Mittwoch, 1. Januar 2020

Sigrid Rettenbacher: Dialogisches Kirchenverständnis in Beziehung zu postkolonialer Religionstheologie


Sigrid Rettenbacher:
Außerhalb der Ekklesiologie keine Religionstheologie.
Eine postkoloniale Theologie der Religionen


Beiträge zu einer Theologie der Religionen (BThR), Band 15. Zürich: TVZ 2019, 543 S.
Zugleich Diss. Universität Salzburg
--- ISBN 978-3-290-18208-3 ---

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Zusammenfassung am Schluss der Rezension

Die Theologin und Anglistin Sigrid Rettenbacher (Universität Salzburg) beabsichtigt mit ihrer Dissertation herauszustellen, dass eine gegenwärtige postkoloniale Theologie der Religionen aus christlicher Perspektive die Ekklesiologie als Lehre von der Gestalt und Bedeutung der Kirche in besonderer Weise berücksichtigen muss. Die Autorin sieht ihre Arbeit in der Konsequenz des 2. Vatikanischen Konzils. Es geht um eine postkoloniale Theologie der Religionen, und zwar so, dass „gerade die Ekklesiologie der Ort [ist], an
dem … theologisch selbstreflexive und postkoloniale Einsichten“
(S. 10) die Möglichkeit bieten, die eigene christliche Identität (hier in der katholischen Variation) zu überprüfen und kreativ weiter zu bedenken
Erkenntnisleitend ist dabei: Die Geschichte der eigenen Religion bzw. Konfession ist unmittelbar mit anderen religiösen Traditionen verbunden, und zwar so, „dass sich das religiös Andere und Fremde immer schon in die eigene religiöse Identität eingeschrieben hat – ob explizit bewusst gemacht oder verschwiegen verdrängt“ (S. 11). Daraus folgt, dass die Ekklesiologie als konstruktiver Ort der Religionstheologie in ihren Korrelationen intensiv zu bedenken ist

Im Kapitel 1  nimmt die Autorin zuerst eine religionstheologische Situationsanalyse im Horizont der gegenwärtigen Debatte zu diesem Thema vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass wirklich adäquate Konzepte noch fehlen. Auch die religionspluralistische Theologie kann ihrer Meinung nach nicht überzeugen. Die christologische Frage bleibt im Zentrum, lässt sich aber nicht ohne eine ekklesiologische Fundierung beantworten (S. 55). 

Bezugnehmend auf das Vaticanum II bemerkt die Autorin in Kapitel 2: „Writing Religion: Der Religionsbegriff in postkolonialer Perspektive“, dass der Begriff „postkolonial“ eine erhebliche Unschärfe enthält. Darum wirft sie einen dekonstruierenden Blick „von den Rändern“ her auf die „Master narratives“, um gerade in der nach-kolonialen Epoche alternative Formen der Geschichtsschreibung und -interpretation aufzubauen (S. 73). Dazu bedarf es einer postkolonialen Hermeneutik, die „die Identitätskonstruktionen und Ereignisse der Kolonialzeit“ aufnimmt, aber „scheinbar Vorgegebenes und Selbstverständliches dekonstruiert“ (S. 85). Insgesamt hat man es nämlich durch die Jahrhunderte hindurch mit sich verändernden Identitätskonstruktionen zu tun: Das gilt für das christlich-jüdische Spannungsverhältnis der Spätantike und ebenso für die muslimische Gemeindeentwicklung (der umma) und den Interpretationsprozessen des Korans im Horizont spätantiker rabbinischer und christlicher Traditionen. Wie schwierig dieses Feld auch in der Gegenwart zu bearbeiten ist, macht die Autorin an dem herausragenden Koran-Forschungsprojekt der Arabistin Angelika Neuwirth deutlich. Dort wird der Koran als Offenbarungstext ernst genommen, jedoch zugleich in seiner Kontextualität herausgearbeitet. Damit findet jedoch keine eurozentrische Vereinnahmung statt, denn Angelika Neuwirth arbeitet wechselseitige Identitätszuschreibungen auf. Ihre Forschungen lassen sich darum zugleich in einem postkolonialen Rahmen sehen (S. 176, vgl. Corpus Coranicum - https://corpuscoranicum.de/). 

Ebenso muss nun auch die westliche Konstruktion des Hinduismus untersucht werden (S. 179ff). Hier treffen koloniale Begegnungen und Deutungsmuster, aber auch extreme Machtansprüche auf religiöse Identitätsvorstellungen des indischen Raumes. “Kolonialgeschichte ist … unhintergehbar mit Missionsgeschichte verwoben“ (S.179). Inzwischen hinterfragen mehr und mehr europäische Forscher diese problematischen westlichen Hinduismuskonzepte. Besonders auffällig zeigt sich seit der Aufklärung eine gängige „Projektion europäischer Debatten auf Indien“. Erstaunlich ist dabei, dass die konfessionellen Asienmissionen in der Zeit der Aufklärung einen erheblichen Aufschwung nahmen. „Auch wenn der Aufklärungsdiskurs und innerchristliche Machtstreitigkeiten auf den ersten Blick konträr sind … so zeigen sich auf formaler Ebene doch Ähnlichkeiten … wobei insbesondere die Mystifizierung Indiens eine entscheidende Rolle spielte“ (S. 197). Die schriftliche Fixierung der oralen und schriftlichen hinduistischen Überlieferungen durch westliche Missionare hat insgesamt „zu einer verzerrten Wahrnehmung der religiösen Traditionen Indiens geführt“ (S. 207). Darin offenbart sich der Zusammenhang von Schrift und Macht; und so bleiben die kolonialen Stereotypen selbst bei Radakrishnan, Vivekananda und Mahatma Gandhi erkennbar. 
Eine andere Sichtweise könnte die an der Befreiung orientierte Dalit-Theologie bilden (S. 221ff), denn hier wird die Frage virulent, ob das eigene Narrativ im Kontext der Religionen die Unterdrückten stärkt und ihnen die Kraft zur Veränderung gibt. Darauf muss eine postkoloniale Hermeneutik, die andere Religionen verstehen will sachgemäß Antwort geben können (S. 228). Das bedeutet auch, dass die Religionstheologie sich ihrer umfassenden Verantwortung nicht entledigen kann und darf. Der ausführliche Abschnitt Der eurozentrische Blick und seine Auswirkungen auf gegenwärtige Konstruktionen des Islams“ im Verlauf des Kapitels 2 (S. 229–299) könnte fast wie eine Exemplifizierung einer möglichen christlichen Religionstheologie im Horizont des Islams verstanden werden. Der Autorin geht es zuerst um die Probleme der Ambiguitätstoleranz unter Übernahme der Thesen von Thomas Bauer (besonders: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011). So betont sie, dass der Islam lange Zeit widersprüchliche Handlungs- und Interpretationsweisen – gerade im Blick auf den Koran und seine Hermeneutiken – ertrug und damit seine Identität interkulturell zum Ausdruck bringen konnte. Dagegen sah sich die westliche Moderne gerade durch ihre Absolutheitstendenzen ausgesprochen ambiguitätsfeindlich. Unter solchen Voraussetzungen ist es aber nicht möglich, interkulturelle Kompetenz zu erlangen. Die Auseinandersetzung des Islams mit dem Westen bringt einseitig westlich ausgerichtete Modelle („Reform-Islam“) hervor, aber andererseits gilt: „Auch die fundamentalistische islamische Reaktion auf die westliche Moderne sieht die traditionelle (= ambiguitätstolerante) Position >als Ergebnis einer tausendjährigen Zeit des Niedergangs und der Abwendung von den Idealen der Urgemeinde, die durch die Demütigung des Islams durch den Westen allen offenbar geworden ist und nun durch eine Rückbesinnung auf die Ideale der Frühzeit überwunden werden muss<“ (S. 239, mit Zitat Thomas Bauer).

Dagegen waren in der klassischen Zeit des Islams die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten des Korans sehr geschätzt. Einseitige exklusive Theologisierungen von christlicher wie islamischer Seite helfen nicht weiter, weil damit unhinterfragbare Offenbarungs- und Wahrheitsansprüche festgeschrieben werden. Die geradezu vertrackte gegenseitige Beeinflussung, nämlich – wie der Islam sich selbst versteht oder aus westlicher Sicht zu sehen ist, „liefert ein Zerrbild des Islams und seiner Kulturen als einer restlos von Religion durchdrungenen Gesellschaft“ (S. 298). Das kann aber nicht der Ausgangspunkt für eine postkolonial sensibilisierte Regionstheologie sein (S. 299). Von daher muss auch die Entwicklung des durchweg ambivalenten Religionsbegriffs aus postkolonialer Sicht kritisiert werden. Das Verständnis von Religion in den verschiedenen Geschichtsepochen und auch unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen muss sich darum mit den  macht- und identitätspolitischen Problemen auseinander setzen (S. 299–324).
„Angesichts dieser Ambivalenzen des Religionskonzeptes ist der Begriff >Religion< tatsächlich unter eine Hermeneutik des Verdachts zu stellen“ (S. 323). Daraus folgt für eine gegenwärtige Religionstheologie, die Implikationen der postkolonialen Theorien genau zu prüfen (S. 324–331). Immerhin birgt die christliche Tradition selbst Potenziale in sich, sich mit anderen Traditionen auseinander zu setzen, und zwar so, dass dominante Verstehenskonzepte zugunsten einer gegenseitigen Bedingtheit geändert werden und auf diese Weise sich die eigene christliche Identität interreligiös offen konturieren kann.

Auf den entscheidenden Punkt kommt Rettenbacher nun im Kapitel 3 zu sprechen, nämlich die Korrelationen von Ekklesiologie und Theologie der Religionen.
Da es um Bewusstmachungsprozesse geht, die die eigene christliche Identität betreffen, „braucht es in der Religionstheologie einen Ort, von dem aus diese Identitätsfragen angemessen und in vollem Problembewusstsein für postkoloniale Einsichten zu diskursiven Identitätspolitiken gestellt werden können“ 
(S. 333). Dieser Ort ist die Ekklesiologie, denn wie soll im Sinne von Identitätsvergewisserung eine Religionstheologie ohne die sie tragende Gemeinschaft betrieben werden? Angesichts der heutigen (globalen) Pluralität stehen nämlich Wahrheitsansprüche verstärkt zur Disposition. Das 2. Vatikanische Konzil hat hier entscheidende Weichen gestellt. Da die Kirche im Zusammenhang der Kolonialgeschichte jedoch auch von Fehlern, Schuld und Versagen geprägt ist, muss dies im Konzept einer Religionstheologie unbedingt mit einbezogen werden. Unter Ablehnung der Rückwärtsbewegungen der Glaubenskongregation unter dem damaligen Kardinal Ratzinger („Dominus Iesus“, 2000) sieht die Verfasserin auch die Sorge, dass die Ekklesiologie zu sehr relativiert werden könnte, und zwar gerade in religionspluralistischen Positionen, die teilweise ekklesiologische Überlegungen gar nicht mehr einbeziehen. Insgesamt ist jedoch das Verhältnis von postkolonialer Theologie zur Ekklesiologie schwierig. Das Dokument der päpstlichen internationalen Theologenkommission Das Christentum und die Religionen (1997) spiegelt diese Ambivalenz prompt wieder. Die Verdeutlichung christlicher Identität möchte die Autorin nun nicht nur konfessorisch, sondern auch konfessionell sichern. Sie steht darum weiteren pluralen Öffnungstendenzen über das Vaticanum II hinaus reserviert gegenüber. 

So hat sie eigentlich nur die Möglichkeit, postkoloniale religionstheologische Lösungsanzeigen durch eine Hermeneutik der Differenz zu begründen (Kapitel 4)Nach Überprüfung einer Reihe von erkenntnistheoretischen und für die eigene religiöse Identität relevanten Aspekten zeigt sich, dass es höchst problematisch war und auch weiterhin wäre, die eigene (römisch-katholische) Kirche angesichts der konfessionellen Brüche und pluralen Entwicklungen weiterhin als die allein wahre darzustellen. Und was für die Konfessionen mit ihren teilweise absoluten Wahrheitsansprüchen gilt, zeigt sich natürlich ebenso bei der Begegnung mit anderen Religionen. Daraus folgt, dass Identität stärkendes Verstehen im Horizont der eigenen Kirche nicht ohne die Herausarbeitung von Differenzen geschehen kann, aber es gilt ebenso: „Außerhalb der Ekklesiologie gibt es keine Religionstheologie“ (S. 396). Dabei kommt man jedoch an Relativierungen nicht vorbei. Der geeignete hermeneutische Weg ist darum eine Selbstrelativierung, wie das Vaticanum II dies initiierte (S. 403) und der ins Visier der Glaubenskongregation genommene Religionstheologe Jacques Dupuis mehrfach zum Ausdruck gebracht hat. Denn jede Offenbarung als Sprachgeschehen ist von Relativität gekennzeichnet. Die Christologie in den Ausdruckformen von Christus als Gott und Mensch macht dies bereits innertheologisch deutlich, weil die Differenz zwischen Christus und der Kirche wesensmäßig ist. Von daher ist eine kirchliche Deutungshoheit von Wahrheit und Heil letztlich unmöglich. Vielmehr ist „eine Offenheit für plurale religiöse Differenzerfahrungen und ein Lernen von anderen religiösen Traditionen“ mit eingeschlossen (S. 435). Angesichts der ebenfalls grundlegenden Differenz zwischen Kirche und Reich Gottes, also zwischen Ekklesiologie und Eschatologie, muss gerade wegen der Ursprünge des Christentums das Judesein Jesus in den Fokus kommen, der auch als Prophet im Islam heilgeschichtliche Bedeutung hat. Religionstheologisch bedeutet dies alles, dass sich religiöse Identitäten aus vielen unterschiedlichen Faktoren zusammensetzen. Insofern gibt es kein Judentum, Christentum, Islam und Hinduismus als generell fixierte Größe. „Religiöse Identitäten sind immer intern plural und nie unumstritten. Sie sind das Produkt von machtförmigen und hegemonialen Ausverhandlungen“ (S. 503). 
Dennoch möchte die Autorin nicht Differenzen und Pluralitäten minimieren, sondern die Verstehensmöglichkeiten im Horizont von Differenzen offenhalten. Gerade postkoloniale Einsichten machen die Ekklesiologie zu einem Ort „an dem …. die christlichen Identitäten verhandelt und diskursiv konstruiert und entfaltet werden“ (S. 509).

Zusammenfassung:Dialogisches Kirchenverständnis und Glaubwürdigkeit postkolonialer ReligionstheologienDie katholische Theologin Sigrid Rettenbacher (Universität Salzburg) macht mit ihrer Arbeit deutlich, dass erkenntnistheoretische und ekklesiologische Perspektiven Teil einer postkolonialen Religionstheologe sein müssen. Denn in solchen Diskursen sind christliche Identitätsmuster daraufhin zu überprüfen, wie sie Absolutheitsansprüche hermeneutisch und machtpolitisch durchsetzen. Darum müssen exklusive Deutungen dekonstruiert, aber auch pluralistisch-christologische Relativierungstendenzen (im Sinne einer Nivellierung im Verhältnis von Gott  und Mensch) problematisiert werden. Eine christliche postkoloniale Religionstheologie muss im Rahmen einer die Kontexte und Differenzen bearbeitenden Hermeneutik die zentralen Fragen nach Wahrheit und Heil dialogisch und zugleich ekklesiologisch bezogen angehen. Dies hat erhebliche Folgen für das jeweilige Identitätsverständnis im Rahmen der eigenen religiösen Tradition. Katholischerseits hat das 2. Vatikanische Konzil hier entscheidende Impulse für einen interreligiösen Dialog im Horizont des Anderen in seinem Anderssein geliefert. Allerdings erhebt sich die Frage, ob dafür doch eine weiter gehende ekklesiologische Neubestimmung nötig ist, und zwar im Sinne eigener Identitätserweiterung durch den Dialog der Religionen.

Weitere Anregungen:
--- Kirche, Mission, Postkolonialismus –
     Einblicke in eine vielfältige Literatur       
   
     https://buchvorstellungen.blogspot.com/2018/09/kirche-mission-und-postkolonialismus.html 
--- Britta Konz / Bernhard Ortmann / Christian Wetz (Hg.):
     
Postkolonialismus, Theologie und die Konstruktion des Anderen. 
     
Postcolonialism, Theology and the Construction of the Other.        
     Erkundungen in einem Grenzgebiet / Exploring Borderlands 
     
     Studies in Theology and Religion, Band 26.
Leiden: Brill 2020
     Verlagsinformation und Inhaltsverzeichnis >>>
--- Andreas Nehring u.a.: Postkoloniale Theologien I und II.
     Stuttgart: Kohlhammer 2013 und 2018 
 
     
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2018/09/buch-des-monats-oktober-2018.html
--- Juan José Tamayo: Teologías del Sur. El giro descolonizador.
     Madrid: Trotta 2017, 252 S.
 
    
 
[Theologien des Südens. Die Abkehr vom Kolonialismus]
     
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2018/02/buch-des-monats-marz-2018-theologien.html
--- Thomas Schreijäck / Knut Wenzel (Hg.): Kontextualität und Universalität.
     Die Vielfalt der Glaubenskontexte und der 
Universalitätsanspruch des Evangeliums.
     25 Jahre „Theologie interkulturell“.

     
Stuttgart: Kohlhammer 2012, 175 S.   
      
https://buchvorstellungen.blogspot.com/2012/04/interkulturelle-theologie-im-horizont.html

 

Reinhard Kirste  --- Rz-Rettenbacher-Religionstheologie, 01.01.20 
Lizenz: CC


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