hin, „dass die koranische Zeit keine physikalische und keine metaphysische Größe ist … Sie ist also keine regulierende Zeit …. Sie ist … eine reale kosmische Erscheinung, die … von Gott hervorgebracht wurde und insofern ihre eigene Entität besetzt“ (S. 68f). Der Koran hat darum zwei Zeiteinheiten: Nacht und Tag und keine Zeitabläufe. Damit fehlt ihm auch die Ewigkeits- und Zeitlichkeitsvorstellung (S. 79). „Da die Zeit dem Weltall als ein Teil desselben gehört, so ist Gott folgerichtig vor oder außerhalb der Zeit“ (S 82). So lassen sich auch Prozesse nicht bis zu ihren Ursprung (ἀρχή) zurückverfolgen, weil die regulierende Zeit als Basis fehlt. Dadurch entsteht ein von der griechischen Philosophie abweichendes Wirklichkeitsverständnis. Das führt Falaturi im 3. Kapitel aus:
Der Koran betont die Ortsbezogenheit, er kennt keine Bewegtheit: Die Herkunft der Welt, geschaffen von einem einzigen Urheber – Gott. Er ist zugleich der Größte, der Gestaltgeber, neben dem es keine anderen Götter geben kann. Gott kann darum nicht als wirkende Ursache oder als erster Beweger verstanden werden (S. 96). Falaturi spielt diese Differenzen an einer Reihe von griechischen Begriffen durch, für die es kein arabisches Äquivalent gibt. Sein und Nichts beschäftigen den Koran nicht (S. 114), Wirklichkeit hat nichts mit einem prozesshaften Entstehen zu tun (S. 121) und ist damit das Gegenstück zur griechischen Wirklichkeitsauffassung. Wie sieht dann aber koranische Philosophie aus?
Falaturi schreibt im 4. Kapitel zur Wirklichkeitserkenntnis im Koran: „Das Wirklichkeitsbild des Korans scheint von der Überzeugung getragen zu werden, dass das All samt allem, was sich darin befindet, eine Summe von einzelnen Dingen ist, die alle unabhängig voneinander nur von einem … außerweltlichen Urheber oder Täter abhängen“ (S. 133). Daraus folgt, dass jegliche Metaphysik für den Koran undenkbar ist. Es muss jedoch eine entsprechende Erkenntnislehre geben. Sie bezieht sich auf das tiefste Wissen (arabisch ‘ilm =  „aus dem Grunde“, S. 138). Menschliches Wissen kommt dagegen nur an Einzeldinge heran. „Im Koran fehlt also – im Gegensatz zum Griechischen – das wissenschaftliche Wissen, die wissenschaftliche Reflexion und deshalb auch der wissenschaftliche Zweifel … Der Koran kennt damit auch keine ἀπορία (S. 167). Denn Zweifel (σκέψις) und Aus-Weglosigkeit (ἀπορία) sind Grundmuster griechischen Denkens. Dieses sah sich immer wieder bei der Lösung eines Problems vor Ergebnisse gestellt, deren Gegensätzlichkeiten (Antinomien) sich nicht auflösen ließen. Aber die Aporie ermöglichte immerhin, nach dem Anfang bzw. dem steuernden Prinzip (ἀρχή) zu fragen.
Und dennoch gibt es Verbindungslinien zum griechischen Denken, und zwar über die islamische Methodenlehre des Idjtihad, was etwa „Anstrengung“ bzw. „Fleiß“ bedeutet (S. 168). Idjtihad bestimmt die Koranauslegungen ganz wesentlich, auch wenn es theologische Versuche gab, das „Tor der Auslegung“ zu schließen. Diese Methodologie erlaubt nämlich, die Vermengungen griechischer und koranischer Fragestellungen aufzudecken und kann darum den islamischen Wissenschaften gerade in der Gegenwart neue Impulse geben.
Hier scheint mir genau der Punkt zu liegen, der im Mittelalter dazu führte, dass und auf welche Weise Averroes, Avicenna, al-Farabi, al-Ghazali, as-Suhrwardi und al-Shirazi die aristotelische Philosophie in einen anderen Denkhorizont transferiert haben, auch wenn man diesen Transfer nicht mehr als genuin koranisch bezeichnen kann.
Falaturi hebt in seinem Nachwort darum die erheblichen Reibungsflächen islamischer und griechischer Philosophie hervor. Er konstatiert jedoch nachdenklich, dass eigentlich nur Avicenna, diese Diskrepanz bemerkt habe (S. 187).
Bilanz
Falaturi ist es gelungen, die Eigenständigkeit islamischer, auf dem Koran basierender Philosophie hervorzuheben. Das könnte vermutlich auch zu Revisionen im Verständnis christlicher Denkkonzepte des Mittelalters führen, wenn man sie an islamischen Zeitvorstellungen spiegelt. Das gilt übrigens nicht nur für Averroes und den Averroismus. Darüber hinaus wird zugleich deutlich, dass griechische und islamische Philosophie wie zwei Pfeiler gleichsam an gegenüber liegenden Flussufern stehen. Auf diesen Pfeilern lässt sich durchaus die geistige Brücke zwischen Orient und Okzident verstärken.
So ist es ausgesprochen schade, dass uns Abdoldjavad Falaturi für diesen wichtigen weiterführenden Diskurs im Sinne christlich-islamischer Geistesbegegnung nicht mehr zur Verfügung steht ...

Die Herausgeber
English summary:
In this important contribution Abdoldhavad Falaturi (1926-1996), internationally well-known Islamic scientist, succeeds in rethinking Greek-Islamic intellectual history. By his interpretation of special Greec and Arabic philosophical terms he can demonstrate that the so-called Islamic philosophy is not, as often insinuated, an imitation of Greek philosophy, but  an originally Islamized form of Greek thought - founded in the hermeneutics of the Qur'an. This transfer can also be a bridge for dealing with the different concepts of the East and the West, especially in the context of time and reality. 
It is a challenge for some possible revisions in considering the coherences of Islamic and Christian philosophy in the Middle Ages. 
This does not touch only Averroes and the Averreroism but also other patterns of thought in the frame of re-interpretations of Greek philosophy.
Falaturi's research is therefore also important for the contemporary encounters
of Christian and Islamic epistemological conceptions.

Reinhard Kirste

Rz-Falaturi-Philosophie, 30.04.18 


Dienstag, 15. Januar 2019

S.R. Goldstein-Sabbah / H.L. Murre-van den Berg --- Juden und Christen als Minderheiten im Mittleren Osten

Sasha R. Goldstein-Sabbah / 
Heelen L. Murre-van den Berg 
(eds.):
Modernity, Minority,

and the Public Sphere:
Jews and Christians
in the Middle East

Leiden Studies in Islam and Society, Band 04
Leiden (NL): Brill 2016, 318 S., illustr.

  • --- ISBN 978-90-04-32328-5 ---

Modernity, Minority, and the Public Sphere: Jews and Christians in the Middle East explores the many facets associated with the questions of modernity and minority in the context of religious communities in the Middle East by focusing on inter-communal dialogues and identity construction among the Jewish and Christian communities of the Middle East and paying special attention to the concept of space.This volume draws examples of these issues from experiences in the public sphere such as education, public performance, and political engagement discussing how religious communities were perceived and how they perceived themselves. Based on the conference proceedings from the 2013 conference at Leiden University entitled Common Ground? Changing Interpretations of Public Space in the Middle East among Jews, Christians and Muslims in the 19th and 20th Century this volume presents a variety of cases of minority engagement in Middle Eastern society. 

S.R. Goldstein-Sabbah is a Ph.D. candidate at Leiden University in the Netherlands. She is a member of the Arabic and its Alternatives: Religious Minorities in the Formative Years of the Modern Middle East (1920-1950) research project funded by the Netherlands Research Council (NWO). Her research interests focus on the history of Jews in the Arab World. Prior to her doctoral research she worked in academic publishing. 
Since June 2015, H.L. Murre-van den Berg (Ph.D. Leiden University, 1995) serves as the director of the Institute of Eastern Christian Studies at Radboud University, Nijmegen. Earlier, she taught history of World Christianity at Leiden University. She has published extensively on Christianity in the Middle East, especially on the Syriac/Assyrian traditions and the interactions between Western and Middle Eastern Christians in the period from 1500 onwards. The current volume results from a research project funded for by the Netherlands Research Council (NWO): Arabic and its Alternatives: Religious Minorities in the Formative Years of the Modern Middle East (1920-1950)

With contributions by:
T. Baarda, A. Boum, S.R. Goldstein-Sabbah, A. Massot, H. Müller-Sommerfeld,
H.L. Murre-van den Berg, L. Robson, K.Sanchez Summerer, A. Schlaepfer,
D. Schroeter and Y. Wallach 


INHALTSVERZEICHNIS / CONTENTS